Milan Kundera als Literaturkritiker


Seminararbeit, 2006

27 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung: Milan Kundera

2. Milan Kunderas Konzept des Romans

3. Milan Kunderas Stil und Gedankenführung
3.1 Milan Kunderas Stil und Gedankenführung in seinen Essays
3.2 Milan Kunderas Stil und Gedankenführung in den reflektiven Passagen seiner Romane

4. Literatur-, Kunst- und Kulturkritik in Milan Kunderas Werk
4.1 Literatur-, Kunst- und Kulturkritik in Milan Kunderas Essays
4.2 Literatur-, Kunst- und Kulturkritik in Milan Kunderas Romanen

5. Zusammenfassung

1. Einleitung: Milan Kundera

Ich werde in diesem Aufsatz beschreiben, wie der tschechische Schriftsteller Milan Kundera Kunst und Literatur in seinen Essays und Romanen beschrieben, analysiert und bewertet hat. Zum besseren Verständnis werde ich auch seinen Stil in Romanen und Essays im Allgemeinen beschreiben.

Milan Kundera ist vor allem für seinen Roman Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins bekannt. Ich werde über seine etwas weniger bekannte Seite des Literaturkritikers und Literaturtheoretikers (letzteres allerdings auf eine spezielle Art, wie noch genauer erklärt werden wird) aufklären. Besonders interessant finde ich daran die unterschiedlichen Darstellungsformen, in denen Kundera Literatur diskutiert (Essay und Roman); und innerhalb derer die unterschiedlichen Arten, auf die Kundera theoretisiert und kritisiert (z.B. im Roman einerseits als Erzähler und andererseits durch die Aussagen der Figuren).

Milan Kundera wurde im Jahr 1929 in Brünn (Tschechien) geboren. Er studierte Musik, Film und Literatur an der Karls-Universität in Prag. Anschließend wurde er Assistent, dann Professor an der Filmfakultät der Universität. Milan Kundera war zuerst ein Anhänger des Kommunismus, wurde aber im Jahre 1950 wegen individualistischen Neigungen aus der Partei ausgeschlossen. Er trat der Partei 1956 wieder bei, da er jedoch bei der Reformbewegung des Prager Frühlings mitwirkte, wurde er im Jahre 1970 erneut ausgeschlossen und verlor auch seine Professur. Seinen ersten Roman Der Scherz veröffentlichte Kundera 1967 noch in Prag, seinen zweiten, Das Leben ist anderswo, im Jahr 1973 in Paris, wohin er emigriert war und wo er immer noch lebt.

2. Milan Kunderas Konzept des Romans

Wie mancher, wenn nicht sogar jeder Romancier hat Milan Kundera eine eigene, persönliche Lehre des Romans. Diese Lehre ist nicht wissenschaftlich, sie ist nicht einmal systematisch. Sie wird explizit in den drei Essays Kunderas (Die Kunst des Romans, Verratene Vermächtnisse und Der Vorhang) dargelegt. Gleichzeitig wird sein Konzept des Romans aus den Romanen selbst ersichtlich, und zwar auf zweifache Weise: Erstens explizit, weil sich in seinen Romanen Passagen befinden, wo über den Roman theoretisiert wird – Wenn man allerdings nicht an der Entwicklung des Konzeptes mit der Zeit interessiert ist, dann findet man in den Romanen nichts darüber, was in den Essays nicht ausführlicher und genauer dargelegt wird. Zweitens implizit, weil die Romane selbst viel, wenn nicht alles über das Romankonzept Kunderas aussagen.

Die Form des Romans kann, im Gegensatz zu Poesie oder Drama, nicht ohne weiteres verallgemeinernd zusammengefasst werden, weil „der Roman (sich) in seinem Wesen gegen jede Kanonisierung sträubt“[1]. Eine Romantheorie ist daher nicht wertfrei, objektiv und unumstritten, sondern geht von einem bestimmten Typ des Romans aus, an den sich die in ihr aufgestellten Ideale anlehnen. Die Romantheorie wählt also einzelne Eigenschaften von den unendlichen möglichen Eigenschaften eines Romans aus, die sie schwächer oder stärker betont und für unabdingbar, vorteilhaft, störend, unzulässig etc. erklärt. Bezüglich mancher Merkmale herrscht mehr, bezüglich anderer weniger Einigkeit zwischen den (wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen) Romantheorien.

Kunderas Romantheorie bildet in beiden der zuletzt genannten Punkten keine Ausnahme: Sie geht sowohl von einem bestimmten Typ des Romans aus, von Vorbildern Kunderas wie Flaubert und Rabelais und darüber hinaus von Kunderas eigener Ästhetik, die er im Laufe seiner Tätigkeit als Romancier wissentlich oder unwissentlich herausgebildet hat. Kundera ist kein Wissenschaftler, er geht weder in seinen Reflexionen innerhalb der Romane noch in seinen Essays von einer wissenschaftlichen Romantheorie aus oder versucht, eine von ihnen zu modifizieren. Er selbst formuliert es in seinem ersten Essay Die Kunst des Romans so:

Muss ich betonen, dass ich nicht den geringsten theoretischen Ehrgeiz habe, dass dieses ganze Buch nichts weiter als das Bekenntnis eines Praktikers ist? Das Werk eines Romanciers enthält implizit immer eine Vorstellung der Geschichte des Romans, eine Vorstellung davon, was der Roman sei; dieser Vorstellung vom Roman, die meinen Romanen zugrunde liegt, habe ich Ausdruck verleihen wollen.[2]

Das heißt aber nicht, dass er mit nicht mit einigen der literaturwissenschaftlichen Theorien des Romans Gemeinsamkeiten und mit anderen Unterschiede und Widersprüche hat. So weisen Kunderas Ausführungen an verschiedenen Punkten Gemeinsamkeiten mit literaturwissenschaftlichen Theorien des Romans auf, zum Beispiel dem Prager Strukturalismus und seiner Betonung der formellen Aspekte des Romans. Mit anderen Theorien widersprechen sich die Ausführungen Kunderas. Etwa mit der Hermeneutik, der es um die Extrahierung einer Aussage geht – etwas, das Kundera bei Romanen für falsch hält, die Aussage eines Romans ist für Kundera der Roman selbst. Oder mit der biographischen und der psychologisierenden Literaturkritik, da Kundera der Meinung ist, man sollte vorsichtig sein mit Rückschlüssen von der Literatur auf das Leben oder den mentalen Zustand des Autors, und dessen Werke eher im Kontext der Literaturgeschichte als im Kontext seiner eigenen Biographie oder seiner Psyche sehen. Auch mit der Rezeptionsästhetik widersprechen sich Kunderas Ausführungen: Denn diese betont, was der Leser des Buches erlebt während er liest; Kundera hingegen interessiert weniger, was beim Leser ankommt, sondern was das Werk ausmacht.

Diese und andere Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit literaturwissenschaftlichen Theorien werden von Kundera allerdings nicht explizit erwähnt, in seinen Essays taucht nicht einmal der Name einer literaturwissenschaftlichen Theorie oder eines Literaturwissenschaftlers auf. Es bleibt unklar, ob Kundera die Theorien studiert hat und somit von ihnen beeinflusst wurde bzw. sich in Opposition zu ihnen orientiert hat, ob die Beeinflussung indirekt geschehen ist oder ob die Gemeinsamkeiten und Unterschiede nur zufällig sind.

Zunächst werde ich Kunderas Lehre des Romans zusammenfassen. In Anlehnung an Chvatik[3] werde ich diese in zwei Hauptthesen zusammenfassen, die wiederum Unterthesen beinhalten. Diese Darstellung ist notwendigerweise verkürzt - Kundera hat im Jahre 2005 seinen letzten Essay Der Vorhang veröffentlicht, wo er sich mit dem gleichen Thema 224 Seiten lang beschäftigt. Ich werde trotzdem versuchen, die wichtigsten Aspekte von Kunderas Perspektive auf den Roman zu erklären.

Die Erste der zwei Hauptthesen Kunderas ist

die Überzeugung, dass die Erkenntnis, das Enthüllen eines neuen Aspekts der menschlichen Existenz, eine fundamentale Funktion der Romanform ist, die einzig gültige Moral des Romans.[4]

Der Roman kann und soll nicht mit den Wissenschaften konkurrieren, indem er einzelne Phänomene auf empirische Art zu erfassen versucht oder indem er seine Stärken in der logischen Argumentation sucht. Er soll das beschreiben, was nur er beschreiben kann: Die Lebenswelt des Menschen (ein Wort, dass Kundera sich von dem Philosophen Husserl entliehen hat), das bedeutet: Sein konkretes Leben, seine Umgebung, seine Welt. Für Kundera liegt diese Aufgabe beim Roman, weil bei einer Welt, die so komplex ist wie die unsere, die Wissenschaften diese Aufgabe nicht mehr übernehmen, sondern sich stattdessen auf Details jeder Art konzentrieren. Die Zeiten, wo die Philosophie unsere Lebenswelt noch erforscht hat und erforschen konnte, sind vorbei. Darum, so Kundera, sei dies jetzt die Aufgabe des Romans. „Die einzige Existenzberechtigung eines Romans besteht darin, dass er einen unbekannten Aspekt des Lebens entdeckt (...) Ein Roman, der keine bislang unbekannte Parzelle der Existenz entdeckt, ist unmoralisch“[5], sagt er, indem er sich auf Herrmann Broch beruft. Aus dieser Annahme erwächst auch Kunderas Haltung zu autobiographischen Romanen: Ein Roman muss für ihn mehr sein als einige Begebenheiten, die dem Verfasser passiert sind. Er polemisiert gegen Romane, die nur vom Leben des Romanciers und nicht von der Romangeschichte inspiriert sind: „Autobiographien in Romanform“[6] haben die Bezeichnung Roman für ihn nicht verdient. Stattdessen soll es folgendermaßen gemacht werden: „Der Romancier zerstört das Haus seines Lebens, um dann aus diesen Steinen das Haus seines Romans aufzubauen“[7]. Das bedeutet anders herum, dass gute Romane nicht oder kaum mit der Biographie des Romanciers erklärt werden können, wie weiter unten erklärt wird.

Dass der Roman keine Reflexion im Stile der Geisteswissenschaften beinhalten sollte, heißt allerdings nicht, dass in Romanen keine Passagen vorkommen sollten, in denen der Erzähler reflektiert. Im Gegenteil, Kundera ist ein großer Anhänger dieser Errungenschaft des modernen Romans, die seiner Ansicht nach von Autoren wie Broch und Musil erfunden wurde, und keiner von Kunderas Romanen verzichtet auf diese reflexiven Passagen. Sie bieten eine weitere Möglichkeit für den Autor, ein stimmiges Gesamtwerk herzustellen, indem sie die Handlungsstränge ergänzen. Gute reflexive Passagen in Romanen versuchen Kunderas Vorstellung nach nicht, wissenschaftlich oder philosophisch zu klingen, weil sie nicht von einem bestimmten „Ideensystem“ ausgehen und keine „Wahrheiten verkünden“ wollen. Sie können ironisch oder naiv sein, metaphorisch oder direkt, in jedem Fall müssen sie sich auf das Leben, auf die Lebenswelt der Figuren beziehen, um so den Roman zu vervollkommnen.[8]

Die zweite der beiden wichtigsten Eigenschaften des Romans ist für Kundera „die der Autonomie des Romans als eigenständiger Kunstform“[9]. Der Roman kann die Erkenntnisse, die er vermittelt, nur als Roman vermitteln. Er enthält keine Botschaften, die man aus ihm extrahieren kann – Kundera polemisiert aus diesem Grunde etwa gegen die Mehrzahl der Interpreten Kafkas (er nennt sie Kafkologen), die verschlüsselte Botschaften moralischer oder autobiographischer Art aus den Werken extrahieren wollen:

Es gibt nur eine einzige Methode, um Kafkas Romane zu verstehen. Sie wie Romane zu lesen. Statt in K.s Person ein Porträt des Autors und in K.s Worten eine geheimnisvolle, chiffrierte Botschaft zu sehen, aufmerksam das Verhalten der Figuren, ihre Aussagen, ihr Denken zu verfolgen und zu versuchen, sie sich plastisch vorzustellen.[10]

Darüber hinaus spielt die Form eine erhebliche Rolle für den Roman. Kundera sieht in der Form eines Romans weit mehr als nur den Träger des Inhaltes: Sie ist nicht nur die Hülle, sondern auch Selbstzweck, und dem Inhalt nicht untergeordnet, sondern untrennbar mit ihm verbunden. Kunderas eigene Romane werden, was die Form angeht, als komponiert bezeichnet[11], auch er selbst benutzt diesen Ausdruck im Hinblick auf die Romane anderer, von ihm geschätzter Autoren. Chvatik, der Kunderas Werk als ganzes in seinem Buch interpretiert hat, führt die Aspekte aus, bei denen sich Kundera im Aufbau seiner Romane von der Musik inspirieren lässt:

„...die polyphone Entwicklung der Themen, die Anordnung der Motive und Variationen nach dem Prinzip des Kontrapunkts, (...) die unterschiedliche Instrumentierung von Themen und Motiven, (der) Wechsel der Tempi und die klare, übersichtliche Gliederung des Textes.“[12]

Dieser Aspekt der Autonomie des Romans hängt insofern mit dem vorigen Aspekt zusammen, als dass er besagt, dass die Erkenntnisse des Romanes nur von ihm selbst gefunden werden können, dass also nicht etwa die Philosophie oder eine andere Wissenschaft zu den gleichen Erkenntnissen kommen könnte. Dieser Gedanke der Arbeitsteilung ist ein wichtiger Teil von seinem Konzept des Romans. Auch widerspricht Kundera der Vorstellung, nur die Philosophie beeinflusse die Literatur. Tatsächlich erfolge die Beeinflussung wechselseitig. Er nimmt die philosophische Richtung des Existenzialismus als Beispiel, von der angenommen werde, sie habe die Literatur beeinflusst. Tatsächlich aber sei der Umschwung von der „psychologischen Ausrichtung“ zur „existentiellen Analyse“ im Roman schon Jahrzehnte, bevor sich der Existentialismus in der Philosophie ausbreitete, erfolgt.[13] Ein guter Roman kann nicht auf fertigen philosophischen oder ideologischen Arten der Weltanschauung basieren, sondern er lotet sie immer selbst aus, stellt Fragen, wechselt die Perspektiven, und bleibt so in seiner Weltsicht vieldeutig und ungreifbar. Das macht für Kundera den Roman als eigenständige Kunstform mit einer eigenen Perspektive zur Welt aus.

[...]


[1] Chvatik (1994), S.167.

[2] Kundera (1987), S.5.

[3] Chvatik (1994).

[4] Ebd., S.168.

[5] Kundera (1987), S.13.

[6] Kundera (1994), S.22.

[7] Kundera (1987), S.154.

[8] Kundera (2005), S.98 ff.

[9] Chvatik (1994), S.169.

[10] Kundera (1994), S.50.

[11] Chvatik (1994), S.170.

[12] Ebd.

[13] Kundera (2005), S.88

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Milan Kundera als Literaturkritiker
Hochschule
Universität Leipzig  (Kommunikations- und Medienwissenschaft)
Veranstaltung
Rezensieren (Seminar)
Note
2,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
27
Katalognummer
V74174
ISBN (eBook)
9783638686068
ISBN (Buch)
9783638694964
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit analysiere ich, wie der Schriftsteller Milan Kundera sich sowohl in seinen Essays als auch in seinen Romanen mit Literatur und Kunst auseinandersetzt und diese Bewertet.
Schlagworte
Milan, Kundera, Literaturkritiker, Rezensieren
Arbeit zitieren
Florian Bamberg (Autor:in), 2006, Milan Kundera als Literaturkritiker, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/74174

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