Gattungsmischung im Orendel - Eine Hybride zwischen Legende und Brautwerbung


Seminararbeit, 2007

18 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1 Orendel – Eine Dichtung ohne Grundsatz?

2 Gattungsbruch vs. Gattungsmischung
2. a Zur generellen Problematik der Hybridität
2. b Zur Hybridität der Orendeldichtung

3 Orendel im Spannungsfeld profanen und sakralen Erzählens
3. a Strukturelle Analyse des Verhältnisses von legendarischen und brautwerberischen Motiven
3. b Funktion und Funktionalisierung der heterogenen Motive

4 Ästhetik und Kohärenz der Gattungsmischung

Anhang
I Literaturverzeichnis
I. a Primärliteratur
I. b Sekundärliteratur
II Selbständigkeitserklärung

1 Orendel – Eine Dichtung ohne Grundsatz?

Hans Steinger bezeichnete 1935 den Orendel als „eine Dichtung ohne Grundsatz“, die „jeder künstlerischen Zielstrebigkeit Hohn“[1] spräche. Die gesamte ältere literaturwissenschaftliche Forschung reproduzierte diese Auffassung der planlosen, lediglich additiven Konzeption des Orendel. Als so genanntes Spielmannsepos – und somit als Sammelsurium heterogener Motive - wurde ihm jegliche Kohärenz sowohl des Inhalts als auch der Form abgesprochen.

Erst in den letzten 5 bis 15 Jahren fragt die Forschung nach der sinnkonstituierenden Funktion der verschiedenen narrativen Traditionen und den damit verbundenen vermeintlichen Gattungsbrüchen. Durch die nunmehr stärkere Betonung der integrierenden Kraft des Orendel erscheint die Überschreitung der klassischen Gattungsgrenzen nicht länger als willkürliche. Man hat erkannt, dass starres Gattungs- und Schemadenken den Blick für die Geschlossenheit des Werks, über die in jüngster Zeit Konsens herrscht, verstellte.

Obwohl die Verschmelzung von weltlichen und geistlichen Erzähltraditionen im Orendel als ästhetisch anspruchsvolles Stilisationsprinzip nicht länger in Frage gestellt wird, bestehen dennoch diverse Meinungen zum Stellenwert der einzelnen Motive innerhalb des übergreifenden Sinnzusammenhangs. Nach einer allgemeinen Betrachtung zur Problematik der Gattungsmischung oder Hybridität sollen die verschiedenen, teilweise antagonistischen Deutungsperspektiven in der Forschung zum Orendel anhand einer eingehenderen strukturellen Textanalyse kritisch geprüft und das Verhältnis der profanen und sakralen Erzählmomente herausgestellt werden. Die anschließende Untersuchung der Funktionen der Gattungsschemata soll die Interpretation des Orendel als organische sowie dynamische Hybride stützen.

2 Gattungsbruch vs. Gattungsmischung

2. a Zur generellen Problematik der Hybridität

Die vermeintliche Lösung der älteren Forschung, Texte, die sich in keine Gattungstypologie einordnen lassen, gänzlich zu vernachlässigen oder ihnen den Status von zweckfreien Gattungsbrüchen zuzuweisen, ist dem neuerlichen Bewusstsein für Gattungsmischung oder hybride Konstruktionen gewichen. Unter dem Blickwinkel, dass in fast jeder Gattung in ihrer Genese irgendwann eine Gattungsmischung vorkam und diese Hybride vielleicht sogar selbst eine neue Gattung konstituierte, lässt derartige Typologien im Allgemeinen fragwürdig erscheinen.

Vielfach wurde der Roman als hybride Konstruktion u. a. von Stierle[2], Bachtin[3] und – in Hinblick auf seine Interferenzen mit der Legende - von Wehrli[4] und Wyss[5] untersucht.

Der Begriff der hybriden Konstruktion, der maßgeblich von Bachtin im Kontext der Redevielfalt im Roman herausgestellt wurde, wird von ihm folgendermaßen definiert:

„Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber [...] zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen. Zwischen diesen [...] Horizonten gibt es [...] keine formale [...] Grenze [...].“[6]

Es wird hierbei die Ganzheitlichkeit betont, in der ein Ereignis zwischen zwei oder gar mehreren Sinn- und Wertungshorizonten stehen kann, „die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und [es] hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente [...].“[7]

Offenbar heterogene literarische Traditionen bzw. Motive verbinden sich also zu einem künstlerischen System und ordnen sich der höheren stilistischen Einheit des Ganzen unter. In diesem Kontext kann man von der „Orchestrierung“[8] der Themen und Intentionen eines Werks sprechen, wobei man dessen Sinn nicht versteht, wenn man die zweite Schicht der Akzente des Autors nicht wahrnimmt. Das Verschmelzen diverser narrativer Elemente, ihre organische Integration, ihre „innere Dialogizität“[9] erscheint als eine sehr produktive Erzählstrategie, da so ein freierer, schöpferischer Umgang mit dem Erzählmaterial möglich ist, mit dem auch eine Umakzentuierung der verschiedenen Funktionen dieser Momente einhergeht. Die Konvergenz idealtypischer Formen bewirkt zwar ein Anwachsen der strukturellen Komplexität eines Werkes und führt die Tendenz zum Aufbrechen der Stabilität einer Gattung mit sich, bewirkt aber keine bloße Formauflösung, sondern bringt eine neue dialektische Form hervor[10]. Die Überschreitung gesetzter Gattungsgrenzen erzeugt also eine narrative Synthese, die durch die fruchtbare wechselseitige Durchdringung im Allgemeinen zu einer Bereicherung, Überhöhung, inneren Dynamik und neuen funktionalen Leistungen führt.

Wie in der von Stierle untersuchten Mischung von chanson de geste und Artusroman im Spätmittelalter, die den Ursprung des modernen Romans bildet, steigert auch die Gattungsmischung im Orendel das erzählerische Potenzial und konstituiert einen übergreifenden Sinnzusammenhang.

2. b Zur Hybridität der Orendeldichtung

Im Orendel vermischen oder vielmehr verwachsen traditionelle literarische Momente von Brautwerbung, Legende mit Reliquientranslationsbericht, Heldenepik sowie Kreuzfahrerdichtung und Genealogie miteinander, wobei Brautwerbungs- und Legendenhandlung in einem fast symbiotischen Sinn dominant erscheinen.

Wehrli betonte, dass die Legende vielgestaltig und wandelbar ist, dass es keine weltliterarischen Motive gibt, die nicht auch in der Legende erschienen sind[11]. Sie griff im Laufe ihrer Gattungsgeschichte weit aus in die verschiedensten ideellen und stofflichen Bereiche. Wyss bezeichnete die Legende demnach sogar als „Geburtshelfer des Romans“[12]. Die Legende, die an sich eigentlich ein Kurztext ist, bietet sich demnach zur Erzählerweiterung an. Sie eignete sich weitere narrative Mittel und damit auch deren Ästhetik an. Beispielsweise wurde das Legendenthema mit einer Liebesgeschichte verknüpft und so psychologisiert als auch ästhetisiert[13], was durchaus auch seine Parallelen im Orendel findet und auf ihn zutrifft. Diese Öffnung der Legende bedeutet aber keine bloße Motivanleihe, vielmehr nutzt die Legendenstruktur im Orendel beispielsweise die Erzählmuster von Brauwerbung, Genealogie usw. und erzeugt so einen komplexen Text aus sich selbst, wobei die motivische Primäre aufgrund der engen Verbindung kaum mehr festlegbar ist[14]. Das Orendel-Epos zeigt also in seiner hybriden Form exemplarisch, wie die Gattungsgrenzen und speziell eben auch die Grenzen der Legende überschritten wurden und sich aus dieser Spannung zwischen profanem und sakralem Erzählen eine eigene innere Dynamik entwickelte.

3 Orendel im Spannungsfeld profanen und sakralen Erzählens

3. a Strukturelle Analyse des Verhältnisses von legendarischen und braut- werberischen Motiven

Nach einem gebetsartigen Prolog des unbekannten Verfassers, der einstimmt auf die folgende religiöse Thematik, setzt der Orendel explizit mit der Genealogie des Grauen Rockes Christi, der wichtigsten Herrenreliquie, ein: Nu wil ich mir selber beginnen von dem grawen rocke singen (V. 19f). Die Passagen bis Vers 157 dienen fast ausschließlich der Genese der tunica inconsutilis domini. Es wird von der Fertigung der Primärreliquie durch Maria und Helena und dem Martyrium Christi darin berichtet, des Leidensgewandes Christi unwürdige Träger werden genannt, wodurch der Bereich legendarischen Erzählens aufgerufen wird. Schließlich endet die Genealogie des Rockes zunächst, indem ein Walfisch den Rock verschlingt. Obwohl der Anfang des Orendel exponiert durch die Genealogie des Rockes, einer Genealogie der Dinge, den Beginn eines Reliquientranslationsberichtes darstellt, wird bereits hier schlaglichtartig auf die danach einsetzende Brautwerbung verwiesen und so vorbereitet. Beispielsweise wird völlig unvermittelt mit sit quam er dem kunige Orendel zu droste (V. 39) der noch nicht eingeführte Protagonist Orendel angesprochen und durch den Hinweis auf sein Dasein als König auch die Brautwerbungsproblematik erhellt. Gantert spitzt die Hypothese noch zu, indem er im Pilger Tragemunt den deutlichsten Hinweis darauf erkennt. Er sieht in Tragemunt die feste Handlungsrolle des Kundigen, aufgrund seines Namens und der formelhaften Einführung als waller, dem 72 Königreiche kund sind (V. 111ff), realisiert[15]. Es zeigen sich demnach bereits hier deutliche Interferenzen der diversen literarischen Gattungen.

Es folgt eine starke Zäsur, welche die Genealogie des Rockes zunächst in den Hintergrund rücken und die gefährliche Brautwerbungshandlung endgültig beginnen lässt. Die Brautwerbungsgeschichte setzt auf den ersten Blick recht schemakonform ein und handelt einige überindividuelle Merkmale dieser Gattung, wie sie Schmid-Cadalbert[16] herausstellte, ab: Der junge Trierer Königssohn Orendel, der handlungsinitiierend eine Braut sucht, wird in seinem Herrschaftsbereich vorgestellt, es folgt die Ratsszene beim Vater Ougel mit einem deutlichen Verweis auf das obligatorische Exogamiegebot sowie die Schönheit und Schwererringbarkeit der Braut, die der dreiteiligen Raumstruktur des Brautwerbungsschemas folgend nur über das Meer zu erreichen ist. Schließlich beginnen sogleich die Reisevorkehrungen und Orendel macht sich geschmückt mit allen Zeichen seiner weltlichen Macht auf die Fahrt. In diesem stark brautwerberisch geprägten Teil des Epos gibt es allerdings einige bedeutsame Schemamodifikationen. Es rücken – umgekehrt zu den genealogischen Anfangspassagen – viele legendarische Elemente in den Brautwerbungsteil hinein, überformen und funktionalisieren ihn: Das Ziel der Brautwerbung, nämlich die genealogische Sicherung von Herrschaft im klassischen Sinne, scheint von Beginn an in Frage gestellt, da Orendel nicht der älteste Königssohn ist. Allerdings muss man dies aufgrund der unsicheren Überlieferungslage des Orendel differenziert betrachten: Setzt man eine Entstehung um 1200 an, so bestünde für Orendel als drittem Sohn kein herrscherliches Problem; wenn man allerdings – wofür die einzigen überlieferten Drucke sprechen – von einer Textkonstitution im 16. Jahrhundert, in welchem das Primogeniturrecht galt, ausgeht, wäre die Herrschaftslegitimation problematisch. Davon abgesehen, zeigen sich aber noch zahlreiche legendarisch gefärbte Abweichungen vom Brautwerbungsschema: Gantert thematisiert das auffällige, aber zweifellos nicht zufällig gewählte Datum von Orendels Schwertleite am St. Stephanstag, also am 26. Dezember. In keinem anderen Kontext sei eine Schwertleite im Winter überliefert und ein „Hinweis auf das Schicksal der Reliquien des heiligen Stephans, vor allem auf deren Translationsgeschichte ist somit offensichtlich beabsichtigt.“[17] Nach der Schwertleite erfolgt Orendels Gebet zu Maria, in dem er darum bittet ein guder ritter und ein rehter rihter (V. 188) zu werden, wodurch also auch hier vordergründig religiöse Tugenden artikuliert werden. Die Ratsszene beim Vater verstärkt die legendarische Durchdringung der Brautwerbung nochmals, da die auserwählte Bride Herrscherin über das Heilige Grab zu Jerusalem ist. Brides Person ist also dialektisch angelegt; sie ist sowohl in brautwerberischer als auch in legendarischer Ebene die beste Braut für Orendel. Das Legendenhafte der Ratsszene gipfelt schließlich in den Worten des Vaters, welcher zu seinem Sohn meint: dune soltest dinen lip und ouch dine sele oppern dem heiligen grabe unsers heren (V. 230). Orendel nimmt daz ellende (V. 233) auch bereitwillig an, stellt Leib und Seele in den Dienst des Heiligen Grabes und zeichnet so seinen Werdegang der Heiligung schon vor. Schließlich gibt Orendel beim Werben um Gefährten als Ziel seiner Reise die Sicherung des Heiligen Grabes an, spricht gar nicht von der eigentlichen Brautwerbung, betont aber die Gefährlichkeit der Seefahrt, was erzählstrategisch sowohl der gefährlichen Brautwerbung als auch hinsichtlich der Heidengefahr am Heiligen Grab einer gewissen Kreuzfahrermotivik wie zusätzlich der Legende dient. Dass sich bei Orendels Aufruf zur Schifffahrt zweimal niemand freiwillig meldet und er schließlich die Gefolgstreue erkaufen muss, zeugt zusätzlich von der Gefährlichkeit des Unternehmens.

[...]


[1] Steinger 1935, S. XXVII.

[2] Vgl. Stierle 1980, S. 253-313.

[3] Vgl. Bachtin 1979, S. 154-300.

[4] Vgl. Wehrli 1961, S. 428-443.

[5] Vgl. Wyss 1984, S. 41- 60.

[6] Bachtin 1979, S. 195.

[7] Ebd. S. 195.

[8] Ebd. S. 183.

[9] Ebd. S. 162.

[10] Vgl. Stierle 1980, S. 258ff.

[11] Vgl. Wehrli 1961, S. 432.

[12] Wyss 1984, S. 50.

[13] Vgl. Ebd. S. 53.

[14] Vgl. Wehrli 1961, S. 433.

[15] Vgl. Gantert 1999, S. 129.

[16] Vgl. Schmid-Cadalbert 1985, S. 80-93.

[17] Gantert 1999, S. 132.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Gattungsmischung im Orendel - Eine Hybride zwischen Legende und Brautwerbung
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Germanistik )
Veranstaltung
Seminar: Orendel, der graue Rock
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
18
Katalognummer
V73292
ISBN (eBook)
9783638740951
Dateigröße
395 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich mit dem sog. Spielmannsepos "Orendel" und dessen hybrider Gestalt in Form von Gattungsmischung. Zunächst wird der Begriff der Hybride (anhand der Arbeiten von Bachtin, Stierle, Wehrli und Wyss)geklärt, um dann in einem Textdurchgang die Konstitution des Orendel-Epos als Hybride von v. a. Brautwerbung und Legende herauszustellen. Anschließend werden die Funktionen der heerogenen Motive bestimmt und in einer Gesamtinterpretation dargestellt.
Schlagworte
Gattungsmischung, Orendel, Eine, Hybride, Legende, Brautwerbung, Seminar, Orendel, Rock
Arbeit zitieren
Anne-Katrin Otto (Autor:in), 2007, Gattungsmischung im Orendel - Eine Hybride zwischen Legende und Brautwerbung , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73292

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