Die Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland und die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung

Eine wirtschaftspolitisch-statistische Analyse seit der Wiedervereinigung


Diplomarbeit, 2006

86 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Entwicklung des Arbeitsmarktes

3 Entwicklung und Diskussion der rechtlichen Grundlagen
3.1 Vorbemerkung und Geschichte
3.2 Einteilung der geringfügigen Beschäftigung
3.3 Rechtliche Grundlagen bis 31.03.1999 und deren Effekte
3.4 Das 630-DM-Gesetz zum 01.04.1999
3.5 Die "Minijob-Reform" - Neuregelung zum 01.04.2003

4 Datengrundlage geringfügiger Beschäftigung
4.1 Datenerfassung vor 1999
4.1.1 Angebotsorientierte Messkonzepte
4.1.2 Nachfrageorientierte Messkonzepte
4.2 Statistische Erfassung nach 1999
4.3 Schwierigkeiten bei der Datenerfassung

5 Umfang und Struktur der geringfügig Beschäftigten
5.1 Umfang der geringfügig Beschäftigten vor 1999
5.2 Beschäftigungsumfang nach dem 01.04.1999
5.2.1 Kurzfristige Effekte des "630-DM-Gesetzes"
5.2.2 Schwierigkeiten in der amtlichen Statistik
5.2.3 Beschäftigungsumfang bis 2003
5.3 Beschäftigungsumfang nach der Minijob-Reform
5.4 Struktur der geringfügig entlohnten Beschäftigten
5.4.1 Geringfügig Alleinbeschäftigte
5.4.2 Geringfügig Nebenbeschäftigte
5.4.3 Einsatz in den Wirtschaftsbereichen

6 Das BA-Beschäftigtenpanel
6.1 Statistik und Forschung
6.2 Aufbau und Methodik
6.3 Hochrechnungsgüte des BA-Beschäftigtenpanels
6.4 Vergleich zu anderen Datenquellen

7 Empirische Analysen mit dem BA-Beschäftigtenpanel
7.1 Zielstellung
7.2 Analyse der geringfügig entlohnten Beschäftigung
7.2.1 Beschäftigungsaussichten
7.2.2 Geringfügige Beschäftigung als Weg aus der Arbeitslosigkeit
7.2.3 Aufteilung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung
7.3 Analyse der Beschäftigung in der Gleitzone
7.4 Soziale Absicherung durch die Rentenversicherung

8 Schlussfolgerung und Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Der deutsche Arbeitsmarkt ist mit seinen grundlegenden Problemen seit Jahren ein Dauerthema in der öffentlichen Diskussion. Starre Strukturen, bürokratische Gesetz- gebung und ein mangelnder politischer Wille lassen den deutschen Arbeitsmarkt im Vergleich zu anderen Ländern unflexibel und nicht wettbewerbsfähig erscheinen. Mit der nachfolgenden Arbeit wird ein Segment des Arbeitsmarktes beleuchtet, dass in den letzten Jahren durch steigende Beschäftigtenzahlen für Gesprächsstoff sorgte. Die geringfügige Beschäftigung hat sich während der 1990er Jahre zu einem stillen Riesen entwickelt und ist heute ein unverzichtbares Instrument des deutschen Ar- beitsmarktes. Im Juni 2006 befanden sich 6,7 Mio. Personen bzw. 17,2% aller Er- werbstätigen in einer geringfügigen Beschäftigung.1 1992 waren es dagegen nur rund 3,2 Mio. bzw. 8,7% aller Erwerbstätigen.2 Dieser, zur sozialversicherungspflich- tigen Beschäftigung gegenläufige Trend, führte zu einer stärkeren Beachtung in der Politik. Mit zwei Reformen versuchte der Gesetzgeber, maßgeblich Einfluss auf Ent- wicklung und Struktur der geringfügigen Beschäftigung zu nehmen. Diese beiden Reformen, das „630-DM-Gesetz“ vom 24.03.19993 und die „Minijob-Reform“ vom 14.11.20024, hatten allerdings gegensätzliche Charaktere. Die erste Reformmaßnahme war ein Versuch, die geringfügige Beschäftigung einzudämmen, mit der zweiten Reform versuchte man sie auszuweiten.

Ein zentraler Punkt dieser Arbeit wird es sein, in einer empirischen Analyse zu unter- suchen, wie sich diese Kehrtwende in der Politik auf die geringfügige Beschäftigung ausgewirkt hat. Als Datengrundlage für die Analyse dient das vergleichsweise neue Beschäftigtenpanel der Bundesagentur für Arbeit (BA), das im Gegensatz zu den etablierten Datenquellen auf prozessbasierten Daten der Beschäftigtenstatistik der BA zurückgreift. Durch den verhältnismäßig großen Stichprobenumfang und die gute Datenqualität lassen sich somit seriöse empirische Untersuchungen durchführen.

Als Vorbereitung für die Analyse wird ein Überblick über die Entwicklung der Rechts- grundlagen geringfügiger Beschäftigung gegeben sowie deren Auswirkungen disku- tiert. In der empirischen Analyse selbst sollen Fragen der Beschäftigungsaussichten geringfügig entlohnter Beschäftigter und die Möglichkeit von Arbeitslosen, über einen Minijob in die Erwerbstätigkeit zurückzukehren, hinreichend beantwortet werden. In diesem Zusammenhang wird auch geprüft, ob die neu eingeführte Gleitzone ("Midi- jobs") die Minijobs einerseits sinnvoll ergänzt und andererseits mehr Beschäftigung im Niedriglohnsektor schafft. Darüber hinaus wird auf die in der Öffentlichkeit oft dis- kutierte Gefahr der Aufspaltung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung einge- gangen.

Die oben erwähnte Kehrtwende der Politik mit der „Minijob-Reform“ basiert allerdings neben arbeitsmarktpolitischen Überlegungen auch auf mangelnden Forschungser- gebnissen, insbesondere in den 1990er Jahren. Verantwortlich für dieses Informati- onsdefizit war die oftmals nicht ausreichende Datengrundlage.5 Aus diesem Grund wird die vorliegende Arbeit neben einer Bewertung der Reform zur geringfügigen Be- schäftigung auch eine Untersuchung der Datengrundlagen dieses Beschäftigungs- segmentes enthalten. Es soll geklärt werden, ob es Unterschiede in den von den Da- tenquellen ausgewiesenen Beschäftigtenzahlen gibt und mögliche Ursachen dafür identifiziert werden.

In Abschnitt 2 wird zunächst ein Einblick in den deutschen Arbeitsmarkt gegeben und es werden Gründe für den Vormarsch von geringfügiger Beschäftigung und atypi- schen Beschäftigungsverhältnissen aufgezeigt. Anschließend wird in Abschnitt 3 die Entwicklung und die damit verbundene Diskussion der rechtlichen Grundlage für die geringfügige Beschäftigung in chronologischer Reihenfolge behandelt. In den Ab- schnitten 4 und 5 werden die relevanten Datenquellen vorgestellt und analysiert und in der folgenden Betrachtung des geringfügigen Beschäftigungsumfanges miteinan- der verglichen. Das BA-Beschäftigtenpanel wird in Abschnitt 6 vorgestellt und seine Vor- und Nachteile analysiert. Die anschließende Analyse der Reformmaßnahmen in Abschnitt 7 konzentriert sich auf die oben bereits angedeuteten politischen Zielvor- stellungen, die mit der Minijob-Reform angestrebt wurden. Neben den schon ange- sprochenen Schwerpunkten wird sich der empirische Teil auch mit der sozialen Absi- cherung geringfügig entlohnter Beschäftigter befassen. Abschließend werden die Untersuchungen bewertet und die Ergebnisse zusammengefasst.

2 Entwicklung des Arbeitsmarktes

Die Erwerbsbeschäftigung in Deutschland befindet sich seit einigen Jahrzehnten in einem grundlegenden Wandel. Die Normalarbeitsverhältnisse (d.h. abhängige und unbefristete Vollzeitarbeit) verlieren an Bedeutung. Die Entwicklung zielt in flexiblere Beschäftigungsformen. Zum einen werden Formen, die das Arbeitsvolumen reduzie- ren, wie Teilzeittätigkeit und geringfügige Beschäftigung, immer mehr bevorzugt. Zum anderen geht die Tendenz zu steigender Befristung, insbesondere der Teilzeit- arbeit.6 1985 betrug der Anteil der abhängig Vollbeschäftigten an den Erwerbstäti- gen noch 77,6%. Innerhalb von 15 Jahren fiel der Anteil um 8 Prozentpunkte auf 69,6%. Dagegen sind atypische Beschäftigungsverhältnisse (z.B. befristete Beschäf- tigung, Teilzeitarbeit oder geringfügige Beschäftigung) in einem kontinuierlichen Wachstumsprozess. Die abhängige Teilzeitarbeit stieg von 1985 bis 2000 von 10,6% auf 19,1% der Erwerbstätigen.7

Der Beschäftigungswandel von weniger Voll- zu mehr Teilzeit hat mehrere Ursachen. Der kontinuierliche Produktionsfortschritt verringert den Bedarf an Arbeitsstunden. Zudem belasten die hohen Sozialabgaben die sozialversicherungspflichtigen Ar- beitsplätze und begünstigen Beschäftigungssegmente wie die geringfügige Beschäf- tigung. Den größten Anteil am Beschäftigungswandel ist jedoch dem anhaltenden Wandel der Wirtschaftsstruktur zuzuschreiben.8 Die Wirtschaft entwickelt sich immer mehr zu einer Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft und hat bereits die Vorreiterrolle des Sekundären Sektors (das Produzierende Gewerbe) abgelöst. Die Domäne der Industrie als Wirtschaftszweig mit der höchsten Wertschöpfung endete bereits in den 1980er Jahren. Betrug der Anteil der Bruttowertschöpfung des Verar- beitenden Gewerbes in den 1960er Jahren noch knapp 50%, fiel dieser Wert in 1992 auf 38,5%. Im gleichen Zeitraum zog der Anteil für den Tertiären Sektor (Handel, Dienstleistung u.a.) von 35% in 1960 auf 46,6% in 1992 an.9

Aber nicht nur in der Wertschöpfung musste die Industrie ihre Führungsposition an den Tertiären Sektor abgeben, sondern auch in der Beschäftigung. Dienstleistungs- und Handelsunternehmen beschäftigten 1991 59,5% aller Erwerbstätigen in Deutschland. 2004 stellte der Tertiäre Sektor bereits 71,3% aller Erwerbstätigen.10

Tabelle 1: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Tsd.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bach u.a. (2005)

Der Strukturwandel zu mehr Dienstleistungstätigkeiten führt zu veränderten Formen der Beschäftigung. Die Dienstleistungsbranche beispielsweise erfordert mehr Flexibi- lität in Vergütung und Arbeitszeit, um schnell und bedarfsgerecht auf Kundenwün- sche einzugehen.11 Daher ist der Anteil der Teilzeitbeschäftigten und geringfügig Be- schäftigten an der Gesamtbeschäftigung in Dienstleistungsunternehmen höher (Ta- belle 1). Hier sind flexiblere Ausgestaltungsmöglichkeiten der Teilzeitarbeit und ge- ringfügigen Beschäftigung für die Arbeitsnachfrage von Vorteil. Darüber hinaus för- dert Teilzeit oft auch Motivation und Produktivität der Mitarbeiter.12

Geringfügige Beschäftigung bringt zudem als Sonderform der Teilzeitarbeit, mit i.d.R. geringerer Wochenstundenzahl und niedrigeren Lohnnebenkosten, personalwirt- schaftliche Vorteile in einigen Wirtschaftszweigen. Im Dienstleistungsgewerbe und im Handel werden vorhandene Personalengpässe und erhöhter Personalbedarf zu be- stimmten Zeiten vornehmlich durch geringfügig Beschäftigte ausgeglichen. In Forst- und Landwirtschaft können mit der flexiblen Beschäftigungsform saisonale Arbeitsspitzen bewältigt werden. Darüber hinaus haben die Unternehmen im spitzen bewältigt werden. Darüber hinaus haben die Unternehmen im Rahmen des Strukturwandels auch verstärkt betriebliche Funktionen an Fremdfirmen übertragen. Diese Fremdfirmen setzen in hohem Maße geringfügig Beschäftigte ein13. Nicht nur auf der Nachfrageseite existieren Anreize zu vermehrter Inanspruchnahme von geringfügiger Beschäftigung. Es ist oft Wunsch der Beschäftigten selbst, die Ar- beitszeit zu verkürzen.14 Mit geringfügiger Beschäftigung lässt sich flexibler auf indi- viduelle Bedürfnisse der Beschäftigten reagieren, insbesondere in der Familienpla- nung. Daher nehmen überdurchschnittlich viele Frauen diese flexible Beschäfti- gungsform an, um Familie und Beruf so reibungslos wie möglich zu vereinbaren. Darüber hinaus wird geringfügige Beschäftigung von Randgruppen, wie Rentner, Schüler und Studenten, zur Aufbesserung des Einkommens genutzt.

3 Entwicklung und Diskussion der rechtlichen Grundlagen

3.1 Vorbemerkung und Geschichte

Geringfügige Beschäftigung steht aufgrund der Sonderbehandlung von Sozial- und Steuerabgaben schon lange im Fokus der arbeitsmarktökonomischen Diskussionen. Sie war ursprünglich bewusst von der Sozialversicherungspflicht befreit worden. In den 1960er Jahren suchte die Wirtschaft bei Vollbeschäftigung händeringend nach Arbeitskräften und die Sozialversicherungen erzielten aufgrund der guten Beschäfti- gungslage Überschüsse. Mit der Sozialversicherungsfreiheit wollte man Nichter- werbstätige wie Schüler, Studenten, Hausfrauen und Rentner für den Arbeitsmarkt mobilisieren. Die soziale Absicherung sollte entweder durch andere Mitglieder des Haushaltes über die Familienversicherung erfolgen oder durch die sozialversiche- rungspflichtige Hauptbeschäftigung.15 Die Inanspruchnahme der Geringfügigkeitsre- gelung sollte dabei mehr die Ausnahme als die Regel darstellen. Es zeigte sich aller- dings bald, dass die Regelung von der Wirtschaft sehr viel öfter als in Ausnahmen in Anspruch genommen wurde. Grund waren vor allem finanzielle Anreize durch die sozialversicherungsfreie und steuerrechtliche Sonderstellung. Aus diesem Anlass wurden die rechtlichen Regelungen im Laufe der Zeit mehrfach überarbeit.16

3.2 Einteilung der geringf Ügigen Beschäftigung

Die geringfügige Beschäftigung unterteilt sich in "geringfügig entlohnte Beschäftigung" und "kurzfristige Beschäftigung" (Abbildung 1). Die erstgenannte Kategorie ist auch bekannt unter den Synonymen „630-DM-Jobs“, "325-Euro-Jobs“ oder "Minijobs". Als kurzfristige Beschäftigung werden unregelmäßige, meist saisonal bedingte Tätigkeiten bezeichnet. Sie machen einen geringen Teil der geringfügig Beschäftigten aus. Darüber hinaus ist die statistische Erfassung solcher Beschäftigten aufgrund der unregelmäßigen Arbeitszeiten schwierig. Daher wird diese Erwerbsform in der vorliegenden Arbeit nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Abbildung 1: Einteilung der geringfügigen Beschäftigung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: In Anlehnung an Mengen (2004), eigene Darstellung

Die geringfügig entlohnte Beschäftigung wird i.d.R. weiter unterteilt in "geringfügige Alleinbeschäftigung", "geringfügige Nebenbeschäftigung" und "mehrere geringfügige Beschäftigungen".17

Die Bezeichnung "geringfügige Alleinbeschäftigung" oder "ausschließlich geringfügige Beschäftigung" wird verwendet, wenn der Erwerbstätige keiner weiteren sozialversicherungspflichtigen (Haupt-)Beschäftigung nachgeht.

Geringfügig Nebenbeschäftigte üben neben einer sozialversicherungspflichtigen Hauptbeschäftigung eine geringfügig entlohnte Nebentätigkeit aus. Unter "mehrere geringfügige Beschäftigungen" versteht man, dass mehr als eine geringfügige Alleinbeschäftigung ausgeübt wird.18

3.3 Rechtliche Grundlagen bis 31.03.1999 und deren Effekte

Die rechtlichen Grundlagen der geringfügigen Beschäftigung werden im SGB IV ge- regelt. Eine Übersicht der nachfolgenden Regelungen befindet sich in der Tabelle A1 im Anhang.

Bis 1999 lag eine geringfügig entlohnte Beschäftigung vor, wenn die regelmäßige Arbeitszeit weniger als 15 Stunden in der Woche umfasste. Die Verdienstgrenzen wurden im Laufe der 1990er Jahre immer wieder angehoben und waren dabei für Ost- und Westdeutschland unterschiedlich. Bis zur Reform am 01.04.1999 war die monatliche Verdiensthöchstgrenze auf 630 DM für das ehemalige Bundesgebiet und auf 530 DM für die neuen Bundesländer angestiegen.19 Für diese Beschäftigungs- verhältnisse gab es keine Beitragspflicht für die gesetzliche Sozialversicherung (Ar- beitslosen-, Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung). Versicherungsfrei blieben dar- über hinaus auch Nebentätigkeiten, wenn entweder ein Siebentel der monatlichen Bezugsgröße oder bei höherem Einkommen ein Sechstel des Gesamteinkommens nicht überstiegen wurden. Mehrere geringfügige Beschäftigungen wurden zusam- mengezählt und bei Überschreitung der Verdienstgrenze sozialversicherungspflich- tig.20

Eine kurzfristige Beschäftigung liegt vor, wenn die Beschäftigung innerhalb eines Jahres auf 50 Arbeitstage oder 2 Monate begrenzt ist und nicht berufsmäßig ausgeübt wird.21 Die Regelungen für die kurzfristige Beschäftigung haben sich durch die zwei nachfolgenden Reformen nicht geändert.

Das Einkommen aus geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen wurde entweder mit 20% pauschalversteuert oder individuell durch Vorlage der Lohnsteuerkarte.22

Mit der massiven Ausweitung der geringfügigen Beschäftigung in den 1990er Jahren wurde die Kritik an der bestehenden gesetzlichen Regelung immer lauter. Das Aus- maß an sozialversicherungsfreier Beschäftigung entsprach nicht mehr den ursprüng- lichen Vorstellungen, diese Erwerbsform als Ausnahmeregelung anzusehen. Vielfach wurde die Geringfügigkeitsregelung von den Unternehmen missbraucht, begünstigt auch durch fehlende staatliche Kontrolle.23 Einer der Hauptkritikpunkte war die feh- lende soziale Absicherung der geringfügigen Beschäftigten. Ein nicht unbedeutender Teil der geringfügig Beschäftigten wünschte sich selbst, mit Einführung der Sozial- versicherungspflicht eine Absicherung aufzubauen.24 Ein bedeutender Punkt in die- sem Zusammenhang war die Diskussion um entgangene Beiträge für die Sozialver- sicherungen. Von Wagner wird angeführt, dass die Sozialversicherungsfreiheit von Beschäftigten, die durch Familienangehörige abgesichert sind und anderweitig Schutz genießen, nicht mehr zu rechtfertigen ist.25 Diese Kritik unterstützend wirkt das Argument, dass Sozialversicherungsfreiheit zum Freifahrerverhalten ermuntert und das Sozialversicherungsprinzip verletzt.26 Diejenigen, die durch andere Haus- haltsmitglieder abgesichert sind (z.B. Hausfrauen, Schüler) haben einen Anreiz, eine geringfügige Tätigkeit aufzunehmen und somit den Sozialabgaben zu entgehen. Auch ist verteilungspolitisch fragwürdig, dass die Nebenerwerbstätigen keine Sozial- abgaben abführen müssen und einen reduzierten Steuersatz in Anspruch nehmen können.27 Eine Einführung der Sozialversicherungspflicht führe daher zu einer Ver- breiterung der Bemessungsgrundlage für die Einnahmen. Man sah dadurch Chan- cen, die Beitragssätze zu senken und die Belastung der Arbeitskosten für alle Be- schäftigten und Unternehmen zu reduzieren.28

Neben der Frage der Sozialversicherungspflicht wurden zahlreiche Benachteiligun- gen der geringfügig Beschäftigten im Arbeitsalltag kritisiert. So sind die gezahlten Stundenlöhne oftmals niedriger als eine vergleichbare Voll- oder Teilzeitstelle. Aber auch bei tariflichen und gesetzlichen Leistungen, wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall, Mutterschutz- oder Erziehungsurlaub etc. wer- den die geringfügig Beschäftigten häufig ausgeschlossen.29 Verantwortlich dafür ist auch der unterdurchschnittliche Organisationsgrad der sozialversicherungsfreien Be- schäftigten.30 Darüber hinaus fühlen sich die geringfügigen Beschäftigten in einer „Zweiklassengesellschaft“, weil sie oft nicht über die Lohnsteuerkarte arbeiten und dadurch die Beschäftigung nicht als echtes Arbeitsverhältnis angesehen wird.31

3.4 Das 630-DM-Gesetz zum 01.04.1999

Der Gesetzgeber änderte die gesetzlichen Rahmenbedingungen mit dem Gesetz zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse vom 24. März 1999 zum 01.04.1999.32 Die grundlegendste Änderung ist die Einführung der Sozialversiche- rungspflicht für geringfügig entlohnte Beschäftigte. Im Folgenden werden die Ände- rungen für die Beschäftigungsgruppen nach Rudolph kurz dargestellt.33 Die Entgeltgrenze für geringfügige Alleinbeschäftigung wurde auf 630 DM dauerhaft festgesetzt. Der Arbeitgeber hatte pauschal 12% des Arbeitsentgeltes in die Renten- versicherung und 10% in die Krankenversicherung abzuführen. Allerdings entstehen volle Ansprüche an die Rentenversicherung erst dann, wenn der Erwerbstätige die Arbeitgeberbeiträge aufstockt.34 Bei keinen weiteren Einkünften, konnte der Beschäf- tigte eine Freistellung von der Lohnsteuer beim Finanzamt beantragen. Bei der Be- steuerung konnte, nach wie vor, zwischen Individual- und Pauschalbesteuerung ge- wählt werden.

Bei mehreren geringfügigen Beschäftigungen blieb die bestehende Regelung des Additionsprinzips bestehen.

Grundlegende Änderungen ergaben sich für sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mit einer geringfügigen Nebentätigkeit. In diesem Fall wurden beide Beschäftigungen gleich behandelt. Die Nebenbeschäftigung war nun voll sozialversicherungspflichtig (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge) und wurde pauschal oder individuell besteuert.

Mit der Reform zum 01.04.1999 hatte die Bundesregierung versucht, einigen ungünstigen Entwicklungen entgegenzuwirken.35 Mit Festsetzung der Geringfügigkeitsgrenze auf 630 DM wollte man die Ausweitung der Beschäftigungsform begrenzen. Allerdings wurde mit der Reform die Entgeltgrenze für Ost- und Westdeutschland angeglichen. Dadurch erhöhte sich die Geringfügigkeitsgrenze für die Neuen Bundesländer zum 01.04.1999 um 100 DM. Durch die Einführung der Sozialversicherungspflicht für geringfügig entlohnte Be- schäftigung wurde den Betroffenen die Möglichkeit gegeben, eigene Sozialleistungs- ansprüche aufzubauen. Insbesondere verheiratete Frauen sollten durch die Neure- gelung zum Aufbau eigener sozialer Ansprüche ermutigt werden (das Einkommen des Ehegatte bleibt bei einer Beschäftigungsaufnahme unberücksichtigt). Die Einfüh- rung der pauschalierten Sozialversicherungsbeiträge führte jedoch nicht zu den ge- forderten und gewünschten Effekten. Durch Pauschalbeiträge entstehen in der ge- setzlichen Rentenversicherung (RV) nur minimale Ansprüche.36 Erst durch Verzicht auf die Sozialversicherungsfreiheit und damit verbundene Aufstockung der Beiträge auf die jeweils geltende Rentenbeitragshöhe kann der geringfügig Beschäftigte die vollen Leistungen aus der Rentenversicherung verlangen. Sinnvoll ist die Sozialver- sicherungspflicht allerdings für die Beschäftigten, die kurzfristige Lücken im Erwerbs- leben mit einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis ausfüllen wollen.37 Dadurch ist eine kontinuierliche Beitragszahlung in die Rentenversicherung durchführbar. Die Bereitschaft zur Aufstockung war jedoch gering. Nur 1,9% der geringfügig Beschäf- tigten verzichteten 1999 auf die Rentenversicherungsfreiheit und stockten ihre Bei- träge auf.38 Da dies ein zentraler Punkt der Reform war, wird dieses Thema in Abschnitt 7.4 gesondert behandelt.

Weitere Lücken für geringfügig Beschäftigte ergaben sich in der Krankenversiche- rung. Geringfügig Alleinbeschäftigte erhalten bei der gesetzlichen Krankenversiche- rung (KV) keine Zusatzleistungen wie Krankengeld, Mutterschaftsgeld und andere Lohnersatzleistungen.39 Da sie keine Beiträge in die Arbeitslosenversicherung zah- len, entstehen keine Ansprüche auf Leistungen, insbesondere für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Dadurch haben die Beschäftigten bspw. auch keine Mög- lichkeit zur Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen, um eine Brücke in die sozial- versicherungspflichtige Beschäftigung aufzubauen.40 Es ist daher nicht verwunder- lich, dass in der Literatur das Ziel vom Aufbau eigener sozialer Ansprüche der geringfügig Beschäftigten oft als unzureichend bewertet wird.41

Mit der Einführung der Sozialversicherungspflicht lagen wohlmöglich vornehmlich andere Überlegungen des Gesetzgebers vor. Durch die zusätzlichen Beitragsein- nahmen für die Sozialversicherung wurde die marode Finanzgrundlage der Sozial- versicherungen verbessert. Die Bundesregierung unterschätzte allerdings die Zu- satzeinnahmen aus den Sozialversicherungen. Wie aus Tabelle 2 zu entnehmen, wurde in 1999 750 Mio. DM und in 2000 sogar 1,2 Mrd. DM mehr Beiträge einge- nommen als erwartet.42

Tabelle 2: zusätzliche Einnahmen der RV und KV durch geringfügige Beschäftigungsverhältnisse in Mrd. DM

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundesregierung (1999), Mengen (2004)

Aufgrund der weiterhin bestehenden Mängel bei der sozialen Absicherung der ge- ringfügig Beschäftigten und der üppigen Beitagseinnahmen der Sozialkassen liegt die Vermutung nahe, dass es dem Gesetzgeber bei dem "630-DM-Gesetz" eher um eine Verbesserung der finanziellen Lage der Sozialversicherung ging.43 Durch die volle Sozialversicherungspflicht und individuelle Besteuerung für Neben- erwerbstätigkeiten wurden Haupt- und Nebenbeschäftigungen gleich behandelt. Die- se Neuregelung war die gravierendste Änderung dieser Reform. Für geringfügig Ne- benbeschäftigte verringerte sich das Nettoeinkommen aus der Nebentätigkeit um den vollen Arbeitnehmerbeitragssatz zur Sozialversicherung. Auch für Arbeitgeber war es unattraktiver geworden, geringfügige Nebenbeschäftigte einzustellen.44 Vor dem Hintergrund des Ziels der damaligen Bundesregierung, ein Ausweichen in die Schwarzarbeit zu verhindern und die Aufspaltung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen einzudämmen45, sind die oben genannten Belastungen sehr kritisch zu beurteilen. Durch Verteuerung der legalen Arbeit wird eher ein Abdriften in die Schwarzarbeit gefördert.

Darüber hinaus ergaben sich wichtige Neuerungen zur Erfassung, Kontrolle und statistischen Darstellung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Die bestehende Anmeldepflicht bei den Sozialversicherungen wurde um Kontroll- und Abmeldungen erweitert. Damit sind die geringfügig Beschäftigten in das "normale" Meldeverfahren der Sozialversicherungen integriert. Sie lassen sich so besser erfassen und die Abgaben leichter kontrollieren.46

3.5 Die "Minijob-Reform" - Neuregelung zum 01.04.2003

Die auferlegten Hürden für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse wurden schon kurz nach Einführung heftig diskutiert. Insbesondere von Seiten der Wirtschaft gab es Kritik an der Neuregelung. Der Handel sah Ausnahmeregelungen dieser pre- kären Beschäftigungsverhältnisse als notwendig an, um als "Ventil" der hohen Abga- benlast der regulären Beschäftigung und des überregulierten Arbeitsrechtes entge- genzuwirken.47 Die Bundesregierung sah sich zudem gezwungen, aufgrund steigen- der Arbeitslosigkeit und Expansion der Schwarzarbeit, Reformen auf dem Arbeits- markt durchzuführen. Hinzu kommen die Mängel des sozialen Systems, die den An- reiz zur Aufnahme einer Neben- oder Hauptbeschäftigung eines Arbeitslosen mindern. Hintergrund ist ein mangelnder Lohnabstand zwischen staatlichen Transferleistungen und dem am Arbeitsmarkt erzielbaren Lohn. Dieser Zusammenhang wird oft als "Sozialstaatsfalle"48 bezeichnet.

Zu einem grundlegenden Problem des deutschen Arbeitsmarktes wurde zudem die unzureichenden Beschäftigungsmöglichkeiten für Personen, deren Qualifikation und somit auch deren Produktivität stark unterdurchschnittlich ist.49 Die Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten liegt in der Tat wesentlich höher als die anderer Gruppen. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote für Personen ohne Berufsausbildung lag zwischen 1999-2003 mit 22,8% deutlich über der Gesamtquote von 10,1%.50

Die damalige Bundesregierung beauftragte Anfang 2002 eine Kommission, mit dem Vorsitzenden des früheren Personalvorstandes von Volkswagen, Dr. Peter Hartz, mit der Ausarbeitung von Vorschlägen zur Arbeitsmarktpolitik. Dabei stand insbesondere die Bekämpfung der Schwarzarbeit, die Gestaltung eines Niedriglohnsektors und Wege aus der Arbeitslosigkeit in eine reguläre Beschäftigung im Vordergrund. Die Hartz-Kommission legte dem Gesetzgeber in ihrem Abschlussbericht Änderung an dem "630-DM-Gesetz" nahe. Diese Änderungsvorschläge hatten maßgeblichen Einfluß auf die weitere Diskussion und der späteren Gesetzesänderung zum 01.04.2003. Die Hartz-Kommission empfahl, im Gegensatz zur geltenden Regelung, eine Entlastung der geringfügigen Beschäftigung. Zusammen mit "...Ich- und Familien-AG..." bieten diese Beschäftigungsverhältnisse laut der Kommission einen "...attraktiven Rahmen..." für die Erbringung von Dienstleistungen."51 Die Vorschläge der Kommission beinhalteten:52

- die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenze auf 500 Euro,
- pauschale Sozialversicherungsabgaben von 10%,
- die Vereinfachung des Beitragseinzuges,
- die steuerliche Förderung von Dienstleistungen in privaten Haushalten,
- reduzierte Sozialversicherungsbeitragssätze von 501-1000 Euro mit stufenweiser Anpassung.

Allerdings empfahl die Kommission diese "Minijob-Regelung" zuerst nur für haus- haltsnahe Dienstleistungen und nur für Arbeitslose und Nichterwerbstätige einzufüh- ren. Damit wollte man die besonders in Haushaltstätigkeiten stark ausgeprägte Schwarzarbeit bekämpfen und legalisieren. Zudem sollte so eine Chance zum Ein- stieg in die reguläre Beschäftigung geschaffen werden. Erst bei positiven Arbeits- markteffekten sollte eine Ausweitung der Tätigkeitsfelder in Betrachtung gezogen werden.53

Ein neuer Aspekt bei diesen Vorschlägen war die stufenweise Subventionierung der Sozialversicherungsbeiträge oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze. Damit wurde der lang kritisierte Punkt der "Geringfügigkeitsfalle" mit aufgenommen. Diese Beschäftigungsform wird später als "Midijobs" oder Beschäftigung in der "Gleitzone" bezeichnet und im Abschnitt 7.3 gesondert behandelt.

Die Bundesregierung hatte im Zuge der Vorschläge zur Reform des Arbeitsmarktes durch die Hartz-Kommission das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt am 23.12.2002 verabschiedet.54 In diesem Rahmen ergaben sich umfassende Änderungen hinsichtlich des Umfanges der geförderten Personen sowie des Beitrags- und Meldeverfahrens. Dabei ist der Gesetzgeber in einigen Punkten entscheidend von den Vorschlägen der Hartz-Kommision abgewichen. So beschränken sich die Neuregelungen nicht nur auf die haushaltsnahen Tätigkeiten sondern sind generell für alle Wirtschaftsbereiche anwendbar.

Im Einzelnen beinhaltet das Gesetz:55

- die Anhebung der Geringfügigkeitsgrenzen von 325 Euro auf 400 Euro pro Monat und eine Aufhebung der Arbeitszeitgrenze von 15 Stunden pro Woche,
- eine geringfügige Nebenbeschäftigung wird für den Arbeitnehmer wieder sozialversicherungsfrei,
- Änderung der Sozialversicherungsbeitragssätze und Senkung der Pauschal- versteuerung,
- die Attraktivität von geringfügiger Beschäftigung in Haushalten wird durch einer- seits niedrigere Sozialversicherungsbeiträge und anderseits steuerliche Absetz- barkeit erhöht,
- die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für die Einkommensspanne von 401-800 Euro ("Gleitzone" bzw. "Midijobs").

Die Details der Gesetzesänderung sind in der Tabelle A1 des Anhangs dargestellt. Die Bundesregierung begründete die erneute Anpassung der rechtlichen Rahmenbedingungen mit drei maßgeblichen Zielvorstellungen:

- Schaffung von Beschäftigung mit flexiblen Gestaltungsmöglichkeiten im Niedrig- lohnbereich unter Wahrung der sozialen Absicherung der Erwerbstätigen,56
- es soll den Arbeitslosen die Möglichkeit gegeben werden, durch Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung bzw. eines Midijobs, einen gleitenden Übergang in einer regulären Beschäftigung zu ermöglichen57 ("Brückenfunktion")58,
- Bekämpfung der Schwarzarbeit insbesondere in den Privathaushalten.59

Mit den rechtlichen Änderungen hat die Politik eine Kehrtwende zum „630-DM- Gesetz“ vollzogen, um so die geringfügige Beschäftigung auszuweiten.60 Die neuen Rahmenbedingungen gestalten deshalb die s.g. Minijobs deutlich attrakti- ver. Zum einen wurde die Geringfügigkeitsgrenze deutlich angehoben, um über 23% auf 400 Euro. Dadurch fallen ehemals sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhält- nisse in die Minijob-Regelung. Weiterhin ist ein Nebenjob zu einer (sozialversiche- rungspflichtigen) Hauptbeschäftigung sozialversicherungsfrei gestellt. Damit wird die Abgabenbelastung für diese Personengruppe aus dem „630-DM-Gesetz“ aufgeho- ben. Durch diese beiden rechtlichen Änderungen alleine, ist der Umfang nach Schät- zungen des IAB durch s.g. „Umbuchungen“ um ca. 740.000 Beschäftigungsverhält- nisse angestiegen.61 Darüber hinaus fördern bei geringfügigen Tätigkeiten in Privat- haushalten die reduzierten Sozialabgaben und die steuerliche Absetzbarkeit zu ver- mehrten Anmeldungen in diesem Bereich.

Die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten für geringfügige Beschäftigungsverhältnis- se und den neu eingeführten Niedriglohn-Jobs („Midijobs“) hatte entscheidende Auswirkungen auf die Finanzlage der Sozialversicherungen. Erste Berechnungen kurz nach der Reform zeigten durch unterschiedliche Ergebnisse eine gewisse Prob- lematik bei der genauen Einschätzung der Beitragsausfälle. Rudolph berechnete im Mai 2003 auf Basis der Beschäftigungsverhältnisse vom Juni 2000 einen Bei- tragsausfall von 417 Mio. Euro (berücksichtigt ausschließlich die Minijob- Regelung).62 Dieser Wert ist aber nur hypothetisch zu sehen, da sich einerseits die Struktur der Beschäftigten seit 2000 verändert hat und andererseits sich nach der Minijob-Reform der Umfang dieser Beschäftigungsverhältnisse erheblich ausgeweitet hat. Die Minijob-Zentrale kommt, nach bekannt werden der ersten Beschäftigungs- zahlen nach der Reform, auf Basis der gleichen Beschäftigungsstruktur wie Rudolph, zu einem anderen Ergebnis. Dabei ging die Minijob-Zentrale davon aus, dass nach Berücksichtigung der oben bereits erwähnten „Umbuchungen“, es zu einem Zuwachs von ca. 930.000 neuen Minijobs gekommen ist.63 Dadurch würden laut der Minijob Zentrale ca. 590 Mio. Euro zusätzlich in die Sozialkassen fließen und der Gesamtef- fekt der Neuregelung für geringfügige Beschäftigung damit bei +175 Mio. EUR lie- gen.64 Auch diese Zahl ist kritisch zu betrachten. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diese 930.000 Minijobs wirklich neu geschaffen wurden. Vielmehr kann es zum Teil zu einer Zerlegung von sozialversicherungspflichtigen Teil- und Vollzeitarbeitsplätzen in Minijobs gekommen sein.65 Bei solchen Substitutionseffekten ist der Beitragsaus- fall der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze mit zu berücksichtigen. Kommt es nämlich vermehrt zu Aufspaltung in Minijobs, kann es die Finanzlage der Sozial- kassen erheblich verschlechtern. Das Thema Substitution sozialversicherungspflich- tiger Beschäftigung in Minijobs ist von entscheidender Bedeutung, wenn es um die Evaluation arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen des Gesetzgebers geht. Daher wird dieses Thema gesondert in Abschnitt 7.2.3 behandelt.

Der Gesetzgeber hat mit der "Mini-Job Reform" auch die Aufnahme von einer gering- fügigen Nebenbeschäftigung neben einer sozialversicherungspflichtigen Hauptbe- schäftigung attraktiver gemacht. Dieser Schritt ist etwas verwunderlich, da eine sol- che Änderung nicht von der Hartz-Kommission vorgeschlagen wurde. Die Nebener- werbstätigen stehen mit der Neuregelung verstärkt in Konkurrenz zu den geringfügig Alleinbeschäftigten und damit ergibt sich ein Widerspruch zu den o.g. Zielvorgaben der Bundesregierung.

4 Datengrundlage geringfügiger Beschäftigung

4.1 Datenerfassung vor 1999

Ein großes Problem bei Analysen der geringfügig Beschäftigten vor 1999 war, dass es keine gesicherten Daten über Umfang und Struktur der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gab. In den amtlichen Beschäftigtenstatistiken wurden häufig nur sozialversicherungspflichtig Beschäftigte erfasst. In den achtziger Jahren wurden Aussagen über die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse hauptsächlich noch auf der Basis von Schätzungen getroffen.66

Im Jahre 1990 versuchte der Gesetzgeber im Rahmen der Einführung des Sozialver- sicherungsausweises und einer amtlichen Meldepflicht der Arbeitgeber für geringfü- gige Beschäftigungsverhältnisse, dieses Informationsdefizit zu beseitigen. Zuallererst sollte dem Missbrauch, insbesondere bei Umgehung von Sozialabgaben, vorgebeugt werden. Darüber hinaus hatte man sich auch genauere und zuverlässigere Informa- tion über das Ausmaß geringfügiger Beschäftigung erhofft. Den von den Sozialversi- cherungen angegebenen Umfang an geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen er- wiesen sich allerdings als deutlich höher im Vergleich zu den bis dahin bekannten Beschäftigtenzahlen. Die große Diskrepanz zu anderen Datenquellen entstand häu- fig dadurch, dass die Arbeitgeber zwar neu eingetretene geringfügig Beschäftigte meldeten, es aber vielfach versäumten, nach Beendigung von derartigen Beschäfti- gungsverhältnissen eine Abmeldung vorzunehmen.67 In der Literatur wird aus diesen Gründen diese Möglichkeit der Datengrundlage bis 1999 eher ignoriert.

Im Folgenden werden die wichtigsten Datenquellen zur Bestimmung des Umfanges der geringfügig Beschäftigten bis 1999 kurz erläutert. Dazu wird eine Unterteilung der Datengrundlage nach Rudolph verwendet.68 Er unterscheidet die Datenquellen in angebotsorientierte und nachfrageorientierte Messkonzepte. Das erstgenannte Kon- zept erfasst die geringfügige Beschäftigung über die Person, das Zweite über das Beschäftigungsverhältnis im Unternehmen. Diese beiden Ansätze erzeugen unter- schiedliche Ergebnisse in der Umfangbestimmung. Die Anzahl der geringfügigen Be- schäftigungsverhältnisse wird den Umfang der geringfügig Beschäftigten immer ü- bersteigen.

Beide Konzepte haben jeweils Vor- und Nachteile. Die angebotsorientierten Konzepte ermöglichen es einerseits, die Beschäftigten in sämtlichen Wirtschaftszweigen abzubilden und andererseits tiefgreifende Analysen im Haushaltskontext durchzuführen.69 Durch die nachfrageorientierten Konzepte können betriebliche Aussagen getroffen werden, wie z.B. zur Veränderung von Lohnnebenkosten oder der Einbeziehung der Sozialversicherungspflicht.70 Kleinbetriebe, freie Berufe und Privathaushalte sind in den betrieblichen Datenquellen hingegen meist untererfasst.

Da der Fokus dieser Arbeit auf die Person gerichtet ist, werden vornehmlich die Angebotsorientierten Messkonzepte näher untersucht.

4.1.1 Angebotsorientierte Messkonzepte

Mikrozensus

In der amtlichen Statistik wurde die geringfügige Beschäftigung bis 1999 hauptsäch- lich über den Mikrozensus geschätzt. Der Mikrozensus ist eine jährliche Erhebung des Statistischen Bundesamtes, die seit 1957 (seit 1991 in den neuen Bundeslän- dern) bei den privaten Haushalten der Bundesrepublik als eine 1%-Stichprobe durchgeführt wird.71 Sie gilt als eine der grundlegendsten Datenquellen der Erwerbs- statistik, deren Teilnahme für die ausgewählten Haushalte verpflichtend ist. Daher erzielt der Mikrozensus eine im Vergleich zu anderen Umfragedaten geringere Aus- fallquote von zuletzt 6% (2005). Die Anpassung und Hochrechnung erfolgt auf Basis der laufenden Bevölkerungsfortschreibung der Volkszählung von 1987.72

Bis 1990 wurde im Mikrozensus der Umfang der geringfügig Beschäftigten im Rah- men der Leitfragen für die Erwerbstätigkeit geschätzt.73 Erst ab 1990 wurde im Mik- rozensus explizit eine Frage nach geringfügiger Beschäftigung gestellt. 1996 wurde die Fragestellung erweitert, um u.a. die kurzfristig Beschäftigten besser zu erfas- sen.74

Bevölkerungsumfrage der ISG

Das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) wurde vom Bundesmi- nisterium für Arbeit und Sozialordnung 1987 beauftragt, mit repräsentativen Bevölke- rungsumfragen im Fünfjahresrhythmus, Umfang und Struktur der geringfügig Be- schäftigten zu analysieren.75 Die ISG-Umfragen sind speziell für die geringfügigen Beschäftigten entwickelt worden und erfassen sie indirekt durch einen ausführlichen Katalog an Tätigkeiten.76 Dadurch sollte eine vollständige Erfassung der geringfügi- gen Beschäftigten erreicht werden, mit Einbeziehung von Missbrauchsfällen und Schwarzarbeit.77

Das von der Wissenschaft häufig genutzte nicht amtliche sozio-ökonomische Panel (SOEP) liefert seit 1984 Daten über die Erwerbstätigkeit in Deutschland. Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland, die im jährlichen Rhythmus bei denselben Personen durchgeführt wird. Es gibt keine Auskunftspflicht der befragten Personen und Haushalte. Vor diesem Hintergrund ist die Stabilität des Panels relativ hoch. 1984 beteiligten sich im SOEP-West 5921 Haushalte mit 12290 erfolgreich befragten Personen an der Erhebung; nach 21 Wel- len im Jahre 2004 sind es noch 3724 Haushalte mit 6811 Personen.78 Im SOEP wer- den neben der Frage zur geringfügigen Beschäftigung auch Fragen zur Sozialversi- cherungspflicht und die für geringfügig Beschäftigten typischen Tätigkeiten gestellt.

[...]


1 Vgl. Minijob-Zentrale (2006), S. 6, Statistisches Bundesamt (2006c), eigene Berechnung.

2 Vgl. Tabelle 3: Arithmetisches Mittel aus SOEP, ISG und Mikrozensus.

3 BGBl I (1999), S. 388.

4 BGBl I (2002), S. 4621 ff.

5 Vgl. Abschnitt 4.

6 Vgl. Hoffmann/Walwei (2002), S. 136f.

7 Vgl. ebd. S., 137, Alte Bundesländer.

8 Vgl. Bach u.a. (2005), S. 1.

9 Vgl. Reichwald/Möslein (1995), S 6, Daten für alte Bundesländer.

10 Statistisches Bundesamt (2005), S.77, eigene Berechnung.

11 Vgl. Mengen (2004),S. 38.

12 Vgl. Wanger (2006), S. 1.

13 Vgl. Baki u.a. (1999), S. 29.

14 Vgl. Wanger (2006), S. 2.

15 Vgl. Rudolph (1999), S. 2.

16 Vgl. Becker/Jörges-Süß (2002), S.124.

17 Rudolph (1999), diese Einteilung wurde ab der Reform der geringfügigen Beschäftigung zum 01.04.1999 verwendet, aus Vereinfachungsgründen wird diese Definition auch für Betrachtungen vor 1999 in Anspruch genommen.

18 Vgl. Rudolph (1999), S. 1f.

19 Vgl. Ochs (1999), S. 224.

20 Vgl. Rudolph (1998), S. 3ff, Ausnahmeregelung bei Arbeitslosenversicherung.

21 Vgl. Schüller (1999), S. 13.

22 Vgl. Heineck/Schwarze (2001), S. 2.

23 Vgl. Weinkopf (1997), S. 12f.

24 Vgl. Weinkopf (1997) S. 20: bei einer Untersuchung von Schwarze/Wagner gaben 40% der gering- fügigen Frauen an mehr zu arbeiten und bemessen einen eigen Rentenanspruch hohe Bedeutung zu, bei der ISG von 1997 haben 19% der Befragten ein Interesse an einer Einführung der Sozialversiche- rungspflicht.

25 Vgl. Wagner (1998).

26 Vgl. Ochs (1997), S. 647.

27 Vgl. Wagner (1998).

28 Vgl. Meinhardt u.a. (1997).

29 Vgl. Ochs (1997), S. 646.

30 Vgl. Wagner (1998).

31 Vgl. ebd.

32 BGBl. I (1999), S. 388.

33 Vgl. Rudolph (1999), S. 1.

34 Vgl. Heineck/Schwarze (2001), S. 2.

35 Vgl. Bundesregierung (2003), S. 2f.

36 Vgl. Mengen (2004), S. 63.

37 Vgl. Ochs (1999), S. 225.

38 Vgl. Abschnitt 7.4.

39 Vgl. Ochs (1999), S. 231.

40 Vgl. ebd., S. 231.

41 Vgl. Heineck/Schwarze (2001), S. 19; vgl. Ochs (1999), S. 231.

42 Die Schätzung der Bundesregierung sind nach eigenen Angaben vorsichtige Einschätzung unter Berücksichtigung von Sicherheitsabschlägen. Die späteren zusätzlichen Rentenansprüche würden sich auf 85 Mio. DM pro Jahr belaufen; vgl. Bundesregierung (1999), S. 4.

43 Vgl. Heineck/Schwarze (2001), S. 19; vgl. Ochs, S. 231.

44 Vgl. Heineck/Schwarze (2001), S. 5.

45 Vgl. Deutscher Bundestag (1999), S 1.

46 Vgl. Rudolph (1999), S. 3, vgl. Abschnitt 4.2.

47 Vgl. BDH (2001).

48 Fertig u.a. (2004) S. 16.

49 Vgl. ebd., S. 16.

50 Hummel (2004), S. 5, eigene Berechnung, Werte für September.

51 Hartz (2002), S. 41.

52 Vgl. ebd., S. 169f.

53 Vgl. Hartz (2002), S. 169f.

54 Vgl. BGBl l (2002), S. 4621ff.

55 Vgl. Rudolph (2003), S. 1ff.

56 Vgl. Bundesregierung (2003), S. 2.

57 Vgl. BMWI (2003), S. 26.

58 Vgl. Fertig u.a. (2004), S. 15.

59 Vgl. Bundesregierung (2003), S. 4.

60 Vgl. Fertig u.a. (2004), S. 15.

61 Vgl. Rudolph (2003), S. 5; vgl. Minijob-Zentrale (2003a), S. 7.

62 Vgl. Rudolph (2003), S. 5. Bei Berücksichtigung der Beitragsausfälle durch Midijobs würde sich der Einnahmenausfall um 195 Mio. Euro erhöhen.

63 Minijob-Zentrale (2003a), S. 7, Stand Juni 2003, Veränderung gegenüber 30.09.2002, eigene Be- rechnung.

64 Minijob-Zentrale (2003a), S. 10.

65 Vgl. Schupp u.a. (2004), S. 497.

66 Vgl. Weinkopf (1997), S.11.

67 Vgl. ebd., S. 11f.

68 Vgl. Rudolph (1998), S. 8.

69 Vgl. Schupp u.a. (1999), S. 98.

70 Vgl. Schüller (1999), S. 16.

71 Ab 2005 erfolgt eine gleichmäßige Erhebung über die Kalenderwochen. Vgl. Schmerbach (2005), S. 43.

72 Vgl. Statistisches Bundesamt (2006b), S. 4 u. 8.

73 Vgl. Schwarze (1992), S. 537.

74 Vgl. Rudolph (1998); S. 11.

75 Vgl. Weinkopf (1997),S. 11.

76 Vgl. Rudolph (1998), S. 13.

77 Vgl. Bundesregierung (1999).

78 DIW (2006).

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland und die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung
Untertitel
Eine wirtschaftspolitisch-statistische Analyse seit der Wiedervereinigung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Wettbewerbspolitik)
Note
1,1
Autor
Jahr
2006
Seiten
86
Katalognummer
V73320
ISBN (eBook)
9783638634847
ISBN (Buch)
9783656769057
Dateigröße
864 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entwicklung, Beschäftigung, Deutschland, Berücksichtigung, Arbeitsmarktreformen, Bundesregierung, Analyse, Wiedervereinigung
Arbeit zitieren
Robert Borm (Autor:in), 2006, Die Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung in Deutschland und die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73320

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