Das kinematographische Dispositiv Baudrys - Aufbau, Wirkung und Kritik


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

30 Seiten, Note: 2.1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Prolog

I. Verortung

II. Das kinematographische Dispositiv
II.I Prämisse I: Das Kino und die Höhle
II.II Prämisse II: Das Kino und der Traum
II.III Konklusion: Das Kino und der Mensch
II.IV Errata

III Introire Matrix

Epilog

Prolog

Jean-Louis Baudrys Essay „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“[i] bringt die voneinander getrennten Aspekte des kinemato­graphischen Apparates unter dem Terminus „Dispositiv“ zusammen und vergleicht dieses mit analogen Dispositiven. Dabei bewegt er sich thematisch zwischen Platons Höhlengleichnis und Freuds Traumforschung und zeigt auf, dass das Medium Kino eine unbewusste und bis dahin unerforschte psychische Wirkung auf den Menschen hat.

Diesen psychischen Effekt des Kinos, seine Herleitung und seine Auswirkungen zur Diskussion zu stellen, ist Aufgabe dieser Ausarbeitung. Zunächst wird dafür die Theorie Baudrys in den historischen Kontext der Filmtheorie eingeordnet und in einem weiteren Schritt analysiert. Der Abschluss der Ausarbeitung wird durch die Kritik der Theorie geformt. Als Versuch der Demontage dient auch der Film „The Matrix“, der Baudrys Ansichten inhaltlich thematisiert und unbewusste Effekte so dem Bewusstsein offen legt.

I. Verortung

Kernfrage der Filmtheorie. Verfechter des filmischen Realismus. Fokussierung auf das Subjekt. Baudry im Kontext der filmtheoretischen Entwicklung.

Die Filmtheorie ist – dem Schöpfungszeitpunkt des Mediums entsprechend – eine relativ junge wissenschaftliche Disziplin. Die Fragen indess, deren Klärung sich die Filmtheorie zuvorderst widmet, sind Varianten uralter philosophischer Gedankengänge. Sie führen den Leser in die tiefsten Tiefen des antiken Kaninchenbau Platons und konfrontieren ihn dort mit dem ursprünglichsten seiner selbst: dem Grenzstein zwischen dem Ich und der Außenwelt, der eigenen Wahrnehmung. Jede Filmtheorie, die sich nicht ausschließlich deskriptiv mit der Wiedergabe von Filminhalten beschäftigt, ist immer auch menschliche Wahrnehmungslehre. Jean-Louis Baudry wird dies im Sinn gehabt haben, als er den ersten Satz seines Essays „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks.“ niederschrieb: „Es geht immer noch um die Szene der Höhle: ob Wirkung des Realen oder Realitätseindruck. Ob Kopie, Abbild oder gar Abbild des Abbilds. Realitätseindruck oder Reales, Mehr-als-Reales?“[ii] Der Ausblick, oder besser: Rückblick, den Baudry an den Anfang seiner Überlegungen setzt, betrifft nicht allein die Filmwissenschaft; er betrifft jede Form von Kunsttheorie. Wer über Kunst sinniert, kann der Frage nach ihrem Bezug zur Realität nur schwerlich ausweichen. In besonderem Maße trifft dies auf die Kunstformen Film und Fotographie zu. Ein unbearbeitetes Foto, ebenso wie ein kinematographisches Einzelbild, zeigt einen vergangenen Ausschnitt der Realität, indem es die Spuren gegebenen Lichtes chemisch konserviert und in das Trägermaterial des Rohfilms einschreibt. So verstanden sind Filmbilder Abdrücke eines Segments der Realität, die ihre Referenz mit sich führen.[iii] Der Film scheint wie kein anderes Medium prädestiniert, die objektive Darstellung der Wirklichkeit zu garantieren. Als sei dem Kinobesucher vom Kinobesitzer die Wahrnehmung der Wahrnehmung der Realität ohne Übertragungsverluste verbürgt.

Ganz so ideal indes funktioniert die menschliche Wahrnehmung im Kino dann allerdings doch nicht. Was der Kinobesucher mit dem Kauf seiner Eintrittskarte tatsächlich erwirbt und wie er den ihm dargebotenen Eindruck eines Realitätseindrucks psychisch verarbeitet, dieses zu klären bemüht sich Baudry in seinem Aufsatz. Um die Neuartigkeit des baudryschen Ansatzes herauszustellen, zu würdigen und zu kritisieren, sei ein kurzer Exkurs in die Film- und Kinotheorie anhand zweier Theoretiker gegeben, von denen sich Baudry radikal abgrenzen lässt.

Die Kinotheorie bis Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich im Gros mit Filminhalten, den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Bearbeitung filmischen Materials wie Schnitt- und Perspektivtechniken und bezüglich der Wahrnehmung von Filmen auch mit der Bedeutung der Kamera und ihrer Realitätsabbildungsfunktion. Ein Verfechter des filmischen Realismus ist Siegfried Kracauer. Seine Theorie versteht den Film als Erweiterung, Perfektionierung oder Vollendung der Fotographie, wodurch „diesem Medium eine ausgesprochene Affinität zur sichtbaren Welt um uns her“[iv] gegeben sei. Aufgrund dieser angenommenen Verknüpfung von Film und Wirklichkeit sei es die vorrangige Aufgabe des Mediums, die physische Welt abzubilden und die ihr immanenten Tatsachen zu enthüllen. Zum entscheidenden Kriterium der ästhetischen Qualität eines Films wird somit sein Realismus. Schnitt-, Licht- und Tricktechnik seien dabei nur akzeptable Mittel der Bearbeitung filmischen Materials, sofern sie der Erschaffung einer getreuen Wirklichkeitsillusion und nicht dem Vollzug einer realitätsmodifizierenden Idee des Künstlers hinter der Kamera dienlich sind; „Filme [müssen] wirklich zeigen, was sie zeigen“.[v]

Bezüglich anderer Kunstformen sei es dem Film eigen, „die Realität von unten nach oben“[vi] zu erfassen. Primär sei die Wiedergabe der physischen Realität, die der Film ungeschönt und künstlerisch unbearbeitet dem Zuschauer präsentiert, woraufhin sich als sekundärer Schritt eine Idee beim Rezipienten manifestieren kann. Sonstige Kunstformen, mit Ausnahme der Fotographie, beschreiten den entgegengesetzten Weg;

primär ist die Idee des Künstlers, die sich beim Betrachter sekundär zur Realität entfaltet. Kracauers Theorie zu Folge dominiert das Medium Film seine Verwendungsweise dahingehend, dass es die getreue Wiedergabe der physischen Welt geradezu paradigmatisch fordert. Deshalb kann Kracauer die Verwendung von Kunst im Film als reaktionäres, mit dem Medium inkompatibles Handeln geißeln.[vii]

Auch Andre Bazin stellt die realistischen Tendenzen von Fotographien und Filmen in den Vordergrund seiner Theorie. Die Kamera fungiere als „teilnahmelose Linse, [welche] die Kraft hat, Wirklichkeiten offen zu legen.“[viii] Konsequenz ihrer Teilnahmslosigkeit, so die Theorie, sei die vollendete, nahezu perfekte Illusion; die Kamera schaffe „ein von der Freiheit der Interpretation seitens des Künstlers und der Unumkehrbarkeit der Zeit unbelastetes Bild“[ix]. Für Bazin verwirklicht die Erfindung des Kinos einen uralten Mythos, dessen Anfang sich in Platons Höhle findet. Es ist dies der Mythos eines illusionären, aber dennoch totalen Realismus durch Repräsentationsformen der Kunst. Der Zuschauer könne im Kino dem totalen Realismus des Mediums insbesondere deshalb gewahr werden, weil die perspektivische Konstruktion des Filmbildes die visuelle Raumwahrnehmung des Menschen geometrisch präzise und damit objektiv imitiere.

Sowohl Kracauer als auch Bazin, die hier stellvertretend für die filmtheoretische Strömung des Realismus stehen – jener Strömung, die den Diskurs bis Ende der ´60er Jahre weitgehend beherrscht – richten ihr Hauptaugenmerk auf die realitätsabbildende Kraft der Kamera. Die Dimension ihrer Theorie entfaltet sich – wenn man es so nennen möchte – zwischen Objektiv und Objektivität. Der Antagonist zur Objektivität, das Subjekt, wird dagegen nicht in den Fokus der Untersuchung gerückt: Der Adressat der Illusion bleibt unbeachtet.

Erst zu Beginn der ´70er Jahre des 20. Jahrhunderts entdecken französische Theoretiker den Zuschauer als maßgeblich am Komplex Film und Kino Beteiligten. Die endgültige Etablierung des subjektbezogenen Forschungsansatzes als neues Paradigma der Filmtheorie erfolgt durch die Schriften Christian Metz’.[x] Im Geiste der strukturalen Linguistik Ferdinand de Saussures hat Metz bereits in den Jahren zuvor an einer

Semiologie des Films gearbeitet, die das Medium als komplexes Zeichensystem zu analysieren versucht. Mitte der ´70er Jahre des 20. Jahrhunderts folgt Metz dem Ruf der französischen Linken, die eine politische Relevanz der Theorie und eine Beschäftigung mit ideologischer Einflussnahme von Filmen fordern, welche durch eine rein semiotisch orientierte Theorie nicht zu erreichen ist. Fortan tritt die Analyse von Filmen, als formale und ästhetische Konstrukte, in den Hintergrund und gibt den Raum frei für die Beschäftigung mit dem Gesamtapparat Kino und der Positionierung des Subjektes in selbigem. Die Hinwendung zum Subjekt bringt die Psychoanalyse Freuds und seiner Nachfolger in den Diskurs ein. Zunächst bildet die Psychoanalyse aber nur das Passepartout der Theorie, als Rahmen fungiert die Ideologiekritik. Sie ist der zentrale Gegenstand der Filmtheorie nach 1969.

Maßgeblicher Grund der Fokusverschiebung sind die Arbeiten Mercelins Pleynets, der nicht nur die Inhalte, der mit der Kinotechnik produzierten Filme, als ideologietragend verdächtigt, sondern bereits dem Medium selbst seine Neutralität abspricht: „Die Kinomaschinerie ist eine vollständig ideologische Maschine. […] Bevor sie einen Film produziert, produziert die technische Konstruktion der Kamera bürgerliche Ideologie.“[xi] Jean-Louis Baudry konkretisiert diese Überlegungen, indem er den kinematographischen Basisapparat, also das Gesamtinstrumentarium von Kino und Film, auf die Konstruktion der Perspektive hin untersucht. Filme seien auf einen bestimmten Raumcode, die Zentralperspektive, festgeschrieben und verorten den Rezipienten in einer Position, die mathematisch konstruiert sei und nicht seinem faktischen psychologischen Raumeindruck entspräche, von ihm aber als eben jener fehlinterpretiert werde.[xii] Hierdurch werde, so Baudry, beim Betrachter ein ideologischer Effekt ausgelöst. Baudry erweitert den Ansatz Pleynets noch durch eine Analogie von psychischem und kinematographischen Apparat[xiii]: Die Ideologie des Kinos entspräche dem Unbewussten des Menschen in der Hinsicht, dass sie ihre Wirkung nur entfalten könne, wenn sie im Dunkeln bliebe, wenn sie sich der Analyse und dem Verständnis, wenn sie sich ihrer Entdeckung entziehen könne.

In die Forschungsliteratur ist dieser Ansatz als Apparatustheorie eingegangen. Führende Theoretiker wie der Psychoanalytiker Jacques Lacan und der Philosoph Louise Althusser konzentrieren ihre Arbeit auch auf die Gesamtapparatur Kino und die konnotative Dimension des Mediums, um der unbewussten Effekte, die das Kino auf den Zuschauer ausübt, habhaft werden zu können. Im Verlauf der Debatte um die Apparatustheorie tritt dabei die politisch motivierte Zielsetzung, die die Demaskierung verborgener Ideologie anstrebt, immer mehr in den Hintergrund und die rein psychoanalytische in das Zentrum der Betrachtung; Passepartout und Rahmen der Theorie tauschen die Plätze. Bereits Baudrys Aufsatz „Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks.“ aus dem Jahr 1975 ignoriert jegliche Ideologiekritik und widmet sich ganz der Untersuchung psychologischer Mechanismen, wodurch der Text der damals jungen Strömung der „psychoanalytischen Filmtheorie“ zuzurechnen ist. Schriften dieser Strömung bemühen sich um die Auffindung von Analogien zwischen dem Kino und der Psychoanalyse, um mit dieser Methode die verborgenen Wirkungen des Kinobesuches auf den Zuschauer aufspüren, benennen und bewerten zu können. So auch Baudry.

[...]


[i] Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell u.a. (Hrsg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart 1999. (fortan: Baudry)

[ii] Baudry Seite 381

[iii] Couchot, Edmont: Die Spiele des Realen und Virtuellen. In: Florian Rötzer (Hrsg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt 1991. Seite 345-355.

[iv] Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Zur Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1964. Seite 11 (fortan: Kracauer)

[v] Kracauer Seite 389

[vi] Thal, Ortwin: Realismus und Fiktion. Literatur- und filmtheoretische Beiträge von Adorno, Lukács, Krakauer und Bazin. Dortmund 1985. Seite 146 (fortan: Thal)

[vii] Thal Seite 391

[viii] zitiert nach: Friedberg, Anne: Window shopping. Cinema and the postmodern. Berkley, Los Angeles 1994. Seite 130.

[ix] Bazin, André: The myth of total cinema. In: Ders.: What is cinema? London, Los Angeles 1967. Seite 21

[x] Die gesammelten Aufsätze finden sich in: Metz, Christian: Le signifiant imaginaire – Psychoanalyse et cinéma. Paris 1977. (fortan: Metz)

[xi] Pleynet, Marcelin zitiert nach: Winkler, Hartmut: Der filmische Raum und der Zuschauer. Apparatus, Semantik, Ideologie. Heidelberg 1992. Seite 20-22

[xii] siehe dazu auch: Krämer, Sybille: Vom Trugbild zum Topos. Über fiktive Realitäten. In: Stefan Iglhaut, Florian Rötzer, Elisabeth Schweeger (Hrsg.): Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Ostfildern 1995. Seite 130-137.

[xiii] Baudry, Jean-Louis: Cinemá. Effets idéologiques produit par l’appareil de base. In englischer Übersetzung: Rosen, Philip(Hrsg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A film theory reader. New York 1986. Seite 288-298.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Das kinematographische Dispositiv Baudrys - Aufbau, Wirkung und Kritik
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Germanisitk)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
2.1
Autor
Jahr
2007
Seiten
30
Katalognummer
V73164
ISBN (eBook)
9783638881739
ISBN (Buch)
9783640319534
Dateigröße
456 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Hausarbeit beschätigt sich mit dem kinematographischen Dispositiv Baudrys. Es wird eine Einordnung in den historischen Kontext der Filmkritik unternommen. Anschließend wird die Theorie Baudrys ausführlich vorgestellt, analysiert und kritisiert. Den Abschluß der Arbeit bildet eine Anwendung der Theorie auf den Kinofilm "The Matrix", der zahlreiche Elemente der Theorie sichtbar macht.
Schlagworte
Dispositiv, Baudrys, Aufbau, Wirkung, Kritik, Hauptseminar, Baudry, Kino
Arbeit zitieren
Maik Lehmkuhl (Autor:in), 2007, Das kinematographische Dispositiv Baudrys - Aufbau, Wirkung und Kritik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73164

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