Hochbegabungsdiagnostik. Identifikation von hochbegabten Underachievern

Messmethoden und Informationsquellen


Diplomarbeit, 2006

94 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Definitionen
2.1 Begabung
2.2 Hochbegabung
2.2.1 Probleme
2.2.2 Definitionsvorschläge und Klassifizierung nach LUCITO
2.2.3 Definitionen von Hochbegabung und Underachievement
2.3 Underachievement
2.3.1 Definitionen und Merkmale
2.3.2 Konkrete Messgrößen-Vorschläge für Underachievment
2.3.3 Identifikation von Underachievern

3 Modelle der Hochbegabung
3.1 Das Drei-Ringe-Modell der Hochbegabung nach RENZULLI
3.1.1 RENZULLIs Modell und Underachievement
3.2 Modell der triadischen Interdependenz nach MÖNKS
3.2.1 MÖNKS´ Modell und die Erfassung von Underachievern
3.3. Das Komponentenmodell der Talententwicklung von WIECZERKOWSKI & WAGNER
3.3.1 WIECZERKOWSKI & WAGNERs Modell und Underachievement
3.4 Das mehrdimensionale Begabungskonzept von URBAN
3.4.1. Berücksichtigung von Underachievement im mehrdimensionalen Begabungskonzept
3.5 Das differenzierte Begabungs- und Talentmodell von GAGNÉ
3.5.1 GAGNÉs Konzeption und die Erfassung von Underachievern
3.6 Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell
3.6.1 Das Münchner (Hoch-)Begabungsmodell und Underachievement

4 Identifikation bzw. Diagnostik von Hochbegabung
4.1 Aufgaben und Notwendigkeit der Hochbegabungsdiagnostik
4.2 Diagnostische Probleme
4.2.1 Fehlertypen und Entscheidungsmodelle bei der Diagnose von Hochbegabung
4.2.2 Das Bandbreite-Fidelitäts-Dilemma
4.2.3 Die Bedeutung der Fehlertypen und Entscheidungsmodelle für die Identifikation von Underachievern
4.2.4 Selektionsgütemaße bei der Diagnose von Hochbegabung
4.3 Informationsquellen und Meßmethoden
4.3.1 Subjektive Verfahren der Hochbegabungsdiagnostik
4.3.2 Sind subjektive Verfahren zweckmäßige Diagnosemittel?
4.3.3 Objektive Verfahren der Hochbegabungsdiagnostik
4.3.4 Sind objektive Verfahren zweckmäßige Diagnosemittel?
4.4 Studien zur Identifikation Hochbegabter
4.4.1 Münchner Längsschnittstudie zur Hochbegabung
4.4.2 Das Marburger Hochbegabtenprojekt

5 Zusammenfassung und Ausblick

6 Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Normalverteilung des Intelligenzquotienten mit Prozenträngen URL: http://www.dghk-hh.de/hochbeg.shtml [Stand 23.04.06]

Abbildung 2: Drei-Ringe-Konzept der Hochbegabung nach RENZULLI URL: http://www.misd.net/gifted/renzullimodel.htm [Stand 23.04.06]

Abbildung 3: Triadisches Interdependenzmodell der Hochbegabung nach MÖNKS URL: http://www.fb3.uni-osnabrueck.de/lehrende/solzbacher/lehre_sprechstd_/ab-verh-bericht/hochbegabung.html [Stand 23.04.06]

Abbildung 4: Komponentenmodell der Talententwicklung von WIECZERKOWSKI & WAGNER In: HOLLING & KANNING (1999: 10)

Abbildung 5: Mehrdimensionales Begabun rg/body/_glossar.php?Teil=Mehrdimensionales+Begabungskonzept&GID=21 [Stand: 23.04.06]

Abbildung 6: Differenziertes Begabungs- und Talentmodell von GAGNÉ In: HOLLING & KANNING (1999: 15)

Abbildung 7: Münchner Hochbegabungsmodell In: HELLER (2001: 24)

Abbildung 8: Beispiel für ein Single-Cutoff: Targeted Criterion In: STERNBERG & SUBOTNIK (2000: 832)

Abbildung 9: Beispiel für ein Single-Cutoff: Flexible Criterion (Quelle: Sternberg/Subotnik, 2000: 832) In: STERNBERG & SUBOTNIK (2000: 833)

Abbildung 10: Monets `Hunting Trophies´ URL: http://www.kunstkopie.de/cgi-bin/kuko [Stand 08.04.06]

Abbildung 11: Kalk brennen URL: http://www.chemikus.de/sites/kalkbrennen.htm [Stand 08.04.06]

Abbildung 12: Strategiemodell zur Identifikation Hochbegabter In: HANY (2001: 43)

Abbildung 13: Modell zur Analyse des Begabungs-Leistungs-Zusammenhangs In: HANY (2001: 50)

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1:General Reasons for Underachievment (with Examples) In: MANDEL & MARCUS (1988: 6)

Tabelle 2: Verteilung von IQ-Werten bei zwei Testanwendungen In: CROPLEY et al. (1988: 39)

Tabelle 3: Vier-Felder-Tafel zum Selektionsproblem In: WILD (1991: 29)

Tabelle 4: Übersicht über Diagnoseverfahren In: FEGER & PRADO (1998: 46)

Tabelle 5: Multimodale Operationalisierung In: HANY (2001: 49)

Tabelle 6: Konfigurationen intellektuell hochbegabter Grundschüler aus der Sicht der Lehrkräfte und aufgrund ihrer Testdaten In: WILD (1991: 103)

1 Einleitung

In einer aktuellen Broschüre des Bundesministeriums für Bildung und Forschung wird die Wichtigkeit der Entdeckung und Förderung von individuellen Stärken hervorgehoben. Dabei wird als ein bildungspolitisches Ziel die Förderung von Begabungen genannt. Doch vor einer Förderung steht zunächst einmal die Identifikation von Individuen mit besonderen Begabungen. Nicht immer sind hochbegabte Personen auf den ersten Blick erkennbar. Es kann vorkommen, dass sich ihre Begabungen unter bestimmten Umständen nur schwer in Leistung umsetzen lassen. So eine Person nennt man dann einen hochbegabten Underachiever oder Minderleistenden. Doch auch diese gilt es zu identifizieren, um ihnen die bestmögliche Förderung zukommen zu lassen. Mit der hier vorliegenden Arbeit möchte ich Möglichkeiten der Identifikation Hochbegabter darstellen und dabei der Frage nachgehen, ob die verschiedenen Messmethoden und Informationsquellen für die Identifikation hochbegabter Underachiever geeignet sind. Dabei greife ich auf einen großen Fundus an Literatur zur Hochbegabung zurück, der teils aus dem amerikanischen, teils aus dem deutschen Forschungsraum stammt. Die Arbeit ist wie folgt gegliedert.

Zunächst werden die Begriffe Begabung, Hochbegabung und Underachievement definiert, um ein Gefühl für die Schwierigkeiten der Messung dieser Größen zu vermitteln. Danach gehe ich auf die gängigen Modelle der Hochbegabung ein und reflektiere diese hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile. Dabei werde ich zu jedem Modell ausführen, ob in diesem Underachiever überhaupt erfasst werden oder nicht und ob dadurch das Modell noch zur Darstellung von Hochbegabung geeignet ist. Im nächsten großen Abschnitt gehe ich dann auf die Identifikation von Hochbegabten ein. Zunächst soll dabei die Notwendigkeit der Hochbegabungsdiagnostik dargestellt und speziell die Bedürfnisse der Underachiever berücksichtigt werden. Eingangs stelle ich hier auch die verschiedenen diagnostischen Probleme dar, z.B. die Fehlertypen oder die Festlegung auf ein bestimmtes Entscheidungsmodell. Auch die Bedeutung dieser Entscheidungen und Fehler für die Identifikation von hochbegabten Underachievern wird zu Ende dieses Abschnittes herausgearbeitet.

Danach geht es um konkrete Verfahren der Hochbegabungsdiagnostik. Zunächst wird hier in subjektive und objektive Verfahren unterschieden. Im Bereich der subjektiven Verfahren beschäftige ich mich mit der Identifikation von Hochbegabten durch Zensuren, Lehrkräfte, Eltern, Peers und die Schüler selbst. Dabei wird zu jedem dieser Bereiche diskutiert, ob man damit hochbegabte Underachiever identifizieren kann. Die objektiven Verfahren unterteilen sich in dieser Arbeit in Intelligenztests, Kreativitätstest und Wettbewerbe. Auch diese drei Verfahren werden wieder hinsichtlich ihrer Qualität zur Erfassung Minderleistender betrachtet. Um den theoretischen Ausführungen der diversen Verfahren einen praktischen Bezug zu verleihen, sind am Ende noch zwei Studien zur Hochbegabung und deren Ergebnisse hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der verschiedenen Verfahren dargestellt. Dabei soll anhand der Praxis die Tauglichkeit der verschiedenen Methoden und Quellen zur Identifikation Hochbegabter noch einmal herausgestellt werden.

Zum Schluss werde ich in der Zusammenfassung und in einem Ausblick die Ergebnisse dieser Diplomarbeit festhalten und den Versuch unternehmen, eine Kernaussage aus den Ergebnissen zu formulieren. Zur weiterführenden Beschäftigung mit diesem Thema soll dann noch ein Ausblick auf mögliche Vertiefungen und weitergehende Überlegungen gegeben werden.

2 Definitionen

2.1 Begabung

Um den Begriff der Begabung zu definieren, muss man in der Geschichte der Hochbegabtenforschung zurück blicken. Der Begriff der Begabung hat seinen Ursprung in der Bezeichnung `Genie´, wie FREUND-BRAIER (2001: 20) und URBAN (1981: 15) bemerken. Bei diesem Begriff stand vor allem eine, z.B. auf künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiet, bedeutende Leistung eines Individuums mit richtungsweisenden Inhalten im Mittelpunkt. Die erste statistische Beschäftigung mit dem `Genie´ erfolgte durch GALTON, der unter `Genie´ eine sehr extreme Ausprägung in der Verteilung von Merkmalskombinationen, darunter z.B. Intellekt und Eifer, verstand (15). Nach FEGER (1988: 55) wird der Begriff `begabt´ seit der Jahrhundertwende als Oberbegriff für `hochbegabt´ genutzt. `Begabt´ wurde dabei oft als Synonym für `hochbegabt´ herangezogen, wobei laut FEGER (55) der Begriff `begabt´ häufiger in der Literatur zu finden ist. Auch im englischen Sprachraum tritt die Bezeichnung `Begabung´ auf. So verwendet man dort nach FEGER (55) für `Begabung´ `giftedness´ und für `begabt´ `gifted´. STERN (1967: 5) unterscheidet noch zwischen Allgemeinbegabung, wozu er die `Intelligenz´ zählt und Spezialbegabung, worunter er `Talent´ versteht. Der Begriff `Talent´ beschreibt in diesem Fall den Bereich der Sonderbegabungen, wie z.B. musikalische Begabung. Nach STAPF wird der Begriff `Begabung´ in der Psychologie außerhalb der Begabungsforschung so nicht mehr verwendet, da damit oftmals die Annahme einer Anlage von `Begabung´ einhergeht (2003: 18). HELLER (2001: 24) sieht Begabung als einen hypothetischen Konstruktbegriff, ähnlich der Intelligenz. Die genaue Definition ist dabei abhängig von der theoretischen Bezugsbasis, die man zugrunde legt. Dies bestätigt GEUß, wenn er sagt, dass der Begriff der Hochbegabung nicht unwesentlich davon abhängt, wie Begabung oder Intelligenz definiert wird (1981: 52). Der oftmals synonyme Gebrauch von `Begabung´ und Intelligenz macht eine Abgrenzung der beiden Begriffe schwierig, jedoch ist eine begriffliche Klarheit anzustreben (STAPF, 2003: 18). Nach ROTH (1974: 22) ist unter Begabung Lernfähigkeit und Lernleistung zu verstehen. Begabungsentwicklung definiert er als eine Interaktion (person-) interner Anlagefaktoren und externer Sozialisationsfaktoren. Die Merkmalskonfiguration, also der Prozess der individuellen Fähigkeits- und Interessenentwicklung, kann nach HELLER (2001: 23) als eine Wechselwirkung aus Lernbedingungen des Individuums und der Umwelt verstanden werden. Er stellt heraus, dass in der Psychologie der Begriff der `Begabung´ zur Beschreibung und zur Erklärung dient (23). Der Bereich der Beschreibung wird dabei von psychometrischen Untersuchungen zur Erfassung quantitativer Fähigkeitsdifferenzen bestimmt. Zur Erklärung werden vor allem qualitative Komponenten des Denkens erfasst. Laut HELLER wird die praktische Bedeutung des Begabungsbegriffes als „Disposition bzw. Merkmalsprofil einer Person für bestimmte Lern- und Leistungsanforderungen (z.B. in der Schul-, Studien- oder Berufsberatung) aufgefasst“ (23).

Man sieht also, dass es kein einheitliches Verständnis von Begabung gibt. In dieser Uneinheitlichkeit und Unschärfe sieht ROST auch den Grund für den uneinheitlichen Gebrauch des Begriffs `Hochbegabung´ (2000: 14). Jedoch führt er weiter aus, dass dies nicht Grund zur Sorge sein sollte, da man sich innerhalb der Differentiellen Psychologie auf ein überschaubares Begriffsverständnis von `Hochbegabung´ verständigt habe (14). Zusammenfassend kann man sagen, dass alle Auffassungen von `Begabung´ eine starke Abhängigkeit von den dahinter stehenden Vorstellungen der Zusammensetzung von Begabung entwickeln. So postuliert ROST, als Vertreter der Marburger Hochbegabungsforscher, eine hohe Relevanz der allgemeinen Intelligenz `g´ nach SPEARMAN (15) und HELLER, als ein Vertreter der Münchner Hochbegabungsforscher, die Betrachtung von mehreren Begabungsfaktoren, wie z.B. intellektuelle Fähigkeiten, kreative Fähigkeiten oder soziale Kompetenz (2001: 24). Dem schließt sich STAPF insoweit an, als sie auch von Fähigkeits- bzw. Begabungsbereichen spricht, z.B. intellektueller Fähigkeit oder sozialer Fähigkeit (2003: 18), die meiner Meinung nach denen des Münchner Hochbegabungsmodells ähneln und laut STAPF (2003: 18) den derzeitigen Forschungsstand widerspiegeln. Auffallend hierbei ist die häufige Nutzung des Konstruktes Intelligenz als eines Teils der verschiedenen Definitionen von `Begabung´. Die oben angesprochene synonyme Verwendung der Begriffe `Begabung´ und `Hochbegabung´ macht eine Abgrenzung beider Termini voneinander nicht einfacher. Die große Anzahl an Definitionen von `Hochbegabung´ unterstreicht diese Schwierigkeit. Dennoch sollen nun einige Zugangsweisen, Probleme der Definitionsfindung und Definitionsvorschläge vorgestellt werden.

2.2 Hochbegabung

2.2.1 Probleme

Wenn man versucht, Hochbegabung zu definieren, stößt man auf Probleme. Wie oben schon angesprochen, ist die Definition von Hochbegabung davon abhängig, welche theoretische Bezugsbasis zugrunde gelegt wird. So schreibt URBAN (1981: 24), dass die Definition von Hochbegabung, Methoden zur Erfassung von Hochbegabung und Ergebnisse von Hochbegabtenforschung sehr eng zusammenhängen. Am Beispiel der umfassenden Langzeitstudie von TERMAN, welche 1921 begonnen wurde, weist URBAN nach, dass eine einseitige Determination von Hochbegabung, in diesem Falle durch Methoden der Intelligenzmessung, dazu führte, dass vorher durch Lehrerurteil nominierte Schüler durch den Alpha-Fehler entweder beim Test versagten oder Schüler durch den Beta-Fehler gar nicht erst erfasst wurden (23). Die Studie legte demnach auch nicht offen, wie die Entwicklung der Hochbegabtenpersönlichkeit und die Interaktionsdynamik von Personen und Umwelt zustande kamen (23). Kritisiert wurde auch die Auswahl der Probanden, die meist aus höheren Schichten kamen und zudem im Bezug auf Lebensstandards besser gestellten Kalifornien zu Hause waren (23). Man sieht also, dass die Verfügbarkeit von Methoden, die Auswahl der Probanden und ein willkürlich gesetzter Grenzwert, im Falle der TERMAN-Studie ein IQ von 140 im Stanford-Binet-Test bei den unter 11-jährigen, dazu beiträgt, Hochbegabung in einer ganz bestimmten Art und Weise zu definieren. So ist nach TERMAN `Superior intellectuality´ als die Fähigkeit des Kindes definiert worden, in den verwendeten Intelligenztests den oben angesprochenen hohen Punktwert zu erreichen (zitiert nach URBAN, 1981:17). Dies bedeutete laut URBAN (24), dass am Anfang die empirische Hochbegabtenforschung stand und daraus gleichzeitig eine Definition von Hochbegabung erwuchs. Dennoch ist in der Literatur eine Vielzahl von Definitionen des Begriffs Begabung zu finden, die gerade durch ihre Komplexität immer weniger operationalisiert und damit empirisch erfasst werden können.

2.2.2 Definitionsvorschläge und Klassifizierung nach LUCITO

In der Literatur existiert eine nicht erfassbare Fülle von Definitionen von Hochbegabung. So schreibt LUCITO (zitiert nach FEGER, 1988: 57), dass Studenten von W. ABRAHAM den Versuch einer Auflistung aller Hochbegabungsdefinitionen vorzunehmen hatten. Es kamen aber nur 113 Definitionen zusammen, die jedoch noch nicht erschöpfend waren. Um einen Überblick über diese Anzahl an Definitionen zu schaffen, kreierte LUCITO ein Ordnungs- und Klassifikationssystem von Definitionen zur Hochbegabung (57ff.). Als erste Klasse werden die Ex-post-facto-Definitionen genannt, welche eine Person dann als hochbegabt definieren, nachdem diese Hervorragendes geleistet hat. Dies knüpft an den oben erwähnten Begriff des `Genies´ an. Die zweite Klasse sind die IQ-Definitionen, die Hochbegabung so definieren, dass eine Person einen bestimmten Wert in einem Intelligenztest überschreitet. Die genannten Werte schwanken dabei laut LUCITO zwischen 116 und 172 im STANFORD-BINET-Test.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Normalverteilung des Intelligenzquotienten mit Prozenträngen

Die dritte Klasse bezieht Sonderbegabungen mit ein. Die oft genannte Definition von WITTY, zitiert nach FEGER (1988: 58) und URBAN (1981: 24), die in diese Klasse fällt, lautet: „Das Kind, dessen Leistung in einem möglicherweise wertvollen Bereich durchgängig bemerkenswert ist, kann als hochbegabt angesehen werden.“ Die vierte Klasse besteht aus Prozentsatzdefinitionen, welche die Personen als hochbegabt bezeichnen, die einen bestimmten Prozentrang innerhalb einer Gruppe einnehmen. Ähnlich der zweiten Klasse gibt es auch hier ein großes Spektrum an genannten Werten. Sie schwanken am oberen Rand einer angenommenen Normalverteilung zwischen 2,5% und 20%. Die Kriterien des Ranges sind dabei abhängig davon, ob man z.B. Noten, Schulleistungstests oder Intelligenztests zugrunde legt. Die fünfte Klasse stellt die Kreativität in den Vordergrund und lehnt eine reine Intelligenzdefinition ab. Die sechste Definitionsart ist in diesem Sinne keine Klassifizierung, sondern vielmehr ein Definitionsversuch LUCITOs, der hier Bezug auf GUILFORDs Modell des Intellekts nimmt. Demnach definiert LUCITO, zitiert nach FEGER (1988: 58), hochbegabte Schüler folgendermaßen:

Hochbegabt sind jene Schüler, deren potentielle intellektuelle Fähigkeiten sowohl im produktiven als auch im kritisch bewertenden Denken ein derartig hohes Niveau haben, daß [sic] begründet zu vermuten ist, daß [sic] sie diejenigen sind, die in der Zukunft Probleme lösen, Innovationen einführen und die Kultur kritisch bewerten, wenn sie adäquate Bedingungen der Erziehung erhalten.

Die oben genannte Definition von Hochbegabung bezieht sich hauptsächlich auf intellektuelle Fähigkeiten, sie ist also eher spezifisch. Es gibt aber auch bereichsunspezifische Definitionen, so z.B. die von STERNBERG, der eine Person dann als hochbegabt betrachtet, „wenn sie eine zuverlässige und gültig nachweisbare Leistung erbringt, die in Relation zu einer geeigneten Bezugsgruppe exzellent, selten, produktiv und wertvoll ist (zitiert nach HOLLING, 1999: 6). Dies ist meiner Meinung nach eine zu sehr produktlastige Definition, da danach z.B. eine intellektuell hochbegabte Person, die jedoch, aus welchen Gründen auch immer, keine Leistung erbringt, nicht als hochbegabt angesehen wird. Der Idee einer spezifischen Definition folgend, schlägt FREUND-BRAIER vor, die Hochbegabung im Zusammenhang mit der ihr zugrunde liegenden intellektuellen Begabung zu sehen. Sie grenzt Hochbegabung vom Begriff der Hochleistung ab, da ihrer Meinung nach die Auswahl durch ein Begabungs- bzw. ein Leistungskriterium zwei unterschiedliche Auswahlkriterien darstellt (2001: 21). Die mit dem jeweils angewandten Kriterium einhergehenden Probleme, wie z.B. die Nichterfassung von Underachievern oder die Übererfassung von Overachievern, werden im Kapitel `Probleme der Hochbegabungsdiagnostik´ noch ausführlicher behandelt.

Im Großen und Ganzen kristallisieren sich zwei Arten der Definitionen von Hochbegabung in der aktuellen Literatur heraus. Die eine Seite folgt der Idee von der hohen Relevanz der allgemeinen Intelligenz oder dem Generalfaktor „g“, wie ihn SPEARMAN in seiner Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz nennt. Diese `hierarchischen Modelle´ der so genannten 'Englischen Schule´ (SCHILLING, 2002: 27) finden eine große Zahl an Anhängern unter den Hochbegabungsforschern. So sehen es z.B. ROST (2000: 15f.), FREUND-BRAIER (2001: 29), STAPF (2003: 23) und SCHILLING (2002:27). Dieses Konzept wurde auch im Bereich des `Marburger Hochbegabtenprojektes´, einer Langzeitstudie zur Hochbegabung, auf die später noch eingegangen wird, von ROST zugrunde gelegt. Die andere Seite folgt GARDNERs Theorie der Multiplen Intelligenzen (1998) und entwickelt diese teilweise weiter (HELLER, 2001: 25). GARDNER sieht Intelligenz als sieben bzw. achteinhalb voneinander unabhängige Fähigkeiten, die mittels subjektiver Faktorenanalyse ausgewählt wurden. Dieser Sichtweise folgt auch die Forschergruppe um HELLER und dem `Münchner Hochbegabungsmodell´ (2001: 25).

Das Ziel dieses Abschnittes war es zunächst, einen Einblick in die verschiedenen Problemzonen der Definition von Hochbegabung zu geben, danach eine Übersicht über verschiedene Arten von Definitionen am Beispiel von LUCITO aufzuzeigen und am Ende die sich in der aktuellen Praxis herauskristallisierenden beiden Richtungen von Hochbegabungsdefinitionen darzustellen. Ob der genannten Probleme ist es sicher einleuchtend, dass man hier nicht `die´ Definition von Hochbegabung nennen kann und ich vermeiden möchte, der großen Zahl an Definitionen noch eine weitere hinzuzufügen. Abschließend bleibt m.E. festzuhalten, dass man je nach Verwendungszweck und zugrunde gelegtem Modell von Hochbegabung diese für sich definieren sollte, um eine Grundlage zur Operationalisierung derselben zu schaffen.

Es soll hier noch erwähnt werden, welche Probleme sich mit dem Begriff der Hochbegabung verbinden. Im amerikanischen Sprachraum wird hochbegabt oftmals auch mit „elitism and unearned privilege“ (ROBINSON et al., 2000: 1415) assoziiert. Die politische Korrektheit, die mit der begrifflichen Umschreibung des unteren Intelligenzbereichs einhergeht, wird im oberen Bereich nicht betrieben. Dies führt laut diesen Autoren dazu, dass der Begriff Hochbegabung zumindest in der Bevölkerung negativ belegt ist. Ich behaupte, dass dies auch für den deutschsprachigen Raum so gelten kann und dass diese Tatsache bei der Definition von Hochbegabung beachtet werden muss.

2.2.3 Definitionen von Hochbegabung und Underachievement

Da diese Arbeit sich im Schwerpunkt mit der Problematik der Diagnostik von Underachievern beschäftigt, möchte ich die o.g. Möglichkeiten der Definitionen von Hochbegabung auf diesen speziellen Bereich hin reflektieren. Die von LUCITO gruppierten Ex-post-facto-Definitionen sind teilweise zu sehr leistungsorientiert. Die Definitionen erster Klasse, die sich an hervorragenden Leistungen orientieren, die Definitionen dritter Klasse, die eine durchgängig bemerkenswerte Leistung voraussetzen und Teile der Prozentsatzdefinitionen, welche z.B. Zensuren als Leistungsmerkmal nutzen, sind meiner Meinung nach ungeeignet, um damit Underachiever zu erkennen. Da nach diesen Arten der Definition nur Personen identifiziert werden, die auch eine dementsprechend hohe Leistung erbracht haben, werden Underachiever nicht erfasst. Die IQ-Definitionen haben den Nachteil, dass man nicht jede Person testen kann, da dies gänzlich unökonomisch wäre. Man stelle sich den Aufwand vor, Millionen von Schülern jedes Jahr zu testen. Die Auswahl der zu testenden Schüler hängt wiederum von Auswahlkriterien und -methoden ab, die der Testprozedur vorgeschaltet werden müssen. Welche es dabei gibt und wie sie mit dem Problem der Underachiever umgehen, erläutere ich im Bereich der subjektiven Verfahren. Die oben erwähnte Erfassung von Sonderbegabungen nach WITTY mittels einer Leistungsdefinition ist im Bezug auf Underachievment unzureichend. Es werden wiederum nur Personen erfasst, die eine Hochleistung, diesmal in einem Spezialgebiet, erbringen. Die Prozentsatzdefinitionen sind meiner Meinung nach auch kritisch zu betrachten. Bringt man die Schüler aufgrund eines gemessenen IQ in eine Reihenfolge, tritt wieder das ökonomische Problem der Vorauswahl von Testkandidaten auf. Bringt man Schüler auf der Basis von Noten oder Lehrernominierungen in eine Reihenfolge, hat man das Problem, dass diese Reihenfolge wieder auf einer Leistung basiert und zudem noch von einigen Beurteilungsfehlern beeinflusst wird, auf die später noch eingegangen werden soll.

Um bezüglich der Hochbegabungsdefinition dem Merkmal von Underachievement, nämlich einer Minderleistung verglichen mit der Fähigkeit, gerecht zu werden, empfehle ich daher eine Abkehr von produktlastigen Begabungsdefinitionen und eine Hinwendung zu Definitionen mit dem Schwerpunkt in der Disposition. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit möchte ich auf der Basis bestehender Identifikationsstrategien auch Vorschläge unterbreiten, wie dies vor allem auf Basis einer ökonomischen Vorgehensweise umgesetzt werden kann.

2.3 Underachievement

2.3.1 Definitionen und Merkmale

In der einschlägigen Literatur zum Thema Underachiever stößt man auf eine Vielzahl von Definitionen. MANDEL & MARCUS gehen bei der Definition des Begriffes zunächst auf Achievement ein. Sie finden eine Reihe an Vorschlägen, die alle eines gemeinsam haben. Demnach umfasst Achievement „the notion of energy expended to conquer difficulties, or effort made to overcome obstacles, or of struggle and perseverance to attain a desired goal“ (MANDEL & MARCUS, 1988: 2). Während die Autoren davon sprechen, dass der Begriff Accomplishment in diesem Fall der praktischen Arbeit von Lehrern und Beratern näher stehe als Achievement, findet man in der deutschen Literatur öfter den übersetzten Begriff für Achievement, nämlich Leistung vor. Im Zusammenhang mit Underachievement spricht man daher auch von Minderleistung (HANSES & ROST, 1998: 53). Eine einfache Definition dieses Phänomens liefern FLAMMER & KELLER. Underachiever sind danach „Schüler, die mehr leisten könnten als sie tatsächlich leisten“ (1982: 1037). Diese Definition folgt der klassischen Auffassung, die eine zeitkonstante Begabung als notwendige Bedingung für schulische Leistung voraussetzt. Begabung wird dabei als objektiv messbar angesehen und die Minderleistung mit nicht intellektuellen Faktoren erklärt (1038). Doch die Frage, die sich m.E. hier stellt, ist die, was man unter mehr Leistung versteht und wie man aktuelle Leistung einschätzt oder wertet? Um Minderleistung messen zu können, muss vorher festgelegt werden, ob man ein relatives oder absolutes Kriterium für Leistung schafft oder diese kombiniert (HANSES & ROST, 1998: 54). PETERS et al. definieren es etwas konkreter, indem sie sagen, dass „the most basic definition of underachievement is a discrepancy between actual achievment and intelligence“ (2000: 609). Sie relativieren diese Aussage, wenn bemerkt wird, dass jede Vorstellung von Underachievement im Kontext der zugrunde gelegten Intelligenztheorie beurteilt werden muss. In diesem Fall nutzen PETERS et al. die logisch-mathematische und verbale Intelligenz nach GARDNER, um Underachiever zu identifizieren (609). Dies sollte jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass Leistung alleine durch Intelligenz determiniert wird. HANSES & ROST bemerken, dass ca. 80% der Schulleistungsvarianz nicht durch Intelligenz identifiziert werden kann (1998: 54) Es muss also noch andere Einflussgrößen geben, die Underachievement bedingen. Aufgrund der großen Zahl verschiedener Intelligenztheorien und Hochbegabungsmodelle lässt sich eine Vorstellung entwickeln, wie viele Ideen es von Underachievement gibt. Um eine Vorstellung von der Zahl der betroffenen Schüler zu haben wird bemerkt, dass 50% der durch einen IQ identifizierten Schüler als akademische Underachiever galten. Allerdings wird bei PETERS et al. nicht weiter auf die genauen Merkmale von akademischer Minderleistung eingegangen, d.h. z.B. es werden keine Zensuren als Messgröße genannt. Auch scheint mir die genannte Zahl von 50% etwas überhöht, zumal wie angesprochen kein Kriterium für Underachievment dargelegt wird. HANSES & ROST, die im Rahmen des Marburger Hochbegabtenprojekts eine Studie zu Underachievement durchführen, sprechen davon, dass es nur eine „sehr kleine Gruppe der `hochbegabten Underachiever´“ (1998: 67) gibt. Die Autoren sprechen auch an, dass die in der öffentlichen Diskussion zur Debatte stehende Meinung, Underachievement komme häufiger vor, durch diese Studie nicht belegt wird (68).

Die oben angesprochene klassische Sichtweise von konstanter Begabung hat den Nachteil, dass sie davon ausgeht, dass die Masse der Individuen ihre Begabung voll ausschöpft. Dass davon nicht ausgegangen werden kann, scheint naheliegend. Daher gibt es nach FLAMMER & KELLER eine weniger scharfe Definition von Underachievern, die davon ausgeht, dass die Masse ihre Begabung eher mittelmäßig ausnutzt und Underachiever ihre Fähigkeiten in Leistung besonders ungenügend umsetzen. Overachiever nutzen demnach ihre Begabung überdurchschnittlich gut aus. Bei der Festlegung von Grenzwerten für Over- und Underachievement stößt man auf das Problem, dass man Intervalle nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schätzen kann. WAHL (1975: 130-132) hält die Messschwierigkeiten zur Erfassung eines Intervalls mittels linearer Regression für unüberwindbar. Auch die Anwendung multipler Regression, welche neben den Messwerten Intelligenz und Schulleistung noch andere Determinanten von Leistung, wie z.B. Motivation oder Angst, erfasst, wird von ihm eher negativ beurteilt, da Einzelfällen damit nicht geholfen werden kann. FLAMMER & KELLER hingegen erwähnen die Wichtigkeit der Forschung auf diesem Gebiet mittels multipler Regressions- und Veränderbarkeitsanalyse, um daraus einen praktischen pädagogischen Nutzen zu ziehen. Bei der Annäherung an das Problem sollte man sich auch von der rein akademischen Leistung lösen. Nach SUPPLEE kann „Underachievement […] exist in areas of giftedness other than the academic“ (1990: 5). Die Autorin bemerkt weiterhin, dass Underachievement z.B. auch im Bereich der Kreativität oder der sozialen Kompetenz vorkommen kann. Meiner Meinung nach ist diese These jedoch in so fern nicht beweisbar, als diese Bereiche noch nicht messgenau erfasst werden können. SUPPLEE stellt im übrigen fest, dass sie für das Auffinden von Underachievern Intelligenztests nutzt und keine Kreativitätstests o.ä. (1990: 5).

Gegen die Definition von Underachievement sollte die von Overachievement abgegrenzt werden. Overachievement ist das Gegenteil von Underachievement. Nach oben genannter Übersetzung bedeutet dies eine Über- bzw. Mehrleistung in Bezug auf eine Fähigkeit. Nach MANDEL & MARCUS ist der Begriff des Overachievement aber ein Widerspruch in sich (1988: 4). Sie bemerken, dass man nicht das tun kann, was man nicht tun kann und relativieren deshalb den Begriff so weit, dass ein Overachiever nur deshalb so genannt wird, weil er momentan noch nichts von seiner Leistungsfähigkeit weiß und eine überdurchschnittliche Ausdauer aufweist (4). Dies ist m.E. etwas zu kritisch betrachtet. Ich denke, dass ein Overachiever sich schon dessen bewusst sein kann, wie begabt er ist, und dass er gerade deshalb mehr Fleiß in der Ausführung von Aufgaben zeigt, weil ihm daran gelegen ist, z.B. gute Noten zu erreichen. Overachiever sind nach FLAMMER & KELLER Personen, die eine Leistung erbringen, die höher ist, als die eigentliche Begabung zulässt. Dies wird mit Faktoren wie erhöhter Ausdauer, Motivation u.a. erklärt, welche einen Beurteiler über die wirkliche Begabung täuschen können, was sich an MANDEL & MARCUS anlehnt. Kurz gesagt wird Overachievement bei Unterschätzung der Begabung oder bei Überschätzung der Leistung diagnostiziert (FLAMMER & KELLER, 1982: 1038).

2.3.2 Konkrete Messgrößen-Vorschläge für Underachievment

Im Bereich der Messung von Underachievement gibt es in der neueren Literatur viele Vorschläge, wann man von Underachievement ausgehen muss. So schlagen HANSES & ROST vor, Begabte unter den oberen 5% in einem Intelligenztest, die unterhalb von 50% der mittleren Leistung liegen, als Underachiever anzusehen (1998: 53). Dies ist jedoch nur ein Beispiel für eine Vielzahl von konkreten Werten für Underachievement, die man bei PETERS et al. (2000: 610) und BUTLER-POR (1993: 650) nachlesen kann. Underachievement findet man nicht nur im Bereich von Intelligenz und Performanz, sondern auch bei hoch kreativen Schülern (BUTLER-POR, 1993: 653). BUTLER-POR konstruiert sogar einen Zusammenhang zwischen beiden Faktoren. Sie sagt, dass divergentes Denken zu Repressalien seitens der Eltern und Lehrer führen kann, da ein solches Kind als nervig oder unbequem angesehen und dementsprechend behandelt werden kann. Dies kann zu Problemen im Selbstkonzept, zu Lernschwierigkeiten und zu konformen Verhaltensweisen führen. Die Folge daraus kann sein, dass „in preferring to learn by authority, he sacrifices his natural tendency to learn creatively…As a result, he loses interest in and is resistent to learning“ (1993: 653). Eine direkte kausale Verbindung zwischen Kreativität und Underachievement herzustellen scheint mir etwas zu gewagt. Diese These sollte allerdings dazu führen, sich trotz einiger Unzulänglichkeiten im Bereich der bestehenden Kreativitätstests, mit dem Problem auseinanderzusetzen, um Ursachen für Underachievement schon an der Basis zu erkennen. Man kann im Bereich konkreter Messgrößen festhalten, dass es keine einheitliche, sondern viele verschiedene Vorstellungen darüber gibt, wie genau die Begabungs-Leistungs-Differenz festzulegen ist. Die Forschung im Bereich Underachievement versucht nicht nur, Messgrößen zur Identifikation festzulegen, sondern auch Charakteristika von Underachievern zu isolieren. Schon TERMAN & ODEN hatten in ihrer Langzeitstudie zur Hochbegabung herausgefunden, dass Hochbegabte nicht zwangsläufig auch Hochleistende sein müssen. So erkannten sie, dass 10% der Höchstbegabten aus einer Gruppe von 150 Männern keinen Collegeabschluss ablegten, während 30% der am wenigsten Begabten einen solchen Abschluss schafften. Sie machten vier Charakteristika für Underachiever aus. Diese waren: „(1) inability to persevere; (2) lack of integration toward goals; (3) feeling of inferiority; (4) lack of self confidence“ (zitiert nach BUTLER-POR, 1993: 649). Auf diese Charakteristika wird gleich noch eingegangen, wenn ich die Bedeutung der Vorstellungen von Underachievement für die Identifikation reflektiere. In den Bereich der Charakteristika von Underachievern fallen sicher auch die Gründe für Underachievement. Die Frage nach den Gründen für Underachievement ist jedoch nicht eindeutig zu beantworten. Betrachtet man Studien zum Selbstkonzept von Underachievern, stößt man auf widersprüchliche Ergebnisse. ROST & HANSES stellen verschiedene Ergebnisse vor, die eine große Spannbreite an Unterschieden im Selbstkonzept von Underachievern zeigen. Sie stellen eine große Divergenz an Ergebnissen fest. Die Studie von DAVIS & CONNEL (zitiert nach ROST & HANSES, 1994: 383) z.B. weist keinerlei Unterschiede in den Selbstkonzepten nach, während ROST & HANSES herausfanden, dass „sich […] bei hochbegabten `Underachievern´ deutliche Probleme in fast allen Facetten des Selbstkonzepts“ (1994: 397) bemerkbar machen. Die vorliegenden Studien sind inhaltlich und methodisch derart unbefriedigend gestaltet, dass deren Ergebnisse nach ROST & HANSES nicht unkritisch übernommen werden dürfen. MANDEL & MARCUS legen ebenfalls eine Reihe von Untersuchungsergebnissen vor, die tendenziell in Richtung eines negativen Selbstkonzeptes zeigen (1988: 16-18). Sie gehen noch ein wenig weiter und beschreiben die Einstellung von Underachievern zu Lehrern dahingehend, dass diese eher negativ beurteilt werden und die Underachiever innerhalb der Familie mehr Konflikte auszutragen haben (17). Dies soll uns später noch einmal beschäftigen, wenn es um Elternnominierungen geht. Die allgemeine Tendenz der vorliegenden Literatur geht in Richtung eines negativen Selbstkonzepts bei Underachievern, auch wenn einige wenige Studien von diesen Ergebnissen abweichen.

ROST nennt als mögliche Erklärung für die fehlende Umsetzung von Begabung in Performanz negative Erfahrungen mit Leistungssituationen sowie außerschulische und den Schüler belastende Probleme. ROST & SCHERMER nennen in diesem Zusammenhang die Leistungsängstlichkeit, die aus solchen Situationen entstehen kann (2001b: 411). Demnach erfolgt eine Attribuierung von Misserfolg mit persönlichem Unvermögen, wohingegen Erfolg dem Zufall zugeschrieben wird. Mit dem sinkenden Selbstwertgefühl sinkt auch die Erfolgswahrscheinlichkeit, was wiederum zu nicht adäquater Leistung führt. So sagen die Autoren auch, dass „Hochängstliche in fast allen Schulfächern weniger leisten als emotional stabile Schüler“ (ROST & SCHERMER, 2001b: 410). Dies könnte meines Erachtens auch einen Hinweis auf Underachievement geben, wenn man Verfahren zur Angstdiagnostik bei schlechten Schülern heranzieht. Ein schlechter Schüler könnte aufgrund seiner Ängstlichkeit m.E. ein potentieller Underachiever sein. Overachievement hingegen wird nach ROST besonders häufig im Grundschulalter und in der Sekundarstufe I erkannt, da hier Schüler oftmals einen besonderen Fleiß entwickeln, um den Erwartungen ihrer Eltern zu entsprechen. Diese Kompensation hat spätestens da ihre Grenze, wo man mittels Fleiß und Motivation das fehlende Intelligenzniveau nicht mehr ausgleichen kann (1991a: 214f.). Eine allgemeine Übersicht für die Gründe von Underachievement bieten MANDEL & MARCUS, die eine Vier-Felder-Tabelle darstellen, wie in Tabelle 1 zu sehen ist.

Tabelle 1:General Reasons for Underachievment (with Examples)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dort wird zwischen externen und internen Faktoren unterschieden, die jeweils nur zeitlich begrenzt oder dauerhaft wirken können. Die entsprechende Kombination aus beiden Faktoren kann dann theoretisch eine Minderleistung bedingen, die sich auf eine kurze Zeit oder eine längere Phase erstreckt. Ich denke, dass eine zeitlich begrenzte Minderleistung nicht das Problem sein wird, welches eine Identifikation erschwert, da ein Bruch in einer normalerweise konstant guten Leistung z.B. vom Lehrer schnell erkannt werden kann. Der Schwerpunkt der Identifikationsarbeit sollte m.E. auf den permanenten Faktoren liegen, da diese eine konstante Minderleistung bedingen und damit die Identifikation von Hochbegabung erschweren können.

Auch FEGER geht auf den Bereich der internen und überdauernden Faktoren ein. Sie nennt auch die mangelhaften Lern- und Arbeitstechniken als einen Hauptgrund für Underachievement. Demnach fällt Hochbegabten in den ersten Schuljahren die gute Leistung förmlich zu, ohne dass sie spezielle Arbeitstechniken entwickelt hätten. Wenn die Themen aber komplexer und die Anforderungen schwerer werden, reicht die Begabung an sich nicht mehr aus. Es fehlt nun an der Technik, z.B. Wiederholen und Üben, um diese Aufgaben bewältigen zu können (1998: 119f.). Probleme im Lern- und Arbeitsverhalten nennen auch WITTMANN & HOLLING (2001: 120). Sie erklären dies mit der fehlenden Aneignung von Sorgfältigkeit, Konzentration, Durchhaltevermögen und einer mangelnden Zielkontrolle. Dazu kann ein geringes Interesse für die Schule und eine Ablehnung jeglicher mit der Schule verbundenen Aktivität kommen.

2.3.3 Identifikation von Underachievern

Um Underachiever zu identifizieren, gibt es nach der vorliegenden Literatur nicht das eine, perfekte Medium. Es werden lediglich Anhaltspunkte gegeben, wie man Underachiever ausfindig machen kann. Nachstehend sind einige praktische Hinweise v.a. für Lehrer aufgeführt, die Underachiever in ihren Klassen entdecken wollen. BUTLER-POR (1993: 651) und PETERS et al. (2000: 611) schlagen diese Liste vor, anhand derer man Underachievment bemerken könnte:

1. Identifikation von Widersprüchen zwischen in Fragestellung und Hypothesenformulierung implizierter kognitiver Fähigkeit und gezeigter Schulleistung in Hausaufgaben oder Arbeiten.
2. Identifikation von größeren Unterschieden zwischen allgemeinem und speziellem Wissen, welches durch heimisches Lesen angeeignet wurde und der Vernachlässigung von Leseaufgaben für die Schule.
3. Vergleich zwischen betriebenem Aufwand für außerschulische Aktivitäten und geringem Aufwand für schulische Aufgaben.
4. Eine von Schüler und Lehrer gemeinsam durchgeführte Identifikation von akademischen Schwächen und Stärken, persönlichen Vorlieben und dem entsprechenden Aufwand, der für diese betrieben wird.
5. Befragung von Eltern, vorhergehenden Lehrern und Beratern an der Schule bezüglich der Lern- und Sozialgewohnheiten des Schülers. Ein Abfall der Schulleistung über zwei Jahre zeigt Underachievment an.

Diese Auflistung ist, wie ich meine, nur als Hinweis zu nutzen, wie ein aufmerksamer Lehrer Underachiever erkennen kann. Die Form ist jedoch nicht methodisch nutzbar und kann nicht in großem Umfang eingesetzt werden, um Underachiever systematisch ausfindig zu machen. Außerdem gibt es im Bereich der Lehrerbeobachtung und Lehrernominierung Probleme, die später im Abschnitt Subjektive Verfahren der Hochbegabungsdiagnostik noch behandelt werden. Bevor man einen Identifikationsprozess für Underachiever in Gang setzt, sollte man sich darüber im Klaren sein, welchen Aufwand man betreiben möchte. SUPPLEE sagt hierzu, dass man im Vorfeld eines Screenings jeden Schüler testen sollte (1990: 60). Noten sind SUPPLEE zufolge kein geeignetes Mittel, um Underachiever zu identifizieren. Man sollte vielmehr Schülerakten und Checklisten zu Verhalten und Charakter nutzen. Hier ist jedoch auch das Problem für die Verwendung dieser Vorschläge in der Bundesrepublik Deutschland zu sehen. SUPPLEE geht davon aus, dass ein Intelligenztest und regelmäßige weitere Leistungstests bei jedem Schüler bereits durchgeführt wurden und dass diese Ergebnisse miteinander verglichen werden können. Erst ein Vergleich dieser Werte mit den Beobachtungen der Lehrer mittels Checklisten ermöglicht laut SUPPLEE eine Identifizierung von Underachievern (1990: 60ff.). Dies ist nicht direkt auf Deutschland übertragbar, da Schüler hier nicht grundsätzlich getestet werden. Demnach fällt der Vergleich von Lehrerbeobachtung und Testergebnissen nicht nur schwer, er ist ohne vorherige Testung schlichtweg unmöglich.

Abschließend möchte ich die Auswirkungen der Definitionen und den vermeintlichen Ursachen von Underachievement für das Identifizieren von hochbegabten Underachievern, auch im Hinblick auf die subjektiven und objektiven Verfahren, reflektieren. Geht man davon aus, dass Underachiever mehr leisten könnten als sie leisten, hilft einem das im ersten Moment nicht weiter. Wir haben oben festgestellt, dass eine konkrete Messgröße festgelegt werden muss, anhand derer man Underachiever identifizieren kann. Es liegt nun am Forscher und den an die Ergebnisse gestellten Erwartungen, welches Modell von Hochbegabung bzw. welche Intelligenztheorie zugrunde gelegt wird und ob man z.B. von akademischer, kreativer oder sozialer Minderleistung ausgehen möchte. Dies gilt es vorher zu bestimmen. Es stellt sich als reine Definitionsfrage heraus, welche Größen man einsetzt, und als Folge, welche Instrumente man zu ihrer Bestimmung nutzt. Dabei kommt es auch darauf an, welche Ursachen und Charakteristika man einer Minderleistung zugrunde legt. Geht man davon aus, dass ein negatives Selbstkonzept ein Grund ist, kann man mit einem entsprechenden Fragebogen für das Abfragen des Selbstkonzepts arbeiten. Denkt man, dass Kreativität ein Auslöser von Underachievement ist, weil diese Schüler als Störer empfunden werden, kann man über den Bereich der Kreativität oder die Beobachtung konkreten Schülerverhaltens eine Identifikation beginnen. Es bleibt daher festzuhalten, dass je nach Vorstellung von Underachievement andere Identifikationsmethoden angewendet werden müssen. Daher werden im Abschnitt Informationsquellen und Meßmethoden die verschiedenen Verfahren auf ihre Tauglichkeit und Fehlerquellen bezüglich der Diagnose von Underachievement hin reflektiert und bewertet.

3 Modelle der Hochbegabung

Wie oben schon dargelegt, ist es zur Operationalisierung und damit zur Messbarkeit von Hochbegabung notwendig, eine Definition bzw. ein Modell von Hochbegabung zugrunde zu legen, an welchem man sich orientieren kann. Nachfolgend sind daher die gängigen in der Literatur genannten Modelle dargestellt, erklärt und Kritikpunkte aufgeführt.

3.1 Das Drei-Ringe-Modell der Hochbegabung nach RENZULLI

Das Drei-Ringe-Modell bzw. –Konzept nach RENZULLI sollte eine „theoretische Basis für die amerikanische Praxis der Begabtenauslese und -Förderung schaffen“ (SCHÄR, 1991: 57). Der Vorteil sollte demnach darin liegen, dass es auf viele Begabungsbereiche anwendbar und auch leicht verständlich sein sollte. Mit diesem Konzept wollte RENZULLI für mögliche Fördermaßnahmen eine große Zahl von potentiell Hochbegabten identifizieren (zitiert nach HOLLING, 1999: 9). Das Modell sieht wie folgt aus:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Drei-Ringe-Konzept der Hochbegabung nach RENZULLI

Jedoch sprach RENZULLI selbst nicht von einem Modell, was ihm von Kritikern vorgeworfen wurde (ROST, 1991: 203), sondern von einer Konzeption (zitiert nach FEGER, 1998: 36). Basierend auf Forschungsergebnissen über Eigenschaften kreativer und besonders leistungsfähiger Personen, filterte RENZULLI drei Fähigkeitsbündel bzw. Cluster heraus, welche er `Above Average Ability´ (überdurchschnittliche Befähigung), `Task Commitment´ (Engagement und Aufgabenmotivation) und `Creativity´ (Kreativität) nannte (1993: 217f.). In Abb. 2 ist dies verdeutlicht. Die Besonderheit des Konzeptes stellt die Dynamik der drei Ringe dar, die sich frei bewegen und ihre Größe verändern können. Dies macht deutlich, dass sich nach RENZULLIs Vorstellung Hochbegabung bei jedem Menschen anders darstellt und dass sich bestimmte Begabungsbereiche im Laufe eines Lebens ändern können (SCHÄR, 1991: 57). RENZULLI lehnte demnach eine Konzentration alleine auf die Intelligenz oder Leistung ab, da alleine damit ja nicht die kreativ Hochbegabten entdeckt würden (ROHRMANN, 2005: 44), (HOLLING, 1999: 9). Das dominierende Element stellt die Interaktion der Cluster dar, wobei RENZULLI selbst sagt, dass „`überdurchschnittliche (intellektuelle) Fähigkeiten´ eine konstante Voraussetzungsbedingung im […] System der Identifizierung darstellen“ (1993: 219).

Doch bei aller Beachtung und Erwähnung in der einschlägigen Literatur rief dieses Konzept auch Kritik hervor. Kritisiert wird zunächst, dass er Begabung und Leistung gleichsetzt. Dadurch würden aber die Underachiever übersehen, die trotz hoher intellektueller und kreativer Fähigkeiten nur geringe Leistungen erbringen. Sie gelten demnach nicht als hochbegabt, so ROHRMANN (2005: 44), HOLLING (1999:8), FEGER (1998: 36) und ROST (1991: 202). Dies relativierte RENZULLI jedoch selbst, als er bemerkte, dass die Zielgruppe der Identifizierung die deutlich über dem Intelligenzdurchschnitt liegende sei und Aufgabenmotivation sowie Kreativität als Entwicklungsziele angesehen werden sollten. Sein Ziel war es demnach, die drei Ringe nach der Identifikation mittels Förderung zusammen zu führen (1993: 219), was meiner Meinung nach ein indirektes Eingeständnis war, im Zusammenhang mit Identifizierung von Hochbegabung doch der Idee von einem bestimmenden Generalfaktor der Intelligenz zu folgen. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Kreativität. Dieses Konstrukt ist laut ROST besonders unscharf, über die Entwicklung gesehen instabil, noch nicht vernünftig operationalisiert und erfüllt noch nicht den Anspruch an eine hohe prognostische Validität (1991: 203). Der dritte Kritikpunkt befasst sich mit dem Bereich des `Task Commitment´. ROST stellt in Frage, ob es sinnvoll sei, diesen Bereich für die Identifizierung von besonderer Begabung zu nutzen, da die Kombination aus guten Schulleistungen und hoher Intelligenz ein entsprechend gutes `Task Commitment´ schon enthalte (204).

Die letztgenannte Schwachstelle ist nach ROST (1991: 205) die Grenzwertsetzung von Hochbegabung. So legt er Folgendes dar:

Versteht man unter `hochbegabt´ diejenigen, die in jedem der drei Bereiche mindestens eine Standardabweichung über dem Durchschnitt der Population liegen (was ungefähr einem Prozentrang von rund 85 entspricht), so wären – eine Unabhängigkeit der Merkmale voneinander vorausgesetzt – weniger als 4 von 1000 Kindern `hochbegabt´. Will man 5% eines Jahrgangs als `hochbegabt´ definieren, so würde es unter den gleichen Voraussetzungen schon genügen, in jedem der drei Bereiche zu den 37% Besten zu gehören.

ROST wird allerdings wiederum von MÖNKS kritisiert, wobei dieser ROST im Hinblick auf dessen Aktualität des Forschungsstandes attackiert (MÖNKS, 1991: 237-239), weshalb ich hierauf nicht näher eingehen will.

In diesem Abschnitt sollte das Drei-Ringe-Konzept der Hochbegabung nach RENZULLI dargestellt und Kritikpunkte sollten aufgezeigt werden. Auch hier zeigten sich anhand der Quellen wieder die Divergenzen in der Sicht der Hochbegabung: zum Einen die Anhänger einer Hochbegabung als Einfaktorenkonzept, wie z.B. ROST (1991), und zum Anderen die einer Hochbegabung als Mehrfaktorenkonzept, wie z.B. MÖNKS (1991) und HELLER (1991). Für weitergehende Informationen über diesen Streit sei deshalb auf die erwähnten Quellen verwiesen.

3.1.1 RENZULLIs Modell und Underachievement

RENZULLI sagt, dass „`überdurchschnittliche (intellektuelle) Fähigkeiten´ eine konstante Voraussetzungsbedingung im […] System der Identifizierung darstellen“ (1993: 219). Dies impliziert meiner Meinung nach die Wichtigkeit des Faktors Intelligenz in diesem Modell. Wenn die Zielgruppe der Diagnostik die deutlich über dem Intelligenzdurchschnitt liegende sein soll, wird diese Wertung noch untermauert. Demnach sind die beiden anderen Ringe in Abb. 2 nur als Ziel einer Förderung anzusehen. Ausgangspunkt ist und bleibt daher die Intelligenz. Diese zu messen sollte also vorrangiges Ziel sein. Demzufolge wäre es nach RENZULLIs Modell auch möglich, im Laufe einer Testreihe Underachiever zu identifizieren. Er schlägt in seinem Identifikationssystem als ersten Schritt in logischer Konsequenz vor, eine Nominierung von Hochbegabten nach Testergebnissen durchzuführen (1993: 220). Diese Methode ist jedoch, wie oben schon dargelegt, unökonomisch, wenn innerhalb eines großen Gebietes eine sehr große Stichprobe getestet werden muss. RENZULLI beschränkt sich daher bei seiner Umsetzung des Modells in eine Identifikationsstrategie auf kleine Talentpools, die schulintern geschaffen und als Grundlage für die Zuteilung zu Enrichment-Programmen gesehen werden. Für diese sollen begabte Schüler diagnostiziert werden. Ich denke, dass in einem solchen Fall eine genügende Berücksichtigung der Underachiever gewährleistet ist, da in erster Linie die Disposition des Schülers und nicht ein Leistungsmerkmal abgeprüft wird. In Kombination mit den von RENZULLI eingeplanten Lehrer- und Elternnominierungen könnte dies neben der Einfachheit seines Modells ein weiterer Grund für dessen Beliebtheit sein. Beachtet man die Relativierung der Faktoren Leistungsmotivation und Kreativität als Entwicklungsziel, ist dieses Modell bei der Diagnose von Hochbegabten m.E. eine Beachtung wert.

3.2 Modell der triadischen Interdependenz nach MÖNKS

MÖNKS geht in seinem Modell davon aus, dass eine besondere Anlage auf einem Gebiet nicht ausreicht, um außergewöhnliche Leistungen zu erbringen, da dafür eine soziale Umgebung notwendig ist, die diesen Prozess begleitet und fördert (1993: 21). Er folgt darin der Idee, dass Hochbegabung erst dann erkannt werden kann, wenn sie sich in Leistung manifestiert.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Triadisches Interdependenzmodell der Hochbegabung nach MÖNKS

Im Zentrum seines Modells steht, angelehnt an RENZULLI, die Triade aus hoher intellektueller Fähigkeit, Kreativität und Motivation (MÖNKS, 1993: 21). Unter hoher intellektueller Fähigkeit versteht er im Rahmen der diagnostischen Arbeit einen IQ-Wert über 130, im Allgemeinen die oberen 5-10% der Population. Im Bereich der Motivation erwähnt MÖNKS Schlagworte wie Wille, Durchsetzungsvermögen, Spaß, Ziele setzen, Pläne machen und Risiken in Kauf nehmen. Die Kreativität stellt den Bereich dar, der für das Auffinden von Problemen und Problemlösungen selbst zuständig ist (22). Um diese Triade herum formt sich die Sozialumgebung des Menschen, die dazu beiträgt, die Anlagen zu verwirklichen. Diese besteht aus den drei Komponenten Familie, Schule und Peers. Die Person interagiert mit dieser äußeren Triade, was nur dann gut verläuft, wenn sie eine gewisse soziale Kompetenz besitzt (22). Abschließend erwähnt MÖNKS, dass „eine positive wechselseitige Beziehung zwischen den beiden Triaden und ein ausgewogenes Verflochtensein bestimmend sind für eine möglichst ungestörte Entwicklung von Hochbegabung“ (25).

Auch dieses Modell wird wie RENZULLIs Drei-Ringe-Konzept in der Literatur häufig erwähnt, so z.B. bei ROHRMANN (2005: 45), FREUND-BRAIER (2001: 27), HOLLING (1999: 11) und FEGER (1998: 37). Doch erfuhr es auch wieder Kritik, allen voran von ROST (1991: 205f.). Neben der inneren Triade, die er schon, wie oben beschrieben, bei RENZULLI bemängelte, kritisiert er hier auch die äußere Triade, sprich die Sozialbereiche Familie, Schule und Peers. Konkret sagt er, dass MÖNKS diese primären Sozialbereiche nicht ausreichend präzisiere und dass sie zudem auf unterschiedlichen Ebenen lägen (ROST, 1991: 205). So sieht er Schule und Familie als Institutionen und Peers als Personen, die wiederum Mitglieder beider Institutionen sein können. Die äußere Triade wird von ROST als eine gefährliche Leerformel bezeichnet, da anstatt der Hochbegabung auch Konzepte wie Glück, Angst oder Aggressivität in die innere Triade gehören könnten und diese damit austauschbar sei (205f.). Am Ende zitiert er MÖNKS selbst, der in seiner Studie erwähnt, „Motivation or `task commitment´ … was not used as one of the selection criteria“ (MÖNKS et al., 1986: 54). Somit gibt MÖNKS auch meiner Meinung nach zu, dass das Modell in dieser Form nicht zur Identifikation herangezogen werden kann, sondern vielmehr ein Konzept zur Förderung einer Lernumwelt für bereits identifizierte Individuen darstellt. Die oben angesprochenen Kritikpunkte ROSTs werden wiederum von MÖNKS (1991: 232-240), sowie von HANY und HELLER (1991: 241-249) als haltlos zurückgewiesen. Zum weiterführenden Studium dieses Streites sei deshalb auf die angegebenen Textstellen verwiesen.

3.2.1 MÖNKS´ Modell und die Erfassung von Underachievern

Reflektiert man MÖNKS´ Modell in Bezug auf die Identifikation von Underachievern, kann man in erster Linie die Kritik an RENZULLIs Modell heranziehen. Die Erweiterung in diesem Modell verdient meiner Meinung nach jedoch Beachtung. Trotz der kritisierten Willkür bei der Auswahl der äußeren Sozialbereiche denke ich, dass der Ansatz zweckmäßig ist. So sagt ROST trotz aller Kritik auch, dass „insbesondere Arbeitsverhalten, Motivation und Interesse sehr stark von pädagogisch beeinflußbaren [sic] Rahmenbedingungen (wie didaktisches Geschick und Engagement des Lehrers, Anpassung des Unterrichts an die Lernvoraussetzungen des Kindes) determiniert sind“ (ROST, 1991a: 206). Somit ist die Wichtigkeit der sozialen Umwelt für die Umsetzung der Begabung in Leistung dringend anzunehmen. Unser Gefühl sagt uns, dass ein bestimmtes Lehrerverhalten die Schüler zu Interesse und Leistung anhält, dass ein spannend aufbereitetes Thema einen interessanteren Zugang zu einem Fachgebiet ermöglicht. Auch wenn bis dato noch keine eindeutige Zuordnung einer nach einem bestimmten Schema aufgebauten Umwelt zu einer Minderleistung gegeben ist, so sollte diese Umwelt jedoch nicht außer Acht gelassen werden. Mein Vorschlag wäre daher, den Faktor Umwelt als eine Art Katalysator anzusehen, ähnlich der Vorstellung GAGNÉs, dessen Modell noch vorgestellt wird. Diese Katalysatoren wirken demnach hemmend oder fördernd, je nach Zusammenstellung, auf die Umsetzung von Begabung in Leistung ein. Später wird noch auf die Wichtigkeit der Umweltfaktoren eingegangen, wenn es um Wettbewerbe als objektive Diagnoseverfahren geht.

3.3. Das Komponentenmodell der Talententwicklung von WIECZERKOWSKI & WAGNER

Auch dieses Modell stellt eine Erweiterung des Konzeptes von RENZULLI dar. Dabei folgen WIECZERKOWSKI & WAGNER in Bezug auf Hochbegabung der oben schon erwähnten Definition LUCITOs (WIECZERKOWSKI & WAGNER, 1985: 110). Das Modell sieht wie folgt aus.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Komponentenmodell der Talententwicklung von WIECZERKOWSKI & WAGNER

WIECZERKOWSKI & WAGNER bezeichnen dies als Komponentenmodell der Talententwicklung, welches „das vereinfachte Abbild eines dynamischen Geschehens [darstellt, M.K.], in dem sich die Prozeßfaktoren [sic] wechselseitig beeinflussen“ (1985: 112). Es besteht, wie in Abb. 4 zu sehen ist, aus den drei Ringen: Begabung, Kreativität sowie Motivation und Umwelt. Die Überschneidung manifestiert sich dann nicht als Hochbegabung, sondern als Talent. WIECZERKOWSKI & WAGNER stellen dies dem traditionellen Hochbegabungskonzept entgegen, welches ihrer Meinung nach auf den Ergebnissen der Langzeitstudie von TERMAN basierte. Die Kritik umfasst dabei drei Punkte.

Als erstes wird die Beschränkung auf den Bereich der intellektuellen Hochleistungsfähigkeit als „restriktiv und willkürlich“ (WIECZERKOWSKI & WAGNER, 1985: 112) bezeichnet. Dabei wird vor allem die mangelhafte Erfassung von Sonderbegabungen kritisiert. Allerdings wird auch ein Erklärungsansatz für den Erfolg des traditionellen Begabungsbegriffs gegeben, wenn sie erwähnen, dass diese sich durch Standardverfahren recht einfach erfassen lasse und trotz geringer Stichhaltigkeit auch nicht vollkommen zu verwerfen sei (112). Danach gehen sie auf den Bereich der Kreativität ein, die als ein Aspekt menschlicher Hochleistung in einem Modell enthalten sein sollte. Allerdings wird dieser Bereich auch als umstritten erkannt und bewertet (113). Zuletzt wird der Bereich der Motivation und Umwelt angesprochen, der ausschlaggebend dafür ist, Hochleistungen zu erbringen. Kreativität und Begabung sind demnach nicht die alleinigen Bedingungen für Hochleistung (113). Meines Erachtens ist es aber verwirrend, wenn die Autoren im Blick auf das Zusammenwirken der Komponenten von Hochleistung sprechen und in der graphischen Version ihres Modells im Schnittpunkt von Talent. Dies sollte noch stärker differenziert werden. Dies sieht auch HOLLING so, wenn er bemängelt, dass das Wort Talent im deutschen Sprachraum vor allem dem Denotat Anlage zugeordnet wird, und nichts mit Umwelt zu tun hat. Seiner Meinung nach sollte man hier von Leistung sprechen, um die Umwelteinflüsse entsprechend in das Modell mit einfließen zu lassen (1999: 11).

[...]

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Hochbegabungsdiagnostik. Identifikation von hochbegabten Underachievern
Untertitel
Messmethoden und Informationsquellen
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
94
Katalognummer
V74357
ISBN (eBook)
9783638635042
ISBN (Buch)
9783638675925
Dateigröße
1204 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Hochbegabungsdiagnostik, Messmethoden, Informationsquellen, Berücksichtigung, Identifikation, Underachievern
Arbeit zitieren
Diplom-Pädagoge Michael Kemmer (Autor:in), 2006, Hochbegabungsdiagnostik. Identifikation von hochbegabten Underachievern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74357

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