Toxikologie - Todsicher ein Thema für den Chemieunterricht


Examensarbeit, 2004

200 Seiten, Note: 1


Leseprobe


0 Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Allgemeines
2.1.1 Toxikologie – eine Definition
2.1.2 Gift – eine Annäherung
2.1.3 Aufgaben der Toxikologie
2.1.4 Quellen der toxikologischen Erkenntnis
2.1.5 Häufigkeit von Vergiftungen und Vergiftungsmöglichkeiten
2.2 Toxikokinetik
2.2.1 Invasion
2.2.1.1 Liberation
2.2.1.2 Resorption
2.2.1.2.1 Eintrittspforten
2.2.1.2.2 Resorptionsmechanismen
2.2.1.2.3 Einflussfaktoren
2.2.1.2.4 Resorptionsmodelle
2.2.2 Distribution
2.2.3 Evasion
2.2.3.1 Exkretion
2.2.3.2 Biotransformation
2.2.3.2.1 Phase-I-Reaktionen
2.2.3.2.2 Phase-II-Reaktionen
2.2.3.2.3 Biotransformation von Acetylsalicylsäure
2.2.3.2.4 Beeinflussung der Biotransformation
2.2.3.2.5 Entgiftung und Giftung
2.3 Toxikodynamik
2.3.1 Einteilung toxischer Wirkungen
2.3.2 Auswirkungen von Mischintoxikationen
2.3.3 Wirkungsmechanismen von Giften
2.3.4 Zusammenfassung toxischer Wirkungen
2.4 Therapie der Vergiftungen
2.4.1 Allgemeines Vorgehen
2.4.2 Primäre Giftentfernung
2.4.2.1 Vergiftung durch Inhalation
2.4.2.2 Vergiftung durch Hautkontamination
2.4.2.3 Orale Vergiftung
2.4.2.3.1 Induzierte Emesis
2.4.2.3.2 Magenspülung
2.4.2.3.3 Adsorbentien
2.4.2.3.4 Forcierte Diarrhö
2.4.2.3.5 Ortho- und anterograde Darmspülung
2.4.2.3.6 Lokalantidote
2.4.3 Sekundäre Giftentfernung
2.4.3.1 Hyperventilation
2.4.3.2 Forcierte Diurese
2.4.3.3 Hämodialyse
2.4.3.4 Hämofiltration
2.4.3.5 Hämodiafiltration
2.4.3.6 Hämoperfusion
2.4.3.7 Plasmapherese
2.4.3.8 Plasmaperfusion
2.4.3.9 Austauschtransfusion
2.4.3.10 Peritonealdialyse
2.4.3.11 Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs
2.4.4 Antidote

3 Fachdidaktischer Teil
3.1 Toxikologie im Chemieunterricht – Pro und Kontra
3.2 Fachdidaktischer Kommentar zu den Experimenten
3.2 Einordnung in den Lehrplan des Landes Hessen

4 Experimenteller Teil
4.1 Grundlagen der Toxikologie
4.1.1 Herstellung von Nähragarplatten
4.1.2 Hemmung des Wachstums von Milchsäurebakterien auf Nähragarplatten (verändert nach [126, S. 67-69, 14])
4.1.3 Hemmung des Wachstums von Milchsäurebakterien in einer Nährlösung in Abhängigkeit von der Konzentration (verändert nach [126, S. 146-148])
4.2 Toxikokinetik
4.2.1 Herstellung der 1-Dodecanol-Collodium-Membranen (verändert nach [129, S. 75])
4.2.2 Untersuchung von starken und schwachen Elektrolyten mit dem Permeationsmodell nach FÜRST und NEUBERT
4.2.3 Untersuchung von Nicotin in saurer und alkalischer Lösung mit dem Permeationsmodell
4.2.4 Nachweis von Ammoniumionen in Zigarettentabak, unbehandeltem Tabak und verschiedenen Rohtabaken
4.2.5 Dünnschichtchromatographie von Acetylsalicylsäure und ihrer Hauptmetaboliten Salicylsäure und Salicylursäure
4.2.6 Erstellung von Eichkurven
4.2.7 Bestimmung der Übertrittsgeschwindigkeiten von Acetylsalicylsäure und ihrer Hauptmetaboliten Salicylsäure und Salicylursäure mit dem Permeationsmodell
4.2.8 Bestimmung der Übertrittsgeschwindigkeiten von Benzoesäure und Hippursäure mit dem Permeationsmodell
4.3 Toxikodynamik
4.3.1 Katalasehemmung durch Kupfer (verändert nach [21, S. 302f.])
4.3.2 Ureasehemmung durch Schwermetalle (verändert nach [20, S. 137])
4.3.3 Modellversuch zur Störung der Blutgerinnung
4.3.4 Vergiftung durch Methämoglobinbildner
4.4 Therapie der Vergiftungen
4.4.1 Nachweis von Amanitinen
4.4.2 Milch als Lokalantidot
4.4.3 Kaliumhexacyanoferrat(II) als Antidot bei Vergiftungen mit
Kupfer(II)-salzen
4.4.4 Herstellung von „Aktivkohle“
4.4.5 Therapie der Methämoglobinvergiftung
4.4.6 EDTA als Antidot bei Schwermetallvergiftungen
4.4.7 Modellversuch zur Hämodialyse
4.4.8 Modellversuch zur Hämoperfusion
4.4.9 Modellversuch zur forcierten Diurese (Bestimmung der Übertrittsgeschwindigkeit von Salicylsäure bei verschiedenen Konzentrationen mit dem Permeationsmodell)
4.4.10 Gefährdung durch eine falsche Antidottherapie (schnelle Variante)
4.4.11 Gefährdung durch eine falsche Antidottherapie (langsame Variante)
4.4.12 Modellversuch zur Magenperforation durch eine falsche
Antidottherapie

5 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen

6 Messwerte
6.1 Messwerte aus Versuch 4.2.7
6.1.1 Acetylsalicylsäure (Messung 1)
6.1.2 Acetylsalicylsäure (Messung 2)
6.1.3 Salicylsäure (Messung 1)
6.1.4 Salicylsäure (Messung 2)
6.1.5 Salicylursäure (Messung 1)
6.1.6 Salicylursäure (Messung 2)
6.2 Messwerte aus Versuch 4.2.8
6.2.1 Benzoesäure (Messung 1)
6.2.2 Benzoesäure (Messung 2)
6.2.3 Hippursäure (Messung 1)
6.2.4 Hippursäure (Messung 2)
6.3 Messwerte aus Versuch 0
6.3.1 Salicylsäure (c = 5,00 mmol/L) (Messung 1)
6.3.2 Salicylsäure (c = 5,00 mmol/L) (Messung 2)
6.3.3 Salicylsäure (c = 1,07 mmol/L) (Messung 1)
6.3.4 Salicylsäure (c = 1,07 mmol/L) (Messung 2)

7 Abbildungsverzeichnis

8 Tabellenverzeichnis

9 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„So erfreulich es ist, wie breiten Schichten die Gefährdung durch Umweltgifte klar geworden ist, so wenig erfreulich ist es, zu beobachten, wie emotional und nicht selten ohne Sachverstand diese Fragen erörtert werden. (...) Es kann davon gesprochen werden, dass eine Haltung der Toxikophobie grassiert. Viele Menschen spüren aufgrund der suggestiven Berichte von ,Fachleuten’ und sensationeller Bericht­erstattung der Laienpresse Vergiftungssymptome, die meistens recht uncharakteristisch (...) [und] völlig unabhängig von irgendwelchen Giften sind.“ [1, S. 506] Diese negative Einstellung besteht jedoch keineswegs nur gegenüber Giften und Gefahrstoffen, sondern wird von großen Teilen der Bevölkerung generell auf die Chemie übertragen. Während mit der Biologie die Begriffe „natürlich“, „gesund“ und „gut“ verbunden werden, werden mit Chemie die Wortbedeutungen „künstlich“, „ungesund“ und „schlecht“ assoziiert [2, S. 115]. Das schlechte Image der Chemie in der Gesellschaft prägt auch das Bild der Schüler[1] von der Chemie, so dass selbst Schüler, die noch keinen Chemieunterricht kennen gelernt haben, eine Einstellung zur Chemie und zum Chemieunterricht entwickeln [3, S. 21]. Das in Abbildung 1.1 gezeigte „Bild von der Chemie“ malte eine Schülerin der Klassenstufe 6. Der Totenkopf ist darin nicht zu übersehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1.1: Bild einer Schülerin der Klassenstufe 6 zum Thema Chemie [3, S. 19]

Ein wichtiges Bildungsziel des Chemieunterrichts ist deshalb, ungerechtfertigte Ängste gegenüber der Chemie abzubauen. [2, S. 115] Da die ablehnende Haltung gegenüber der Chemie gerade auch mit der Angst vor einer Gefährdung durch Chemikalien verbunden ist, sollte nach meiner Meinung im Unterricht behandelt werden, wie Chemikalien die Gesundheit des Menschen bedrohen können. Schädliche Wirkungen chemischer Substanzen auf lebende Organismen, also Vergiftungen, zu untersuchen, ist die Aufgabe der Toxikologie, der Lehre von den Giften [4, S. 9].

Jeder Chemielehrer muss sich zwangsläufig mit toxikologischen Fragestellungen beschäftigen. In den „ Regeln für Sicherheit und Gesundheitsschutz beim Umgang mit Gefahrstoffen im Unterricht “ heißt es dazu: „Zu Beginn des naturwissenschaftlichen Unterrichts (...) ist dem Schüler eine allgemeine Betriebsanweisung (...) zur Kenntnis zu geben, in der die möglichen Gefahren für Mensch und Umwelt beschrieben sowie die erforderlichen Schutzmaßnahmen und Verhaltensregeln festgelegt sind. (...) Die Schüler sind durch den Lehrer anhand der Betriebsanweisung zu unterweisen. Diese Unterweisungen sind in jedem Schuljahr zu wiederholen. (...) Bevor Schüler mit Gefahrstoffen umgehen, hat der Lehrer gezielte Anweisungen zu den bei diesem Versuch/Arbeitsverfahren eingesetzten Gefahrstoffen, deren sicherer Handhabung und Entsorgung zu geben.“ [5, S. 12] In diesem Zusammenhang wird im Chemie­unterricht jedoch nicht geklärt, wodurch ein Stoff überhaupt zu einem Gefahrstoff wird und wie es schließlich zur Schädigung eines Organismus kommt [6].

In der chemiedidaktischen Literatur werden toxikologische Fragestellungen in anderen Zusammenhängen oft theoretisch mitbehandelt, aber eine für den Unterricht geeignete experimentelle Erschließung der Toxikologie und besonders ihrer Grundlagen hat bisher nicht stattgefunden [7, 8, 9, 10, 11]. Meistens werden nur spezielle Aspekte, einzelne Gifte oder Stoffgruppen betrachtet [12, 13, 14, 15, 16, 17]. Vielfach publiziert sind die Enzymhemmung durch Schwermetalle und Nachweisreaktionen für Gifte [18, 19, 20, S. 137, 21, S. 302f.]. Die medizinische Behandlung von Schwermetallvergiftung wurde auch schon thematisiert [22, 23]. Wendet man sich der Biologiedidaktik zu, so ist festzustellen, dass dort abgesehen von der Enzymhemmung und Nachweisen ebenso wenig Experimente zur Toxikologie vorgestellt werden [24, 25, 26, 27, 28, 29, 30]. Es finden sich neben der genauso vorhandenen theoretischen Behandlung vor allem Unterrichtsmaterialien zu Giftpflanzen und –tieren [31, 32, 33, 34, 35].

Doch auch für das Thema „Toxikologie“ gilt selbstverständlich, dass die experimentelle Behandlung im Unterricht einer rein theoretischen Erarbeitung vorzuziehen ist. Empirische Untersuchungen belegen, dass der Chemieunterricht von den Schülern eher als positiv erlebt wird, wenn experimentiert wird [2, S. 293]. Im Rahmen dieser Arbeit wurden deshalb Experimente entwickelt, mit deren Hilfe im Chemieunterricht ein Basiswissen zur Toxikologie erarbeitet werden kann. Insbesondere können den Schülern anhand der Versuche Antworten auf folgende Fragen gegeben werden: Was ist ein Gift? Wie reagiert ein Organismus auf ein Gift? Was bewirkt ein Gift im Organismus? Wie kann eine Vergiftung behandelt werden und worauf sollte dabei geachtet werden?

Zunächst werden daher theoretische Grundlagen erarbeitet, wobei die aufgeführten Fragen im Mittelpunkt stehen (Kapitel 2). Im Folgenden werden dann methodisch-didaktische Überlegungen angestellt. Ausdrücklich wird darauf eingegangen, welche Bezüge die Toxikologie zur Erfahrungswelt der Schüler hat, was für und was gegen eine Behandlung im Unterricht spricht und an welchen Stellen die Versuche im Lehrplan eingeordnet werden können (Kapitel 3). Im Anschluss daran werden die Versuche vorgestellt, die sich als im Unterricht einsetzbar erwiesen haben, um das Thema „Toxikologie“ experimentell zu erarbeiten (Kapitel 4). Sie sind in diesem Teil der Arbeit entsprechend des Aufbaus des theoretischen Teils geordnet. Diese Reihenfolge deckt sich somit nicht notwendigerweise mit der Abfolge der Experimente im Rahmen einer Unterrichtseinheit. Zum Abschluss werden Anregungen zur weiteren Vertiefung des Themas im Rahmen fachdidaktischer Arbeiten gegeben und die gefundenen Ergebnisse sowohl zusammengefasst als auch kritisch bewertet (Kapitel 5).

2 Theoretische Grundlagen

In diesem Teil der Arbeit werden die theoretischen Grundlagen dargelegt, die anhand der entwickelten Schulversuche (Kapitel 4) im Unterricht experimentell erarbeitet werden können. Ferner soll ein kompaktes Hintergrundwissen über Toxikologie für Lehrer vorgestellt werden, da diese üblicherweise kein Bestandteil der Lehrerausbildung ist [36]. Nach einigen allgemeinen Anmerkungen (Kapitel 2.1) wird auf die beiden Hauptdisziplinen der Toxikologie eingegangen, die Toxikokinetik (Kapitel 2.2) und die Toxikodynamik (Kapitel 2.3). Im Schlussteil wird wiedergegeben wie Vergiftungen behandelt werden können und worauf dabei zu achten ist (Kapitel 2.4).

2.1 Allgemeines

Am Anfang gilt es einige Vorbemerkungen zu den Begriffen Toxikologie und Gift zu machen. Insbesondere ist zu klären, welche Stoffe überhaupt Gifte sein können. Es wird dargestellt, welche Aufgaben die Toxikologie zu erfüllen hat und aus welchen Quellen sie ihre Erkenntnisse gewinnt. Abschließend wird berichtet, wie oft Vergiftungen vorkommen, welche Stoffe dabei eine Rolle spielen und wer durch Gifte gefährdet ist.

2.1.1 Toxikologie – eine Definition

Etymologisch ist der Ausdruck Toxikologie aus den Begriffen Toxikon (toxikon = griech. Pfeilgift) und Logia (von logoV = griech. Lehre) gebildet worden. Die Toxikologie ist somit die Lehre von den Giften und daraus abgeleitet die Lehre von den schädlichen Wirkungen natürlicher und synthetischer Substanzen auf lebende Organismen. Wie viele andere dieser Komposita wurde der Terminus erstmals im 17. Jahrhundert gebraucht. 1678 veröffentlichte Benjamin Scharff in Jena die erste toxikologische Abhandlung in lateinischer Sprache „Toxicologia seu tractatus physico-medico-chymicus de natura venenorum in genere“, die 1698 ins Deutsche übersetzt wurde. Nach Henry Alan Skinner ist der Begriff Toxikologie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts allgemein eingeführt [37, S. V, 4, S. 9, 38, S. 798]. Für einen detaillierteren Blick auf die Geschichte der Toxikologie sei auf die angegebene Literatur verwiesen [37, 39, 40, S. 5-14, 41].

Zunächst war die Toxikologie eine Schwesterdisziplin der Pharmakologie und beschäftigte sich mit den Nebenwirkungen, den toxischen Effekten, der Arzneimittel [42, S. 5]. Im Zentrum des Interesses der heutigen Toxikologie steht jedoch die Erfassung möglicher Gesundheitsgefahren für den Menschen durch Belastungen von Wasser, Luft, Boden und Lebensmitteln (Humantoxikologie). Die Gefährdung von Ökosystemen durch die zunehmende Anzahl von Stoffen in der Umwelt erlangt in letzter Zeit aber zunehmend an Bedeutung (Ökotoxikologie) [38, S. 798].

Neben diesen beiden Bereichen gibt es eine Reihe weiterer Teilrichtungen, die sich auf einzelne Aspekte spezialisiert haben, wobei scharfe Abgrenzungen aber nicht möglich sind. Als Beispiele seien Arbeitstoxikologie, Arzneimitteltoxikologie, forensische Toxikologie, Rückstandstoxikologie und Wehrtoxikologie genannt [43, S. 954-957]. Durch diese Entwicklung wurde die Toxikologie zu einer selbstständigen, breitgefächerten interdisziplinären Wissenschaft [38, S. 798] Die folgende Tabelle listet die Beiträge einiger Disziplinen auf.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2.1: Beiträge einiger Disziplinen zum Arbeitsbereich der Toxikologie [4, S. 11]

2.1.2 Gift – eine Annäherung

Während man den Begriff Toxikologie also erst seit gut 400 Jahren verwendet, waren die Menschen zu allen Zeiten mit Giften konfrontiert [44, S. 7]. Die Feuerstellen der Urmenschen produzierten erhebliche Mengen an Kohlenmonoxid. Die Menschen lernten, welche Pflanzen essbar waren, welche sie meiden mussten und dass zu lange gelagerte Nahrung sterbenskrank machen kann [45, S. 1]. Die Gefährlichkeit von Schlangenbissen wird ihnen wohl ebenfalls bewusst gewesen sein [46, S. 2] Es verwundert daher nicht, dass die natürlichen Gifte von Pflanzen und Tieren schon früh als Waffen verwendet wurden und Gifte auch in der Geschichte immer wieder eine Rolle spielten. Mit Gift präparierte Pfeile sollen bereits vor 18 000 Jahren gebraucht worden sein [47, S. 15]. Toxische Substanzen werden aber nicht allein zum Töten verwendet, sondern auch als Genussgifte gebraucht. Der Chemiker Ernst Freiherr von Bibra stellte 1855 dazu fest: „ Nirgends auf der ganzen Welt wird ein Land gefunden, dessen menschliche Bewohner sich nicht irgend eines narkotischen Genussmittels bedienen. “ (zitiert nach [48, Vorwort]) Bereits seit dem 7. Jahrtausend v. Chr. wurde beispielsweise in Mesopotamien Bier gebraut [48, S. 1].

Schließlich zeugt auch die bewusste Anwendung bestimmter Stoffe zur Hinrichtung, Abtreibung, Betäubung oder als Quelle der Wahrsagung in sehr früher Zeit von einem umfangreichen toxikologischen Erfahrungswissen [49, S. 16]. Um 1500 v. Chr. wird im altägyptischen „Papyrus-Ebers“ auf die Giftigkeit von Safran hingewiesen und von der Strafe des Pfirsich (Blausäure) gesprochen [46, S. 2, 49, S. 27]. Die hinduistische Medizin kannte um 900 v. Chr. Arsen, Opium und Eisenhut als Gifte. Letzterer wurde von den alten Chinesen als Pfeilgift verwendet [50, S. 15]. Im Jahr 82 v. Chr. erließ Sulla das erste bekannte Gesetz gegen Gifte, das die sorglose Ausgabe von Giften verbot. Kaiser Trajan sah sich schließlich im Jahr 117 n.Chr. genötigt, das Anbauen von Eisenhut zu verbieten, da die Morde mit dieser Pflanze überhand nahmen [50, S. 17]. Die besondere Angst vor Giften spiegelt sich in der Bestrafung von Giftmördern wieder. Im Codex Iustinianus aus dem Jahr 529 wurde festgestellt: „ Es ist schlimmer einen Menschen durch Gift zu vernichten, als durch das Schwert. “ (zitiert nach [39, S. 55]) Auch Kaiser Friedrich I. Barbarossa (1122-1190) scheute sich nicht Gifte einzusetzen. Auf seinem zweiten Italienzug beendete er die Belagerung der Stadt Tortona, indem er mit Hilfe schwefelhaltiger Fackeln das Trinkwasser der Stadt durch schweflige Säure ungenießbar machte [47, S. 13]. 1302 soll in Bologna die erste gerichtliche Obduktion zur Aufklärung einer Vergiftung durchgeführt worden sein [41, S. 125]. Im 15. und 16. Jahrhundert waren die Borgias, insbesondere Papst Alexander VI. (1492-1503), aber auch die Viscontis, Sforzas und Medicis für den hemmungslosen Gebrauch von Giften für politische Zwecke berühmt-berüchtigt [50, S. 17, 49, S. 23]. Eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Giftgesetze erlangte die 1507 erlassene Bamberger Halsgerichtsordnung, die Vergiftungen aus dem Aberglauben herauslöste und als eigenständiges Verbrechen isolierte [49, S. 17]. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die Rolle der Gifte im 20. Jahrhundert. Im 1. Weltkrieg wurden Chlor, Phosgen und arsenhaltige Kampfmittel von allen Kriegsparteien angewendet. Zyklon B erlangte in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten traurige Berühmtheit. Nutzpflanzenvernichtende Gifte wie Agent Orange wurden im Vietnamkrieg von den USA eingesetzt. Der Irak verwendete im Krieg gegen den Iran Tabun, während die AUM-Sekte ihren Terroranschlag in der U-Bahn Tokios am 20. März 1995 mit einem Gemisch aus Sarin und Blausäure verübte. Schließlich haben sich auch eine Reihe von Katastrophen, wie der Unfall am 10. Juli 1976 im italienischen Seveso oder der am 03. Dezember 1984 im indischen Bhopal, ihren Platz in der Geschichte der Menschheit gesichert [51, 47, 39, 52, S. 223-325, 46, S. 232-241, 53, 54].

Trotz des ausgiebigen Gebrauchs und Auftretens von Giften konnte lange nicht beantwortet werden, was überhaupt ein Gift ist. Erst der Arzt und Naturforscher Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus, konnte eine brauchbare Giftdefiniton formulieren [44, S. 7]. Abbildung 2.1 zeigt die Definition, die er 1537/38 in seinem Buch „Sieben Defensiones“ formulierte.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.1: Giftdefinition des Paracelsus (verändert nach [55, S. 138])

Paracelsus erkannte, dass die Giftigkeit einer Substanz keine Stoffeigenschaft ist, sondern von der Menge des Stoffes abhängt. Es gibt also keine toxischen Substanzen, sondern nur giftige Dosierungen eines Stoffes. Dies hat zur Folge, dass es eine Schwellendosis gibt unterhalb der keine schädliche Wirkung eintritt. Nur weil mit den heutigen Analysemethoden auch kleinste Mengen eines Stoffes nachgewiesen werden können, bedeutet das somit nicht, dass dadurch auch Schäden hervorgerufen werden. Deshalb können einerseits Substanzen, die man üblicherweise nicht mit dem Begriff Gift in Verbindung bringt, sehr wohl zu ernstzunehmenden Schädigungen führen und andererseits können „echte Gifte“ in unschädlichen Dosierungen verwendet werden. Zwei Beispiele mögen dies erläutern:

- Wasser wird im Allgemeinen als unschädlich und sogar als lebensnotwendig angesehen. Wenig bekannt ist aber, dass es bei psychisch Kranken in gewissen Fällen vorkommt, dass sie innerhalb kurzer Zeit zehn Liter Wasser und mehr aufnehmen. Diese Wasserintoxikation (hypotone Hyperhydratation) kann lebensgefährlich werden. Aufgrund der großen Flüssigkeitsmenge nehmen die extra- und die intrazelluläre Flüssigkeit stark zu. Die Überlastung führt zu einer akuten Herzschwäche und einem Anstieg des Hirndrucks, weil sich die anschwellenden Zellen innerhalb des Schädels nicht ausdehnen können. Die Folgen sind Übelkeit, Erbrechen, Koma, Lähmungen und schließlich der Tod. Von 1935 bis 1989 wurden weltweit immerhin 150 derartige Fälle publiziert, von denen zwölf tödlich endeten [4, S. 10, 56, 57, 58]
- Das stärkste bekannte Gift ist das Botulinustoxin, das von dem Bakterium Clostridium botulinum in schlecht zubereiteten Konserven gebildet wird. Die minimale letale Dosis liegt beim Menschen bei lediglich 0,03 ng/kg Körpergewicht [46, S. 5]. Durch eine irreversible Hemmung der Transmitterfreisetzung verhindert das Toxin die Nervenübertragung auf die Skelettmuskulatur, was im schlimmsten Fall zu einer zentralen Atemlähmung führt [1, S. 537]. Dennoch wird das Toxin heutzutage als Medikament zur Behandlung des Schielens und gegen eine übermäßigen Schweißproduktion eingesetzt. In den Blick einer breiten Öffentlichkeit ist das Botulinustoxin jedoch gerückt, seit es in der Schönheitschirurgie zur Faltenglättung durch Lähmung der mimischen Muskulatur eingesetzt wird [1, S. 248]. Mittlerweile finden regelrechte „Botox-Parties“ statt, in deren Rahmen die Anwesenden mit Botulinustoxin behandelt werden, weil sich dadurch die Kosten für den einzelnen verringern [59].

Das letzte Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass sich die Giftigkeit einer Substanz nicht daraus ergibt, dass es sich um einen synthetischen Stoff handelt. Man kann nicht zwischen „guten“ Chemikalien, die aus der Natur stammen, und „bösen“ Chemikalien, die in chemischen Laboren erzeugt worden sind, unterscheiden, wie man anhand der Auflistung der LD50-Werte einiger Verbindungen in Tabelle 2.2 erkennen kann. Die synthetischen Stoffe werden in ihrer Toxizität von den Naturstoffen um ein Vielfaches übertroffen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2.2: Toxizität natürlicher und synthetischer Substanzen (nach [60, S. 159, 61])

Die Bedeutung der Giftdefinition von Paracelsus kann man daran erkennen, dass die Formulierung in abgewandelter Form immer wieder verwendet wird. In einem Reichsgerichturteil vom 14. Januar 1884 heißt es: „Eine Substanz, welche lediglich durch ihre qualitative Beschaffenheit unter allen Umständen geeignet wäre, die Gesundheit zu zerstören, existiert nicht. Die gesundheitszerstörende Eigenschaft ist vielmehr eine relative; sie ist nicht bloß von der Qualität, sondern auch von anderen Bedingungen, insbesondere von der Quantität des beigebrachten Stoffes und von der körperlichen Beschaffenheit der Person, welcher derselbe beigebracht worden ist, abhängig. Je nach der Verschiedenheit der in Frage kommenden Bedingungen kann derselbe Stoff bald als gesundheitszerstörend, bald nur als gesundheitsschädlich, bald als durchaus unschädlich, endlich sogar als Heilmittel, erscheinen.“ (zitiert nach [62, S. 4]) Der bekannte Herzchirurg Christiaan Barnard formulierte es dagegen so: „Man kann einen Menschen mit guten Saucen genauso unter die Erde bringen wie mit Strychnin – es dauert nur länger.“ (zitiert nach [63])

Die visionäre These des Paracelsus hat auch heute noch ihre Gültigkeit. Die beiden Zitate deuten jedoch schon an, dass von der Toxikologie außer der Dosis noch weitere Faktoren ausgemacht wurden, welche die Toxizität einer Substanz beeinflussen [44, S. 7f.]. Die Betrachtung der einflussnehmenden Faktoren, steht im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit und wird in den Kapiteln 2.2 und 2.3 ausführlich behandelt werden. Ferner muss die Definition für bestimmte Giftwirkungen verändert werden. Bei krebserzeugenden Stoffen geht man davon aus, dass theoretisch ein einziges Molekül eine kritische Mutation des genetischen Materials auslösen und damit zur Bildung eines Tumors führen könnte. Eine Schwellendosis kann folglich für solche Substanzen nicht festgelegt werden [42, S. 5].

Traditionell versteht man unter einem Gift eine Substanz, die schon in relativ kleinen Mengen zu Schädigungen in lebenden Organismen führen kann [46, S. 4, 61]. Eine Substanz wird als „Gift“ bezeichnet, wenn beim üblichen Umgang mit dieser Substanz eine Exposition realistisch ist, die sehr wahrscheinlich Gesundheitsschäden hervorruft. Um einen Anhaltspunkt zur Vergiftungsgefahr zu erhalten, wurden vom Gesetzgeber verschiedene Toxizitätsklassen eingeführt [40, S. 846]. Tabelle 2.3 zeigt, wie Stoffe in Abhängigkeit vom LD50-Wert bzw. LC50-Wert gekennzeichnet werden müssen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2.3: Einteilung der Toxizitätsklassen (verändert nach [40, S. 859])

Es muss dennoch betont werden, dass keine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Giftdefinition existiert [46, S. 4]. Den Begriff „Gift“ kann es auch nicht geben, da die Definition immer auf eine Dosis abzielen muss [40, S. 846]. Es erscheint daher am sinnvollsten, sich der Meinung von Wirth und Gloxhuber anzuschließen. „ So wenig bestimmt der Ausdruck ,Gift‘ demnach auch sein mag, man kann auf ihn nicht verzichten, ohne umständliche Beschreibungen zu benötigen. Das Wort wird der Kürze halber für alle Stoffe benützt, deren Wirkungen zu erörtern sind, unabhängig davon, wie groß die diese Wirkung verursachende Dosis ist, und auch davon, ob diese Wirkung lebensbedrohlich oder unerheblich ist. “ [62, S. 4]

2.1.3 Aufgaben der Toxikologie

Geht man von der Giftdefinition des Paracelsus aus, so lässt sich leicht erahnen, vor welcher gewaltigen Aufgabe die Toxikologie heute steht. Am 03. Januar 2004 waren 22 590 649 organische und anorganische Substanzen vom Chemical Abstracts Service (CAS) registriert [64], längst sind noch nicht alle Naturstoffe erforscht, und tägliche werden Dutzende neuer Verbindungen hergestellt. In der Praxis muss man mit 50 000 relevanten Giften rechnen, von denen etwa ein Zehntel als Arzneimittel verwendet wird [42, S. 5].

Das Arbeitsgebiet der Toxikologen teilt sich in zwei wesentliche Problemstellungen:

- Zum einen soll das toxische Wirkungsprofil und der Wirkungsmechanismus von Stoffen beschrieben werden. Die Untersuchung dieser eigentlichen Giftwirkung ist Aufgabe der experimentellen Toxikologie und wird später eingehend behandelt.
- Zum anderen soll auch bewertet werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit Gesundheitsgefahren bei einer bestimmten Exposition zu erwarten sind. Die Ermittlung des Risikos ist Gegenstand der regulatorischen Toxikologie. Auf diesen zweiten Auftrag soll hier jedoch nur kurz eingegangen werden.

Das Abschätzen des Risikos hat den Zweck einen Sicherheitsrahmen zu bestimmen, innerhalb dessen keine Gefährdung zu erwarten ist. Aus den Befunden der experimentellen Toxikologie kann für jeden Stoff die Schwellendosis als so genannter No-adverse-effect-level (NOAEL) abgeleitet werden. Unter Berücksichtigung von Sicherheitsfaktoren, die im Englischen treffender Unsicherheitsfaktoren (uncertainty factors) genannt werden, gelangt man aus toxikologischer Sicht zu duldbaren Stoffmengen bzw. Grenzwerten. Als Beispiele seien die täglich duldbare Aufnahmemenge ADI (acceptable-daily-intake) und die maximale Arbeitsplatzkonzentration (MAK) genannt. Wie diese Grenzwerte definiert und genau bestimmt werden, kann hier nicht dargestellt werden. Für einen vertiefenden kritischen Einblick sei daher auf die Literatur verwiesen [65, S. 10, 45, 40, S. 821-913, 66, S. 16-23].

Durch Einhalten der Grenzwerte soll gewährleistet sein, dass die Schwellendosis nicht überschritten und somit auch keine Schädigung hervorgerufen wird. Ein Restrisiko bleibt aber dennoch. „Die Menschen fordern absolute Sicherheit, dies ist jedoch ein unerfüllbarer Traum. Zu den Pflichten des Toxikologen gehört es, die Grenzen des Möglichen verständlich zu machen.“ [50, S. 200] Die Akzeptanz von Risiken in der Bevölkerung ist aber aus mehreren Gründen ein komplexes Problem. Seltene Gefahren, wie ein Schlangenbiss, werden überschätzt, während häufige, wie der Herzinfarkttod durch Übergewicht und Bewegungsmangel, unterschätzt werden. Gefährdungen für die eigene Gesundheit, die man selbst beeinflussen kann, etwa das Rauchen, werden leicht akzeptiert, dagegen werden diejenigen, die man nicht steuern kann, wie Rückstände oder Zusatzstoffe in Lebensmitteln, als große Bedrohung erlebt. Überdies werden Wahrscheinlichkeiten falsch eingeschätzt. Obwohl Unfälle im Luftverkehr viel seltener als Unfälle im Straßenverkehr sind, wird oft von Flugangst aber nie von Fahrangst gesprochen [46, S. 52].

2.1.4 Quellen der toxikologischen Erkenntnis

Die Zeiten in denen der Arzt Nikandros aus Klaros (185-135 v. Chr.) Gifte an verurteilten Straftätern und Katharina de Medici (1519-1589) ihre Giftmischungen an den Armen und Kranken Frankreichs testen und die beobachteten Symptome penibel festhalten konnten, sind glücklicherweise vorbei [50, S. 15-17]. Anders als in der pharmakologischen Forschung werden in der toxikologischen Forschung keine kontrollierten, randomisiert und doppelblind geführten Studien verwirklicht, da sich Versuche mit Überdosen an Menschen aus ethischen Gründen verbieten. Der Erkenntnisgewinn in der Toxikologie stammt deshalb heute im Wesentlichen aus anderen experimentellen Befunden, epidemiologischen Erhebungen, Fallberichten und Analogieschlüssen. Die erhobenen Daten müssen interpretiert werden und können nicht direkt auf den Menschen übertragen werden, da die Extrapolation mit Unsicherheiten verbunden ist [38, S. 798f., 67, S. 19].

Experimentelle Befunde stammen entweder aus Tierversuchen oder In-vitro-Versuchen [40, S. 800-820, 46, S. 20-23, 68]. Tierversuche wurden 1847 von Rudolf Buchheim in die Medizin eingeführt [46, S. 2]. In-vitro-Versuche wurden entwickelt, um die Zahl der Versuchstiere zu senken und um kostengünstiger arbeiten zu können [38, S. 799]. Die Versuche dienen der Bestimmung der akuten, subakuten, subchronischen und chronischen Toxizität einer Substanz. Diese Unterscheidung spiegelt die Erkenntnis wieder, dass die Wirkung einer Substanz außer von der Dosis auch von den Expositionsbedingungen abhängt, also wie lange und wie oft das Individuum der Substanz ausgesetzt ist. Unter einer akuten Exposition versteht man die einmalige Applikation eines Giftes, die anderen Expositionsbedingungen bezeichnen wiederholte Gaben des Giftstoffs über unterschiedlich lange Zeiträume. Bei der subakuten Exposition erfolgt die Zufuhr über einen Zeitraum von 28 Tagen. Um eine subchronische Exposition handelt es sich, wenn die Versuchstiere dem Gift weniger als 10 % ihrer mittleren Lebensdauer ausgesetzt sind. Üblicherweise werden 90 Tage betrachtet. Liegt die Expositionsdauer darüber, wird von einer chronischen Exposition gesprochen [40, S. 2, 46, S. 7].

Bei Tierversuchen ergibt sich das Problem, dass die Übertragbarkeit der Befunde von einer Spezies auf eine andere nicht garantiert werden kann. Ein extremes Negativbeispiel stellt der Wirkstoff Thalidomid (Contergan®) dar. Obwohl es in den 1950er Jahren noch nicht verlangt war, wurde er an Ratten auf seine Toxizität getestet und war für diese gut verträglich. Beim Menschen führte aber die Einnahme von Thalidomid in der Schwangerschaft zu Missbildungen an den Gliedmaßen und der Wirbelsäure der Embryos. Erstmalig wurde der Zusammenhang zwischen den Missbildungen und der Einnahme von Thalidomid von Lenz festgestellt [69]. In der BRD waren zwischen 1958 und 1962 ungefähr 10 000 Neugeborene betroffen [70]. Die sehr unterschiedlichen Folgen für Mensch und Tier ergeben sich daraus, dass der Wirkstoff von Ratten anders als von Menschen kaum resorbiert wird [1, S. 544]. In-vitro-Versuche können verwendet werden, um genotoxische Stoffe zu erkennen und den molekularen Wirkungsmechanismus eines Stoffes aufzuklären. Komplexe physiologische Funktionen, deren Beeinflussung und kinetische Vorgänge können aber nicht erfasst werden [38, S. 799].

Dementsprechend besteht der große Vorteil von epidemiologischen Erhebungen und Fallberichten darin, dass die Daten direkt am Menschen erhoben werden. Bei epidemiologischen Erhebungen besteht der Mangel jedoch darin, dass Störfaktoren durch andere Substanzen nicht auszuschließen sind, während Fallberichte oft unvollständig dokumentiert sind. Außerdem sind erfahrungsgemäß die Angaben der Patienten oder Angehörigen in 40 % aller Fälle in qualitativer und/oder quantitativer Hinsicht unzutreffend. Weil somit nicht genau bekannt ist, welche Dosis eingenommen wurde, welche anderen Stoffe eventuell noch beteiligt waren und wie viel Zeit bis zum Beginn einer Behandlung vergangen war, können sie nur bedingt zur Bewertung herangezogen werden [38, S. 799, 67, S. 19].

Analogieschlüssen liegt dagegen die Problematik zugrunde, dass selbst kleine Änderungen in der Struktur einer Verbindung gravierende Auswirkungen haben können. Als Beispiel eignet sich hier ebenfalls Thalidomid. Das Molekül besitzt ein Chiralitätszentrum, wodurch zwei Konfigurationen des Wirkstoffs vorkommen. Nach der Contergan-Katastrophe sind diese untersucht worden. Es stellte sich heraus, dass zwar beide Enantiomere die gleiche sedative Wirkung aufweisen, aber lediglich das (S) -Isomere zu den Missbildungen führt. Die Katastrophe wäre jedoch auch nicht verhindert worden, wenn nur das (R) -Isomer eingesetzt worden wäre. Wie Abbildung 2.2 zeigt, ist das chirale Zentrum ungewöhnlich instabil und kann unter physiologischen Bedingungen leicht ein Proton abspalten. Durch Reprotonierung der enstandenen achiralen Verbindung können nun beide Enantiomere gebildet werden. Ebenso erfolgt die Racemisierung über Keto-Enol-Tautomerie am Piperidinring [60, S. 110, 71, S. 98f.].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.2: Racemisierung von Thalidomid (verändert nach [60, S. 110])

2.1.5 Häufigkeit von Vergiftungen und Vergiftungsmöglichkeiten

Damit mögliche Gefahren für die Bevölkerung durch Gifte realistisch eingeschätzt und Präventivmaßnahmen eingeleitet werden können, ist die Kenntnis humantoxikologischer Daten von großer Bedeutung. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es jedoch keine generelle Meldepflicht für Vergiftungen [67, S. 21]. Lediglich für Vergiftungen oder bei Verdacht auf Vergiftungen mit den folgenden Chemikalien besteht nach § 16e des Chemikaliengesetzes seit dem 01. August 1990 eine Meldepflicht: Chemische Stoffe und Produkte, die im Haushalt verwendet werden, z. B. Wasch- und Putzmittel, Hobby- und Heimwerkerartikel, Kosmetika, Schädlingsbekämpfungsmittel, Pflanzenschutzmittel, Holzschutzmittel, beruflich verwendete Chemikalien und gesundheitsschädigende chemische Stoffe in der Umwelt [72, S. 6]. Nicht unter diese Meldepflicht fallen indessen Tabakerzeugnisse, Kosmetika, Arzneimittel, Abfälle, Altöle, Abwässer und radioaktive Abfälle [67, S. 23]. Darüber hinaus ist das Meldeverhalten trotz eines seit dem 01. September 1996 vereinfachten Meldeverfahrens immer noch nicht zuverlässig, so dass von einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle ausgegangen werden muss [72, S. 6 und 13]

Die Gesamtzahl der Intoxikationen ist aus den genannten Gründen nicht genau bekannt. Anhand der Beratungsstatistiken der Giftinformationszentren (siehe beispielsweise [73, 74, 75, 76, 77, 78]) wird die Zahl der klinisch behandlungsbedürftigen Vergiftungen pro Jahr auf 100 000-200 000 geschätzt [38, S. 809, 79, S. 3, 43, S. 950, 67, S. 21]. Bei 5 % der Patienten in internistischen Abteilungen und etwa einem Fünftel aller intensivmedizinischen Behandlungsfälle ist mit Vergiftungen zu rechnen [80, S. 481]. In den letzten Jahrzehnten ist eine steigende Zahl an Intoxikationen zu verzeichnen. Inwiefern dies auf bessere ärztliche Diagnostik zurückzuführen ist, muss jedoch offen bleiben [62, S. 24]. Die Zahl der tödlich verlaufenden Vergiftungen liegt bei etwa 3 000 Fällen pro Jahr, was in etwa der Hälfte der Verkehrsunfallopfer entspricht [38, S. 809, 67, S. 21]. Hier ist eine fallende Tendenz feststellbar. Giftmorde kommen in der BRD mit jährlich 5 bis 30 Fällen selten vor [62, S. 25].

Insgesamt sind Vergiftungen also keine seltenen Ereignisse. Vorwiegend kommt es in den eigenen vier Wänden zu einer Vergiftung [76, S. 18, 78, S. 7]. Kinder sind gefährdeter als Erwachsene, aber die Zahlen schwanken hier. [76, S. 20, 78, S. 7, 77, S. 13, 81, S. 498]. 30-50 % aller Vergiftungen betreffen die Altersklasse der unter 5-jährigen [76, S. 21, 77, S. 13]. Im Vergleich dazu sind allerdings in lediglich 4 % der dem Bundesinstitut für Risikobewertung im Jahr 2002 gemeldeten Vergiftungsfälle Kinder geschädigt worden [72, S. 16]. Diese niedrige Zahl kann wohl damit erklärt werden, dass 89 % der Meldungen an das Institut von Berufsgenossenschaften erfolgten [72, S. 12].

Die Gründe für Vergiftungen unterscheiden sich bei Kindern und Erwachsenen deutlich. Bei Kindern kommt es fast ausschließlich zu akzidentellen Vergiftungen, also echten Vergiftungsunfällen, welche im Wesentlichen durch Reinigungs- und Lösungsmittel, Medikamente und Pflanzen erfolgen [38, S. 809]. Der Grund hierfür ist die in diesem Alter typische Erkundung der Umwelt durch In-den-Mund-Stecken. Während bis zum Alter von etwa 14 Jahren die Vergiftungsunfälle überwiegen, liegen in mehr als der Hälfte aller Vergiftungen von Jugendlichen und Erwachsenen bis zirka 65 Jahren suizidale oder parasuizidale Intoxikationen vor. Von den Betroffenen werden fast ausschließlich Medikamente verwendet. Gleichzeitig ist in einem Drittel dieser Vergiftungsfälle mit der zusätzlichen Einnahme von Alkohol zu rechnen [81, S. 499, 67, S. 21, 76, S. 30]. An zweiter Stelle folgen mit etwa 30 % die akzidentellen Vergiftungen. Substanzabusus stellt die dritthäufigste Vergiftungsursache dar, spielt ab einem Alter von etwa 50 Jahren praktisch keine Rolle mehr. Erst den vierten Platz belegen schließlich gewerbliche Vergiftungen [76, S. 21 und 30, 81, S. 499]. In der Gruppe der Älteren kommt es dann wieder häufiger zu Vergiftungsunfällen [77, S. 28]. Die beiden folgenden Abbildungen zeigen die nach dem Lebensalter der Betroffenen aufgeschlüsselte Anzahl der Vergiftungen, die im Jahr 2002 vom Giftinforma­tionszentrum der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen telefonisch beraten wurden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.3: Anzahl der telefonisch beratenen Vergiftungsfälle (0-17 Jahre) [76, S. 21]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.4: Anzahl der telefonisch beratenen Vergiftungsfälle (ab 14 Jahre) [76, S. 21]

Die Verhütung von Vergiftungen im Kindesalter ist entsprechend den Umständen, die zu Vergiftungen, Aufgabe der Eltern [67, S. 21f.]. Aus diesem Grund finden sich entsprechende Warnungen immer wieder in Zeitungen. Parallel dazu stellen auch die Giftinformationszentralen und Gesundheitsministerien Informationsmaterial zur Verfügung [82, 83, 84]. Neben allgemeinen Unfallverhütungsmaßnahmen hat die Vergiftungsprophylaxe bei Erwachsenen die Verhinderung von Selbstmorden zum Hauptziel. Die Presse sollte allerdings nur zurückhaltend eingesetzt werden, denn die Nennung „geeigneter“ Substanzen führt in den nächsten Wochen regelmäßig zu Suiziden mit eben diesen Stoffen. Auch nachdem Johann Wolfgang Goethe 1774 „ Die Leiden des jungen Werthers “ veröffentlicht hatte, wurde ein Anstieg von Suiziden festgestellt [40, S. 781]. Das gleiche gilt auch für die Auswahl von Mordgiften [62, S. 25]. Ursachen für suizidale Vergiftungen können unter anderem Liebesentzug, Depressionen und Berufsprobleme sein. Selbstmordankündigungen sollten das persönliche Umfeld aufhorchen lassen, da sie in der Regel ernst gemeint sind. Betroffenen ist aktiv Hilfe zu leisten, und zwar nicht durch die Verschreibung von Psychopharmaka, sondern durch Unterstützung und Zuwendung. Psychopharmaka können die Situation noch zusätzlich verschärfen, weil sie häufig für Suizide missbraucht werden [81, S. 500f.].

Auch der Schweregrad einer Vergiftung ist vom Alter abhängig. Das Vergiftungs-Informations-Zentrum Freiburg hat im Jahr 2002 beispielweise in der Altersgruppe der unter 15-jährigen in 19,1 % der Fälle eine ärztliche Behandlung angeraten. Demgegenüber wurde aber in 67,6 % der Fälle, die Jugendliche und Erwachsene betrafen, eine Behandlung durch einen Arzt empfohlen [77, S. 23]. Dieser Unterschied ergibt sich daraus, dass bei einer suizidalen oder parasuizidalen Intoxikation absichtlich große Giftmengen eingesetzt werden, während bei einer versehentlichen Vergiftung meist geringere Mengen aufgenommen werden.

Wenn man Häufigkeit und Gründe für Vergiftungen beim Menschen betrachtet, sollte nicht vergessen werden, dass auch Tiere von Vergiftungen betroffen sein können. Vergiftungen werden bei diesen vor allem durch Pflanzen, Pflanzenschutzmittel und Medikamente hervorgerufen [76, S. 15, 78, S. 16].

2.2 Toxikokinetik

In den folgenden Kapiteln wird dargestellt auf welche Art und Weise Gifte schädliche Wirkungen hervorrufen können. Über ihre Umwelt sind Organismen in ständigem Kontakt mit potentiellen Giften. Die Wirkung eines Giftes ist aber von der Konzentration des freien, unveränderten Giftes bzw. seiner Abbauprodukte am Wirkort abhängig. Ob eine Vergiftung eintritt hängt also davon ab, wie leicht Stoffe aufgrund ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften in den Organismus aufgenommen und wie schnell sie wieder aus ihm ausgeschieden werden. Infolgedessen ist die Kenntnis aller Abläufe, welche die Aufnahme und die Ausscheidung einer Substanz beeinflussen, für das Verständnis ihrer Toxizität immens wichtig. Die Untersuchung dieser Vorgänge ist die Aufgabe der Toxikokinetik [40, S. 32, 66, S. 24]. Mit anderen Worten heißt das, dass dieses Teilgebiet der Toxikologie erforscht, was ein Organismus mit einem Gift macht, mit dem er in Kontakt kommt.

Der Kontakt eines Organismus mit einer toxischen Substanz kann in drei Phasen unterteilt werden: Invasion (Erhöhung der Giftkonzentration), Distribution (Verteilung des Giftes) und Evasion (Abnahme der Giftkonzentration). [40, S. 32]. Eine strikte zeitliche Trennung dieser drei Vorgänge ist jedoch nicht möglich, weil es bereits während des Anstiegs der Giftkonzentration zur Verteilung und Ausscheidung des Giftes kommt [46, S. 12]. Im Folgenden werden die drei Vorgänge und die Faktoren, die sie beeinflussen, eingehend vorgestellt.

2.2.1 Invasion

Da der Wirkort eines Giftes in den allermeisten Fällen nicht an der Körperoberfläche liegt, muss das Gift zunächst in den Organismus eindringen [1, S. 17]. Nachfolgend werden die beiden Vorgänge betrachtet, welche zusammen die Phase der Invasion bilden: Liberation und Resorption. Sie spielen immer dann eine wichtige Rolle, wenn die Substanz nicht direkt in die Blutbahn gelangt, wie bei einer Injektion, einem Stich oder einem Biss.

2.2.1.1 Liberation

Unter Liberation versteht man die Freisetzung eines Giftes aus einer Matrix, etwa eines Arzneistoffs aus der Darreichungsform (Tablette, Salbe). Diese Phase der Giftaufnahme läuft folglich strenggenommen außerhalb des Körpers ab und wird von der Löslichkeit und der Lösungsgeschwindigkeit der Substanz bestimmt [40, S. 33].

Wird beispielsweise metallisches Quecksilber verschluckt, so ist es nur wenig toxisch, weil es beim Passieren des Magen-Darm-Traktes nicht gelöst wird. In einem Einzelfall blieb die orale Aufnahme von 204 g des Metalls ohne Anzeichen systemischer Toxizität. Dagegen reichen 0,3-1,4 g des gut wasserlöslichen Quecksilber(II)-chlorids aus, um einen 70 kg schweren Menschen zu töten [40, S. 532f.]. Der Einfluss der Lösungsgeschwindigkeit lässt sich anhand des bedeutendsten Giftes des Mittelalters und der Renaissance verdeutlichen: Arsenik (As2O3) Eine Arseniklösung wirkt stärker giftig, als wenn die gleiche Dosis in Form eines groben Pulvers in den Magen gelangt, weil sich das Pulver nur sehr langsam löst [85, S. 4].

Durch die Behinderung der Liberation einer toxischen Substanz wird ihre Giftwirkung entscheidend gehemmt, da die Giftmenge, die tatsächlich vom Körper aufgenommen werden kann, verringert wird. Lipophile Gifte werden aus dem Nahrungsbrei sehr schlecht aufgenommen, wenn er sehr fetthaltig ist. Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT) wird daher aus Lachsfleisch schlechter aufgenommen als aus vergleichbar belastetem Hühnerfleisch. Als Ursache vermutet man, dass das Fett selbst wegen seines hohen Anteils in der Nahrung nur unvollständig verdaut wird und so das Gift im Darmlumen zurückhält [4, S. 37f.].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.5: Strukturformel von DDT

2.2.1.2 Resorption

Die Aufnahme eines Toxikons durch die Körperoberfläche in das Blut und die Lymphe wird als Resorption bezeichnet. Während der Prozess der Liberation das Verhältnis von applizierter zu resorbierbarer Giftmenge bestimmt, wird durch den Prozess der Resorption festgelegt, wie viel von der resorbierbaren Menge tatsächlich ins Körperinnere gelangen kann. Das folgende Kapitel widmet sich daher den Eintrittspforten und Resorptionsmechanismen von Giften. Besonderer Wert wird hierbei auf die Betrachtung der Faktoren gelegt, welche die Resorption eines Giftes beeinflussen können, da diese auch für die übrigen Phasen des Kontakts eines Giftes mit einem Organismus bedeutsam sind. Zum Abschluss wird kurz auf die Modelle eingegangen, mit denen die Resorptionseigenschaften einer toxischen Substanz untersucht werden können.

2.2.1.2.1 Eintrittspforten

Für den ersten Kontakt eines Organismus mit einem Gift gibt es drei wesentliche Eintrittspforten. In 80 % aller Vergiftungsfälle wird das Gift oral aufgenommen und dann über den Magen-Darm-Trakt, also enteral, resorbiert. Etwa 15 % der Intoxikation erfolgen über die Lunge, so dass das Gift inhalativ auf genommen wird. In 4-8 % der Vergiftung ist die Haut die Eintritsspforte, demgemäss erfolgt die Resorption perkutan. Andere Aufnahmewege spielen kaum eine Rolle [4, S. 33f., 43, S. 950, 79, S. 3]. Nachdem das Gift aus der Matrix freigesetzt worden ist, muss es also zunächst eine Reihe von Zellmembranen überwinden, um an den Wirkort zu gelangen [40, S. 33].

Wie Abbildung 2.6 zeigt, besitzen biologische Membranen als Grundgerüst eine Doppelschicht aus amphiphilen Phospholipiden. Die hydrophilen Molekülenden sind zum extra- und intrazellulären Raum ausgerichtet, so dass die lipophilen Fettsäurereste das Innere der Zellmembranen bilden. Außer den Phospholipiden können noch Cholesterin, Glykolipide und Ähnliches in die Doppelschicht eingebaut sein. Nach dem Flüssig-Mosaik-Modell sind darüber hinaus noch Proteine am Aufbau der Zellmembranen beteiligt. Integrale Proteine durchziehen die Membran ganz oder teilweise, während sich periphere Proteine nur an ihrer Außenseite befinden. Die Proteine können Strukturproteine sein oder eine spezifische Funktion haben [4, S. 34, 86]. Zellmembranen sind aber keine statischen, sondern äußerst dynamische Gebilde [66, S. 67]. Sowohl Lipide als auch Proteine können leicht entlang der Membranfläche, aber nur schwer von einer Seite auf die andere wandern [86].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.6: Flüssig-Mosaik-Modell der Zellmembran [4, S. 68]

Aus toxikologischer Sicht ist die wichtigste Eigenschaft der Zellmembranen ihre selektive Permeabilität. Die physikochemischen Eigenschaften eines Giftes, wie Größe, Ladung, Lipophilität und die Ähnlichkeit mit endogenen Molekülen bestimmen, ob eine Membran passiert werden kann oder nicht [50, S. 37].

2.2.1.2.2 Resorptionsmechanismen

Toxische Substanzen können durch passive Diffusion, Filtration, aktiven Transport, erleichterte Diffusion, Pino- und Phagozytose sowie durch Persorption durch Zellmembranen hindurchtreten. Der wichtigste Mechanismus für die Resorption von Giften ist jedoch die passive Diffusion [66, S. 61].

Die passive Diffusion ist für sehr kleine polare Moleküle und kleine Ionen möglich, indem sie durch die Proteinporen in den Zellmembranen wandern. Ethanol kann beispielsweise auf diesem Weg Zellmembranen überwinden [50, S. 37]. Mit steigender Masse und zunehmender Größe der Hydrathülle wird der Durchtritt durch die Poren jedoch schwieriger. Lipophile Substanzen können dagegen direkt durch die Lipidschicht diffundieren [4, S. 34]. Die Größe der „Lipidfläche“ im Verhältnis zur „Porenfläche“ bestimmt deswegen, ob bevorzugt lipophile oder auch hydrophile Stoffe die Membran passieren können [40, S. 33].

Damit die passive Diffusion auftreten kann, muss es über die Membran hinweg lediglich einen Konzentrationsgradienten geben, infolgedessen wird keine Stoffwechselenergie benötigt. Die reine Diffusion kann durch analoge Stoffe und eine Blockade des Stoffwechsels nicht gehemmt werden [87, S. 10].

Mit Hilfe des Fick’schen Gesetzes kann die Kinetik der Diffusion beschrieben werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Diffusionsgeschwindigkeit Q, also die pro Zeiteinheit durch die Membran getretene Stoffmenge, ist proportional zur Konzentrationsdifferenz Dc zwischen beiden Membranseiten, zum Verteilungskoeffizienten VK der Substanz zwischen der Membran und der Umgebung und zur Membranfläche F sowie umgekehrt proportional zur Membrandicke d. Der Proportionalitätsfaktor D ist substanzspezifisch [40, S. 34, 66, S. 64].

Ein Toxikon kann auch durch Filtration durch eine Membran gelangen. Während sich bei der Diffusion nur der gelöste Stoff bewegt, tritt bei der Filtration das Lösungsmittel zusammen mit dem gelösten Stoff hindurch. Sofern der Durchtritt des Lösungsmittels durch die Membran nicht behindert ist, entspricht die Konzentration der gelösten Substanz im Filtrat der Ausgangskonzentration [88, S. 29].

Gifte können auch aktiv durch die Zellmembranen transportiert werden. Der aktive Transport erfolgt durch Transportmoleküle, so genannte Carrier, und ist deshalb sättigbar. Er kann entgegen eines Konzentrationsgefälles erfolgen. Daher wird für diesen Prozess Stoffwechselenergie benötigt. Der aktive Transport ist relativ strukturspezifisch und kann durch andere Substanzen gehemmt werden [40, S. 34f.]. Cadmium und Blei werden beispielweise über die Carrier transportiert, die normalerweise Calcium und Eisen aus der Nahrung resorbieren [40, S. 36].

Die erleichterte Diffusion unterscheidet sich vom aktiven Transport dadurch, dass keine Stoffwechselenergie benötigt wird. Auch hier werden vorhandene Transportsysteme genutzt, wobei die treibende Kraft für die Permeation durch die Membran jedoch ein Konzentrationsgradient zwischen den Membranseiten ist [40, S. 35, 87, S. 10].

Es gibt auch Mechanismen durch die eine toxische Substanz in das innere einer Zelle gelangen kann, ohne dass sie die Membran selbst überwinden muss. Bei der Endozytose bildet die Zellmembran Einbuchtungen, welche Makromoleküle und große Partikel in sich aufnehmen. Durch Abschnürung dieser Membranabschnitte und Verlagerung ins Zellinere entstehen Membranvesikel. Durch zelleigen Prozesse wird dann deren Inhalt in das Zytoplasma freigesetzt [66, S. 67f., 4, S. 34]. Werden auf diese Weise Flüssigkeiten aufgenommen spricht man von Pinozytose, bei Feststoffen dagegen von Phagozytose. Botulinustoxin wird beispielsweise auf diese Weise von Zellen aufgenommen [66, S. 68]. Bei der Persorption gelangen feste Partikel zwischen den Zellen hindurch. Dieser Aufnahmeweg ist nur für wenige Stoffe von Bedeutung, z. B. Eisenoxidpartikel [87, S. 10, 46, S. 12]. In Abbildung 2.7 sind die Transportmöglichkeiten von Giften durch Zellmembranen zusammenfassend dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.7: Transportmöglichkeiten von Giften durch Zellmembranen [4, S. 35]

2.2.1.2.3 Einflussfaktoren

Die Resorptionsgeschwindigkeit, also die pro Zeiteinheit durch die Membran getretene Stoffmenge, und die Resorptionsquote, also das Verhältnis von resorbierter zu resorbierbarer Menge, werden durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst. Da der wichtigste Transportmechanismus für die Resorption toxischer Substanzen die passive Diffusion ist, ist es zweckmäßig vom Fick’schen Gesetz (Kapitel 2.2.1.2.2) auszugehen.

Die Diffusionsgeschwindigkeit ist proportional zur Fläche der resorbierenden Membran. Deshalb ist zunächst zu betrachten, wie groß die Oberflächen der drei wichtigsten Eintrittspforten sind. Abbildung 2.8 zeigt in der Mitte die schematische Darstellung eines Menschen und im gleichen Maßstab dazu die Oberflächen von Lunge, Haut und Magen-Darm-Trakt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.8: Oberflächen des Menschen (verändert nach [66, S. 26])

Die großen Oberflächen von Lunge und Magen-Darm-Trakt sind notwendig, um den lebensnotwendigen Stoffaustausch mit der Umwelt zu sichern, also Sauerstoffaufnahme und Kohlenstoffdioxidabgabe sowie die Aufnahme fester und flüssiger Nahrung und Ausscheidung von Stoffwechselschlacken und Exkrementen. Die großen Oberflächen haben aber auch zur Folge, dass toxische Substanzen ebenso gut aufgenommen werden. Im Vergleich dazu ist die Fläche der Haut sehr klein. Dies ergibt sich daraus, dass sie dem Organismus als Schutz vor Umwelteinflüssen dienen soll [66, S. 26].

Die Dicke der resorbierenden Membran hat ebenfalls großen Einfluss auf die Resorption. Sie verhält sich umgekehrt proportional zur Resorptionsgeschwindigkeit. Entsprechend ihrer biologischen Funktion variiert die Membrandicke an den Resorptionsorten. In Abbildung 2.9 ist ein Bronchiolus der Lunge dargestellt. Man kann deutlich erkennen, dass ein über die Lungen aufgenommenes Gift nur zwei Zellen und den Zellzwischenraum überwinden muss, um von der Luft in den Blutkreislauf zu gelangen: die Alveolarepithelzellen und die Endothelzellen der Blutkapillarenraum. Daraus ergibt sich eine Strecke von weniger als 1 µm [4, S. 38].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.9: Darstellung eines Bronchiolus mit Kapillarnetz (links) und Ausschnitt aus der Alveolarwand im Bereich des Septums zwischen zwei Alveolen (rechts) [4, S. 39]

Die Haut stellt eine erheblich größere Barriere für Gifte dar. Abbildung 2.10 zeigt, dass eine Reihe verschiedener Membranen überwunden werden muss, bis ein toxischer Stoff ins Blut gelangen kann [40, S. 37].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.10: Schematische Darstellung des Aufbaus der Haut [4, S. 40]

Die wichtigste Barriere stellt die Hornschicht der Epidermis mit ihrem niedrigen Wassergehalt von 10 % dar [40, S. 37]. Die höchste Resorptionsquote besitzen daher lipidlösliche Substanzen, die noch eine gewisse Wasserlöslichkeit aufweisen, während sehr lipophile und hydrophile Stoffe kaum resorbiert werden [87, S. 13]. Ein sehr prominentes Beispiel hierfür stellt Nicotin dar, das sehr gut über die Haut resorbiert wird. Medizinisch wird diese Eigenschaft zur Raucherentwöhnung durch t ransdermale t herapeutische S ysteme (TTS), besser bekannt als „Nicotinpflaster“, eingesetzt [4, S. 40].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.11: Strukturformel von (S)-Nicotin

Die Dicke der Epidermis ist in den verschiedenen Körperbereichen sehr unterschiedlich. Sie reicht von 40 µm an den Augenliedern bis zu 1,6 mm an mechanisch stark beanspruchten Stellen wie den Handflächen und den Fußsohlen [87, S. 593]. Folglich ist die perkutane Resorption erheblich davon abhängig, welche Hautstelle mit einem Gift in Berührung kommt [40, S. 277].

Am Beispiel der Haut lassen sich noch zwei weitere Einflussfaktoren auf die Resorption verdeutlichen. Zum einen ist die Resorption vom Alter abhängig. Die Hornhaut von Säuglingen und Kleinkinder ist wenig ausgebildet, so dass von ihnen Gifte leichter resorbiert werden. Gleiches gilt für ältere Menschen, da die Haut mit zunehmendem Alter wieder dünner wird. Im Greisenalter spricht man daher sogar von Papierhaut [40, S. 37]. Zum anderen ist die Resorption von der Spezies abhängig. Die Übertragung toxikologischer Daten zur Resorption aus Tierexperimenten sind aus diesem Grund sehr kritisch zu betrachten. Die Haut von Ratten, Mäusen und Kaninchen ist für Giftstoffe gewöhnlich durchlässiger als die menschliche Haut. Dagegen ist die Haut von Affen und Schweinen eher mit dieser vergleichbar. Während die perkutane Resorptionsquote des Insektizids Parathion (E 605® ) bei Kaninchen 98 % beträgt, liegt sie beim Menschen bei 10 % und bei Schweinen bei 14 % [40, S. 37f.].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.12: Strukturformel von Parathion

Einen großen Einfluss auf die Resorption hat auch die Kontaktzeit mit der resorbierenden Membran. Obwohl die resorbierende Membranfläche im Magen nur 0,2 m2 beträgt, muss der Magen aufgrund der langen Verweilzeit von mehreren Stunden aus toxikokinetischer Sicht dennoch als Resorptionsfläche berücksichtigt werden [4, S. 36]. Die Dauer der Magenpassage, Magenmotilität und Magensaftproduktion werden durch die Einnahme von Nahrung beeinflusst, wodurch wiederum die Resorptionskinetik verändert wird. Ethanol wirkt durchblutungsfördernd und verbessert auf diese Weise die Resorption. Ähnliches gilt für den Dünndarm. Aufgrund seiner Länge beträgt die Passagezeit etwa vier Stunden, woraus sich zusammen mit der großen Oberfläche die gute Resorptionseigenschaft ergibt. Durch dünndarmwirksame Laxantien wie Glaubersalz (Na2SO4 · 10 H2O) oder Diarrhö wird die Kontaktzeit und damit auch die Resorptionsfähigkeit herabgesetzt [87, S. 12].

Nach dem Fick’schen Gesetz ist die Resorptionsgeschwindigkeit proportional zur Konzentrationsdifferenz zwischen beiden Seiten der Zellmembranen und damit auch proportional zur Dosis des Giftes. Die Chemikerweisheit „Viel hilft viel!“ trifft in Bezug auf Vergiftungen voll und ganz zu.

Außerdem verhält sich die Resorptionsgeschwindigkeit proportional zum Verteilungskoeffizienten der Substanz zwischen der Membran und der Umgebung. Dieser wird wiederum im Wesentlichen von der Lipophilität der Substanz bestimmt. Ein gebräuchliches Maß für die Lipophilität eines Stoffes ist ihr Verteilungsquotient zwischen 1-Octanol und Wasser, welcher üblicherweise in logarithmischer Form als log POW angegeben wird [40, S. 34f.]. Mit steigendem log POW nimmt die Resorbierbarkeit einer Substanz zunächst zu, erreicht ein Maximum und sinkt schließlich wieder. Dieses Verhalten wird folgendermaßen erklärt: Stoffe mit niedriger Lipophilität (log POW < 0,5) sind sehr hydrophil und können nur schwer aus der wässrigen Umgebung in die Membran eintreten, so dass die Resorptionsgeschwindigkeit niedrig ist. Stoffe mit mittlerer Lipohilität (0,5 < log POW < 2) können leicht in die Zellmembran eintreten und diese wegen ihrer ebenso vorhandenen Hydrophilität auch leicht wieder verlassen, woraus eine hohe Resorptionsgeschwindigkeit resultiert. Stoffe mit hoher Lipohilität (log POW > 2) sind sehr hydrophob und können zwar sehr leicht in die Membran eindringen, aus dieser jedoch nur schwer wieder austreten. Sie akkumulieren in der Zellmembran und zeigen somit eine sehr niedrige Resorptionsgeschwindigkeit [40, S. 34f.].

Der Einfluss der Lipophilität auf die Resorption und damit auf die Giftigkeit einer Substanz kann anhand strukturell sehr ähnlicher Stoffe demonstriert werden. Als Beispiel eignen sich die zinnorganischen Verbindungen der Butylreihe.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.13: Strukturformeln der zinnorganischen Verbindungen der Butylreihe

Abbildung 2.14 zeigt einen Vergleich der Toxizität und der Lipophilität dieser zinnorganischen Verbindungen. Die LD50-Werte wurden der Literatur entnommen [4, S. 26], während die log POW –Werte anhand der CAS-Nummern der Verbindungen mit dem Programm LogKow der Firma Syracuse Research Corporation berechnet wurden [89]. Man kann deutlich sehen, dass mit zunehmender Zahl der Butylreste die Lipophilität ansteigt. Im gleichen Maße nimmt zunächst auch die Toxizität der Verbindungen zu bzw. die LD50-Werte sinken. Tetrabutylzinn zeigt dann jedoch eine geringere Toxizität als Tributylzinnmonochlorid. Die Toxizität steigt also nicht kontinuierlich, sondern zeigt eher einen parabolischen Verlauf.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.14: Vergleich der Toxizität und der Lipophilität zinnorganischer Verbindungen der Butylreihe.

Die Ionisation einer Substanz hat ebenfalls einen großen Einfluss auf die Resorbierbarkeit. Weil geladene Teilchen hydrophil sind, werden sie von Lipidmembranen nicht resorbiert [40, S. 35]. Diesem Umstand verdanken die südamerikanischen Indianer, dass sie durch den Verzehr ihrer mit Curare erlegten Beutetiere nicht tödlich vergiftet werden. Von den ca. 40 Alkaloiden, die das Pfeilgift enthält, sind nur diejenigen giftig, die zwei quartäre Stickstoffatome besitzen. Das Hauptalkaloid Tubocurarin wird wegen seiner vollständigen Ionisation und seiner Molekülgröße vom Magen-Darm-Trakt jedoch nicht resorbiert [4, S. 36, 90].

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Abbildung 2.15: Strukturformel von Tubocurarindichlorid

Auch die Ladung der Membranporen kann die Resorption eines Stoffes behindern. Die Resorption zweifach negativ geladener Ionen, wie Sulfationen, ist aus diesem Grund durch die negative Barriere der Darmschleimhaut sehr schwierig [88, S. 29].

Der Dissoziationsgrad toxischer Stoffe ist auch vom pH-Wert abhängig, sofern es sich um schwache Säuren oder schwache Basen, wie Blausäure (HCN) oder Coniin (Abbildung 2.16), handelt. Coniin ist der Hauptwirkstoff des Gefleckten Schierlings (Conium maculatum), der wiederum im Schierlingsbecher enthalten war, mit dem Sokrates in Athen zum Selbstmord gezwungen wurde [46, S. 256]. Weil schwache Säuren und Basen überwiegend in ihrer nicht ionisierten Form durch Membranen diffundieren, spricht man von nichtionischer Diffusion.

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Abbildung 2.16: Strukturformel von (S)-Coniin

Die Resorptionsgeschwindigkeit solcher Gifte wird daher durch den pH-Wert auf den beiden Seiten einer Membran beeinflusst. Da der pH-Wert des Blutes bei gesunden Menschen zwischen 7,36 und 7,44 liegt, ist der pH-Wert am Resorptionsort entscheidend. Der pH-Wert innerhalb des Verdauungstrakts des Menschen reicht von stark sauer bis schwach alkalisch. Er beträgt in Mund und Rachen 6,2-7,2, im Magen 1,0-3,0, in nüchternem Zustand dagegen 7,0, im Zwölffingerdarm 4,8-8,2, im Dünndarm 6,3-7,6 und im Dickdarm schließlich 7,6-8,0. Schwache Säuren und Basen werden daher an verschiedenen Stellen resorbiert. Abbildung 2.17 offenbart anhand von Benzoesäure und Anilin, dass Säuren bevorzugt im Magen, Basen dagegen vorwiegend im Darm aufgenommen werden. Die Stärke der Pfeile gibt die Resorptionsrate wieder.

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Abbildung 2.17: Wechsel des Ionisationsgrades und der Resorptionsfähigkeit von Anilin und Benzoesäure in Magen und Dünndarm [4, S. 38]

Der pH-Wert spielt auch bei der Resorption durch die Lunge eine Rolle. Im Rahmen der Prozesse, die in den letzten Jahren gegen die Zigarettenhersteller in den USA geführt wurden, kam heraus, dass diese seit geraumer Zeit wissen, dass der Zusatz basischer Ammoniumverbindungen in Zigaretten den pH-Wert des Zigarettenrauchs erhöht. Als Folge davon liegt mehr Nicotin in ungeladener Form als bei einem niedrigeren pH-Wert vor und kann so schneller resorbiert werden [91, S. 13f.]. Abbildung 2.18 zeigt einen Ausschnitt aus einem internen Dokument des Zigarttenherstellers RJ Reynolds aus dem Jahr 1973, das im Rahmen der Prozesse verwendet wurde.

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Abbildung 2.18: Ausschnitt aus einem internen Dokument des Zigarettenherstellers RJ Reynolds aus dem Jahr 1973 (entnommen aus [92])

Von der EU wurde in der Folgezeit in der Richtlinie 2001/37/EG beschlossen, dass Hersteller und Einführer von Tabakerzeugnissen jährlich eine Liste der verwendeten Zusatzstoffe veröffentlichen müssen, aus der hervorgeht, zu welchem Zweck die Stoffe zugesetzt werden [93]. Mit der Tabakprodukt-Verordnung vom 20. November 2002 wurde diese Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. „Den Inhalt der Listen gibt das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in geeigneter Weise bekannt. Eine Veröffentlichung der Listen ist in Vorbereitung.“ [94] Erfolgt ist sie indessen also noch nicht. Nach Auffassung von Nichtraucherorganisationen ist jedoch zu erwarten, dass sich auf diesen Listen Stoffe finden werden, die einen Anstieg des pH-Wertes verursachen. Die Firma Philip Morris hat inzwischen bestätigt, dass Zigaretten Ammoniak zugesetzt wird, dies erfolge aber nur aus geschmacklichen Gründen. Da dies nach Auffassung bundesdeutscher Gerichte nicht widerlegt werden kann, ist auch eine bewusste Manipulation der Produkte zur Erzeugung eines Nicotin-Kicks nicht zu beweisen [95].

2.2.1.2.4 Resorptionsmodelle

Die Resorption einer toxischen Substanz durch Zellmembranen spielt für die Giftwirkung eine entscheidende Rolle und kann mit Hilfe von In-vitro -Modellen simuliert werden. Hierbei ist nicht entscheidend, alle Eigenschaften der biologischen Membran nachzubilden, sondern es genügt, die Funktion der Membran zu modellieren, die für den Transport des Stoffes entscheidend ist, nämlich die passive Diffusion durch den lipophilen Membranteil [96, S. 112].

Zur Charakterisierung der Resorption wurde eine Reihe von Modellsystemen vorgeschlagen, das grundlegende Prinzip ist jedoch immer das Gleiche. Ein Donatorkompartiment, das die Bedingungen des Resorptionsortes nachahmt, und ein Akzeptorkompartiment, welches das Blut darstellt, in welches der toxische Stoff übertritt, sind durch eine lipophile Barriere voneinander getrennt. Dieses Prinzip wurde sowohl hinsichtlich der Apparaturen als auch der Membranen vielfältig variiert [96, S. 112]. Trotzdem lassen sich zwei grundsätzliche Arten unterscheiden: Verteilungsmodelle und Membranmodelle.

Bei den Verteilungsmodellen wird die Zellmembran durch eine lipophile Flüssigkeit simuliert, wobei sich 1-Octanol am geeignetsten erwiesen hat, da es die Funktionen natürlicher Membranen gut wiedergibt [97, S. 23]. Abbildung 2.19 zeigt den schematischen Aufbau des Dreiphasen-Verteilungsmodells. Der Nachteil dieser Modelle besteht darin, dass sich besonders lipophile Substanzen in der Lipidphase anreichern können [96, S. 113].

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Abbildung 2.19: Schematische Darstellung des Aufbaus eines Dreiphasen-Verteilungsmodells [97, S. 23]

Bei den Membranmodellen wird als Diffusionsbarriere eine Membran eingesetzt, die sowohl natürlicher als auch künstlicher Herkunft sein kann. Natürliche Membranen werden eingesetzt, weil man die In-vivo -Bedingungen möglichst gut nachahmen möchte. Daher werden beispielsweise Apfelschalen, Erythrozyten, Darm- und Magensegmente von Nagetieren und Harnblasen von Schweinen verwendet. Bei der „Doluisio“-Technik wird lebenden Ratten ein Teil des Darms abgebunden und mit der Substanzlösung durchspült. Der Nachteil bei diesen Membranen ist, dass sie nur im Rahmen spezieller Arbeitstechniken verwendet werden können und die Membranen schnell denaturieren, wodurch die Ergebnisse nur schwer reproduzierbar und vergleichbar sind [96, S. 114, 97, S. 22]. Künstliche Membranen zeigen diese Nachteile nicht. Sie bestehen aus einem Polymergerüst (z. B.: Cellulosseacetat, Polyamid, Polydimethylsiloxan) in das Lipide (z. B.: höhere Alkohole, Fettsäuren, Phospholipide) eingearbeitet sind. Als Herstellungstechnik für diesen Membrantyp hat sich die „Spreading“-Technik auf einer Quecksilberoberfläche durchgesetzt [96, S. 113]. Abbildung 2.20 zeigt den Aufbau des Permeationsmodells von Fürst und Neubert. Dieses Modellsystem erlaubt das gleichzeitige Durchführen von vier Versuchen. Durch Vibration wird eine gleichmäßige Durchmischung erreicht.

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Abbildung 2.20: Permeationsmodell nach Fürst und Neubert (verändert nach [96, S. 115])

Das Dreiphasen-Verteilungsmodell wurde von Salzner bereits für den Einsatz im Schulversuch erschlossen [97]. Im Rahmen dieser Arbeit wurde deshalb das Permeationsmodell von Fürst und Neubert auf seine Tauglichkeit für den Chemieunterricht getestet und optimiert. Als Diffusionsbarriere wurde eine Membran auf Basis von Collodium, also Cellulosenitrat, gewählt, in die 1-Dodecanol als Lipid eingearbeitet wurde. Barnetzky hatte 1872 als erster Collodiummembranen auf einer Glasplatte hergestellt, denen von Goldmann erstmals Lipide hinzugefügt wurden. Für die Verwendung einer Membran mit Collodiumgerüst im Unterricht spricht ihre einfache und reproduzierbare Herstellung sowie ihre trotz geringer Dicke gute Stabilität [96, S. 113].

2.2.2 Distribution

Ist ein Toxikon ins Blut gelangt, wird es im gesamten Organismus verteilt. Diesen Vorgang bezeichnet man als Distribution. Infolge des Konzentrationsgefälles vom Blut zu den Geweben erreicht das Gift die inneren Organe, weshalb das Blut auch als Zentral- oder Verteilungskompartiment bezeichnet wird [4, S. 41].

Damit toxische Substanzen die inneren Organe schädigen können, müssen sie aus der Blutbahn ins Gewebe übertreten, wobei wieder Membranen zu überwinden sind. Für die Verteilung gelten somit die gleichen Einflussfaktoren wie für die Resorption [50, S. 46]. Die Distribution wird aber noch von anderen Faktoren gesteuert. Für die Einstellung eines Verteilungsgleichgewichts, bei dem konstante Konzentrationsverhältnisse in den einzelnen Körpergeweben herrschen, sind die physikochemischen Eigenschaften des Giftes und der Gewebe, besonders aber auch der Aufbau der Kapillaren, verantwortlich [40, S. 40].

Die Kapillaren sind für die Verteilung von Giften bedeutend, weil sie aufgrund ihrer Länge von etwa 95 000 km eine riesige Austauschfläche von 6 000-8 000 m2 bieten. Im menschlichen Körper gibt es verschiedene Kapillartypen. Einige Kapillargebiete zeigen eine selektive Stoffdurchlässigkeit, z. B. die Blut-Hirn-Schranke, und wirken so als Barrieren, während andere aufgrund ihrer Funktion im Organismus relativ durchlässig sind, z. B. in den Nieren [46, S. 14]. Tabelle 2.4 zeigt die Permeabilität wichtiger biologischer Membranen.

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Tabelle 2.4: Permeabilität wichtiger biologischer Membranen (verändert nach [40, S. 34])

Die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Durchlässigkeit lässt sich am Beispiel des Quecksilbers erörtern. Die Giftwirkung anorganischer und organischer Quecksilberverbindungen beruht auf der Wechselwirkung mit Thiolgruppen von Enzymen. Während anorganische Hg2+ -Ionen vor allem zu Nierenschäden führen, bewirken organische Quecksilberverbindungen („Methylquecksilber“ H3C–Hg+ ) neurologische Schädigungen. Diese können wegen ihrer größeren Lipophilität leicht in das zentrale Nervensystem gelangen [50, S. 160f.].

Bevor das Verteilungsgleichgewicht erreicht ist, wird die Verteilung vor allem von der Durchblutung der Gewebe bestimmt. Tabelle 2.5 zeigt die Durchblutung einzelner Organe bei Erwachsenen.

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Tabelle 2.5: Durchblutung einzelner Organe und Gewebe bei Erwachsenen (verändert nach [40, S. 34])

Toxische Substanzen verteilen sich zunächst in den gut durchbluteten Geweben, erst danach erfolgt eine Umverteilung in die Kompartimente, zu denen eine große Affinität besteht. Die Durchblutung bestimmt folglich die Geschwindigkeit, mit der ein Stoff verteilt wird. Ein Beispiel für diese Umverteilung ist das „Seveso-Dioxin“ TCDD (2,3,7,8-Tetrachlorodibenzo[1,4]dioxin). Kurz nach der Applikation finden sich 15 % der Dosis in der Lunge und lediglich 1 % im Fettgewebe, nach 24 Stunden befinden sich jedoch nur noch 0,3 % in der Lunge, aber 20 % im Fettgewebe [40, S. 41]. Als Depot für Gifte kann aber nicht nur das Fettgewebe dienen, sondern auch andere Kompartimente. Das Herbizid Paraquat-dichlorid kumuliert in der Lunge, weil es dort ein selektives, aktives Transportsystem für Polyamine nutzt [50, S. 134]. Blei, Strontium und Fluorid werden in die Knochen eingelagert, Arsentrioxid dagegen in keratinhaltige Gewebe wie Haut, Nägel und Haare [40, S. 41].

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Abbildung 2.21: Strukturformeln von TCDD (links) und Paraquat (rechts)

Großen Einfluss auf die Verteilung eines Giftes hat auch seine Bindung an Plasma- und Gewebeproteine, da proteingebundene Substanzen biologische Membranen nicht passieren können [40, S. 43]. Abbildung 2.22 verdeutlicht diesen Zusammenhang graphisch.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.22: Einfluss der Proteinbindung auf den Stoffaustausch (verändert nach [46, S. 15])

Dies hat weitreichende Konsequenzen. Zum einen kann der gebundene Anteil des Giftes nicht an den eigentlichen Wirkort gelangen, sofern sich dieser im Inneren einer Zelle befindet. Zum anderen kann er aber auch nicht aus dem Körper ausgeschieden werden (Die Ausscheidung von Giften wird in den folgenden Kapiteln behandelt). Der proteingebundene Teil einer resorbierten Giftdosis stellt also ein Depot dar, das einerseits den Organismus vor einem toxischen Stoff schützt, andererseits dafür sorgt, dass er lange verfügbar bleibt [40, S. 44]. Ferner wirkt diese Bindung auch auf die Geschwindigkeit des Stoffaustauschs ein, da die Diffusionsgeschwindigkeit nach dem Fick’schen Gesetz (siehe Kapitel 2.2.1.2.2)zum Konzentrationsgradienten proportional ist [46, S. 14].

Das Ausmaß der Proteinbindung kann sehr unterschiedlich sein und aus der Struktur einer Verbindung nur schwer vorhergesagt werden. Während Ethanol und Coffein gar nicht gebunden werden, liegt der gebundene Anteil von Nicotin bei 30 % und der von DDT sogar bei 99,9 % [40, S. 42f.].

Da Proteine nicht in unbegrenzter Menge zur Verfügung stehen, ist die Proteinbindung sättigbar. Wird Salicylsäure als Medikament in niedriger Dosierung verwendet, so beträgt die Proteinbindung über 90 %. In der Rheumatherapie werden höhere Dosen eingesetzt, wodurch 50 % der Salicylsäure ungebunden vorliegen [40, S. 43]. Auch durch das Alter wird die Proteinbindung beeinflusst. Im Alter ist die Proteibindung aufgrund einer geringeren Plasmaalbuminkonzentration erniedrigt [87, S. 34].

Um den Schweregrad einer Vergiftung abschätzen zu können, ist es wichtig die Konzentration des Giftes am Rezeptor zu kennen. Da diese nicht gemessen werden kann, wird die leichter bestimmbare Konzentration des ungebundenen Giftstoffs im Blut als Entscheidungsgrundlage verwendet [46, S. 14]. Aus dem Blutwert werden dann Konsequenzen für das weitere vorgehen gezogen. Mit Hilfe des Verteilungsvolumens VD kann man die aufgenommene Dosis des Giftes berechnen. Dieses ist definiert als Proportionalitätsfaktor zwischen der im Organismus vorhandenen Giftmenge M und seiner Konzentration im Plasma c. Es gilt die Beziehung:

M = VD · c

Das Verteilungsvolumen ist somit eine hypothetische Größe, die angibt, welches Körperflüssigkeitsvolumen notwendig wäre, wenn die gesamte Dosis in gleicher Konzentration verteilt wäre wie im Plasma. Seine Größe hängt folglich zum einen von den realen Verteilungsräumen (intra- und extrazelluläre Flüssigkeit) und zum anderen von den oben genannten Depots ab und kann deshalb sehr unterschiedlich sein [79, S. 6, 40, S. 39]. Das Verteilungsvolumen wird in L/kg Körpergewicht angegeben, um eine vom Körpergewicht unabhängige Größe zu erhalten [1, S. 26]. Für Thallium beträgt das Verteilungsvolumen 20, für Paracetamol 1 und für Acetylsalicylsäure sogar nur 0,15 L/kg Körpergewicht [40, S. 39, 79, S. 142 und 58].

Häufig dauert es jedoch eine gewisse Zeit bis die maximale Plasmakonzentration eines Giftes erreicht ist [79, S. 7]. Bei einer Intoxikation mit Paracetamol kann beispielsweise frühestens vier Stunden nach der Einnahme anhand des Blutwertes der zu erwartende Schaden sicher bestimmt werden [79, S. 143, 62, S. 349f.]. Man kann daher bei bekannter eingenommener Stoffmenge die zu erwartende Konzentration mit Hilfe des Verteilungsvolumens berechnen und angemessene Maßnahmen frühzeitig einleiten.

2.2.3 Evasion

Statt des Begriffs Evasion wird auch der Terminus Elimination verwendet. Unter beiden Begriffen werden aber die Vorgänge zusammengefasst, die für die Verringerung der Giftmenge in einem Organismus sorgen: Exkretion und Biotransformation [1, S. 27]. Unter Exkretion versteht man die Verringerung der Giftmenge durch Ausscheidung aus dem Körper und unter Biotransformation die chemische Umwandlung eines Giftes in eine andere Verbindung. Die Biotransformation wird daher auch als Biotransformation bezeichnet. Beide Vorgänge bestimmen die Wirkung eines Giftes wesentlich, weil eine schnelle Evasion die Dauer und die Wahrscheinlichkeit des Aufenthalts eines Toxikons am Wirkort und damit auch die schädliche Wirkung verringert [50, S. 50 und 56]. Für viele Giftstoffe ergibt sich bei Variation ihrer Konzentration am Wirkort c und ihrer Einwirkzeit t die gleiche Wirkung W, sofern das Produkt aus c und t konstant ist. Wie Abbildung 2.23 zeigt, ergibt sich im c - t -Diagramm eine Hyperbel, deren Scheitel bei zunehmender Wirkung weiter vom Koordinatenursprung entfernt liegt. Die willkürliche Wirkung „4“ wird durch ein Toxikon bei der Konzentration c und der Einwirkzeit t erreicht. Die gleiche Wirkung erzielt man jedoch auch bei vierfacher Einwirkzeit mit einem Viertel der Stoffmenge. Für Stoffe mit Schwellenkonzentration cs ist die Hyperbelschar nach oben verschoben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.23: Abhängigkeit der Wirkung eines Giftes von der Konzentration und der Einwirkzeit (verändert nach [46, S. 5])

Die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Konzentration und Einwirkzeit ist Fritz Haber zu verdanken, der ihn 1915 im Rahmen seiner Forschungen zum Einsatz von Giftgas im 1. Weltkrieg erstmals experimentell belegte. Dieser wird daher Habersche Regel oder auch wertend Habersches Tödlichkeitsprodukt genannt. [44, S. 8, 88, S. 818]. Die entsprechende mathematische Gleichung lautet wie folgt:

c · t = const = W bzw. (c - cs) · t = const = W

Ein Maß für die Verringerung der Giftmenge ist die Eliminationshalbwertszeit. Sie ist definiert als die Zeit, die benötigt wird, um eine Substanz zur Hälfte auszuscheiden [50, S. 50]. Auch sie kann wieder von Stoff zu Stoff sehr unterschiedlich sein. Während die Halbwertszeit von DDT etwa 1 Jahr beträgt [40, S. 706], wird Acetylsalicylsäure innerhalb von nur 15-20 Minuten zur Hälfte ausgeschieden [98, S. 43]. Die sehr unterschiedlichen Halbwertszeiten zeigen, dass die Exkretion und die Biotransformation toxischer Stoffe recht unterschiedlich verlaufen können. Im Folgenden wird deshalb auf die Mechanismen eingegangen, die diesen beiden Vorgängen zugrunde liegen. Um verstehen zu können, welchen Zweck die Biotransformation eines Gifts hat, muss zuerst betrachtet werden, auf welchen Wegen Gifte einen Organismus verlassen können. Es wird dementsprechend zuerst die Exkretion untersucht.

2.2.3.1 Exkretion

Toxische Substanzen können über Nieren, Leber, Lunge, Haut und deren Anhangsorgane, Haare und Nägel, sowie Körpersekrete ausgeschieden werden. Welchen Weg eine Substanz aus dem Körper nimmt wird im Wesentlichen von ihren physikochemischen Eigenschaften beeinflusst.

Die Ausscheidung über Körpersekrete wie Schweiß, Speichel, Sperma, Talg und Tränen spielt quantitativ ebenso wenig eine Rolle [4, S. 51] wie die Exkretion über Haare und Nägel. Letztere könne aber für den Nachweis und den Zeitpunkt einer Giftexposition (Schwermetalle: Arsen, Zink, Blei, Thallium; Drogen: Heroin, Morphin) genutzt werden [66, S. 88, 40, S. 277]. Eine Ausnahme bildet die Muttermilch. Verglichen mit dem Blutplasma weist sie einen niedrigeren pH-Wert und höheren Fettgehalt auf, so dass sich lipophile, basische Gift wie Nicotin dort anreichern und den Säugling schädigen können [87, S. 20]. DDT reichert sich in der Milch derart an, dass das Kind bezogen auf das Körpergewicht einer größeren Dosis ausgesetzt wird als die Mutter [50, S. 56]. Die Lunge stellt einen wichtigen Ausscheidungsweg für flüchtige Verbindungen wie organische Lösungsmittel und Gase dar, weil die zu überwindende Barriere sehr dünn ist (siehe Abbildung 2.9) und ein beständiger Konzentrationsgradient besteht. Dieser ergibt sich daraus, dass Gase sehr schnell aus der Lunge entfernt werden und ein schneller Blutfluss durch die Lunge besteht [50, S. 55]. Die allermeisten toxischen Stoffe werden jedoch über die Nieren in den Urin sowie über Leber und Galle in die Fäzes ausgeschieden [46, S. 16].

Die funktionelle Einheit der Niere ist das Nephron, das sich in das Nierenkörperchen (Glomerulus und Bowmansche Kapsel) und das Nierenkanälchen (proximaler und distaler Tubulus) gliedert. Seinen schematischen Aufbau zeigt Abbildung 2.24.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.24: Aufbau des Nephrons (links) mit Details des Nierenkörperchens (rechts) (verändert nach [4, S. 52])

Die in das Nephron führende Arteriola afferens verzweigt sich innerhalb der Bowmanschen Kapsel in etwa 30 Kapillarschlingen, den Glomerulus. Die Kapillaren weisen große Fenster auf und wirken so als Molekularsieb [1, S. 201]. Substanzen bis zu einem Molekulargewicht von 5 000 u werden ungehindert durchgelassen. Mit zunehmender Größe wird der Durchtritt immer mehr behindert. Als Ausschlussgrenze werden 50 000-70 000 u angegeben, weil die Durchlässigkeit auch noch von der Form und der Ladung der Moleküle beeinflusst wird (glomeruläre Filtration) [87, S. 561, Taschenatlas 46, S. 16, Lüllmann 1, S. 201]. Die kleinsten Plasmaproteine, die Albumine, besitzen bereits ein Molekulargewicht von 70 000 u, so dass das entstehende Ultrafiltrat (Primärharn) praktisch eiweißfrei ist [87, S. 561]. Da die Löslichkeit keinen Einfluss auf die Filtration hat, finden sich darin sowohl hydrophile als auch lipophile Gifte [87, S. 34f.]. Pro Tag werden etwa 150 bis 200 Liter Primärharn gebildet, dessen Zusammensetzung somit abgesehen von den Makromolekülen und den an diese gebundenen Stoffen der des Blutplasmas entspricht [4, S. 51].

Im weiteren Verlauf des Nephrons gelangt der Primärharn von den Glomeruli über die Tubuli in die Sammelrohre, welche in die Blase führen. In den Tubuli wird die Zusammensetzung des Primärharns erheblich verändert. Einerseits werden für den Körper wichtige Stoffe, wie Aminosäuren, Glucose und Elektrolyte, aktiv und passiv resorbiert (tubuläre Rückresorption). Vor allem wird jedoch Wasser aufgenommen, wodurch das Volumen das Primärharns auf 1,5 bis 2 Liter eingeengt wird. Lipidlösliche Substanzen gehen nahezu vollständig ins Blut über, sofern sie nicht aufgrund des pH-Wertes des Urins (4,8-7,5) in ionischer Form vorliegen. Andererseits können über aktive Transportmechanismen organische Säuren und Basen gegen einen Konzentrationsgradienten an den Harn abgegeben werden (tubuläre Sekretion). Hierbei können auch proteingebundene Gifte ausgeschieden werden [87, S. 35f., 4, S. 51, 1, S. 201].

Dieser renale Ausscheidungsweg ist besonders für kleine wasserlösliche Substanzen wichtig, während beim Menschen Stoffe mit einem Molekulargewicht ab etwa 475 u biliär, also über die Leber, in die Galle ausgeschieden werden [40, S. 49]. Für andere Spezies kann dieser Wert abweichen. Tabelle 2.6 zeigt das Verhältnis von renaler und biliärer Ausscheidung bei Ratten in Abhängigkeit vom Molekulargewicht.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2.6: Renale und biliäre Ausscheidung bei Ratten in Abhängigkeit vom Molekulargewicht (verändert nach [40, S. 49])

Die passive Diffusion toxischer Stoffe aus dem Plasma in die Gallenflüssigkeit und in das Darmlumen ist zwar möglich, sie ist aber ineffizient und langsam [40, S. 49]. Relevant ist sie für die Elimination von Schwermetallionen [87, S. 36]. Die meisten Gifte gelangen über aktive Transportmechanismen von der Leber in die Galle. Bislang wurden vier Carrier identifiziert, und zwar einer für polare, neutrale Verbindungen, einer für organische Basen und zwei für organische Säuren [40, S. 49]. In die Galle werden also hydrophile Stoffe abgegeben, so dass die Rückresorption in den Gallenkanälchen praktisch keine Rolle spielt [66, S. 94f.].

Mit der Galle werden toxische Substanzen und ihre Abbauprodukte (siehe das folgende Kapitel) in den Darm abgegeben. Dort können die Stoffe rückresorbiert werden, besonders wenn sie durch die Bakterien der Darmflora in lipophilere Verbindungen umgewandelt werden [40, S. 49]. Über die Pfortader (Vena portae) gelangen die resorbierten Stoffe dann direkt zurück in die Leber. Dieser so genannte enterohepatische Kreislauf kann folglich die Halbwertszeit einer Verbindung erhöhen [50, S. 54]. Umgekehrt sorgt er jedoch auch dafür, dass oral aufgenommene Gifte vom Darm direkt in die Leber, das Entgiftungszentrum des Organismus, gelangen und dort unschädlich gemacht werden können, bevor andere Organe erreicht werden. Diesen Vorgang bezeichnet man als First-pass-Effekt [87, S. 29]. Physiologisch gesehen ist dieser Kreislauf lebenswichtig, weil die Gallenflüssigkeit für die Verdauung der Fette notwendig ist. In Abbildung 2.25 sind die Fettemulgierung durch Gallensäuren und der enterohepatische Kreislauf schematisch dargestellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.25: Schematische Darstellung der Fettemulgierung im Darm und des enterohepa­tischen Kreislaufs [4, S. 53]

Da der Ausscheidung über die Leber ein aktiver Transportmechanismus zugrunde liegt, kann sie beeinflusst werden. Hohe Konzentrationen können die Carrier sättigen, wodurch es zu einer erhöhten Exposition und Schädigung der Leber kommt [50, S. 54]. Auch das Alter hat hier Einfluss. Bei Neugeborenen sind die Transportmechanismen der Leber ebenso wie die der Niere noch nicht voll entwickelt [66, S. 93 und 95].

2.2.3.2 Biotransformation

Es ist nun leicht zu verstehen, welchen Zweck die Biotransformation toxischer Verbindungen hat. Einerseits sind Lebewesen aufgrund ihres Aufbaus aus Zellen, die durch Lipidmembranen begrenzt werden, in erster Linie durch die Resorption von Stoffen mittlerer Lipophilität gefährdet. Andererseits haben sich im Laufe der Evolution Ausscheidungswege etabliert, mit denen sich hydrophile Substanzen besonders gut aus dem Organismus eliminieren lassen. Somit musste sich auch ein System entwickeln, welches lipophile Stoffe in hydrophile umwandeln kann.

Da sich im Laufe der Entwicklungsgeschichte die Umweltbedingungen permanent veränderten, hatten diejenigen Organismen Vorteile, die mit wenigen Enzymklassen viele verschiedene Substrate metabolisieren konnten. Es gibt aber auch sehr spezifisch arbeitende Enzyme, die jedoch eigentlich der Biotransformation endogener Substanzen dienen und lediglich strukturell sehr ähnliche Verbindungen als Substrate verwenden können [40, S. 68]. Giftige Stoffe können in Leber, Niere, Lunge, Haut und Plasma metabolisiert werden, allerdings findet man die meisten für die Biotransformation zuständigen Enzyme in den Zellen der Leber, genauer gesagt am glatten Endosplasmatischen Retikulum [46, S. 14, , S. 28]. Aus diesem Grund wird die Leber auch als das Entgiftungszentrum des Organismus bezeichnet [4, S. 44].

Abbildung 2.26 zeigt, welchen Weg toxische Substanzen durch die Leberzellen nehmen. Über die Pfortader (V. portae) und die Leberarterie (A. hepatica) gelangen sie in die Leber und treten in die Leberzellen (Hepatozyten) über (gelbe Pfeile). Am glatten endoplasmatischen Retikulum (ER) werden sie metabolisiert. Die hydrophilen Metaboliten gelangen dann mittels aktiver ATP-abhängiger Transportmechanismen in die Gallenkanäle (Galle-Canalicus) oder zurück ins Blut (blaue Pfeile) [1, S. 28].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.26: Schematische Darstellung einer Leberzelle [1, S. 28]

Bei der Biotransformation einer toxischen Substanz kann man in der Regel zwei Phasen unterscheiden. Nachfolgend werden deshalb typische Phase-I- und Phase-II-Reaktionen vorgestellt. Im Anschluss daran wird auf die Beeinflussung der Biotransformation und die Gefährdung des Organismus durch die Biotransformation eingegangen.

2.2.3.2.1 Phase-I-Reaktionen

In Phase I der Biotransformation wird in eine Verbindung eine funktionelle Gruppe eingeführt oder demaskiert, weshalb Phase-I-Reaktionen auch als Funktionalisierungsreaktionen bezeichnet werden. Die bei weitem größte Bedeutung für die Biotransformation toxischer Substanzen haben Oxidationsreaktionen. Gifte können jedoch auch durch Reduktionsreaktionen und Hydrolysereaktionen metabolisiert werden [40, S. 68, 87, S. 21-25]. Wie einige der unten aufgeführten Beispiele zeigen, können verschiedene Phase-I-Reaktionen nacheinander oder parallel ablaufen, so dass es für eine Substanz häufig mehrere Produkte gibt.

Die wichtigsten Enzymsysteme für Oxidationsreaktionen sind das Cytochrom-P450-System (CYP), Flavin-haltige Monooxygenasen (FMO), Monoaminooxidasen (MAO), Prostaglandinsynthase (PGS), Dehydrogenasen [40, S. 69-76, 4, S. 44-48, 50, S. 59-63]. Sie katalysieren die Oxidation aliphatischer Ketten, die Epoxidierung von Olefinen und Aromaten, die Oxidation von Alkoholen und Aldehyden, die Oxidation von Hetero­atomen, die oxidative Desalkylierung von Heteroatomen und den Ersatz von Hetero­atomen durch Sauerstoff [87, S. 21f., 40, S. 69]. In den folgenden Abbildungen sind einige Beispiele dargestellt, wobei jeweils nur das Edukt und die Produkte gezeigt sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.27: Oxidation von Toluol

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Abbildung 2.28: Epoxidierung von Aflatoxin B1

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Abbildung 2.29: Oxidation von Ethylenglykol zu Oxalsäure

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Abbildung 2.30: Desalkylierung von Ecstasy

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Abbildung 2.31: Oxidative Desulfurierung von Parathion

Reduktionsreaktionen werden häufig von denselben Enzymen katalysiert, die auch die oxidative Biotransformation ermöglichen, weshalb man von Oxidoreduktasen spricht. Das Cytochrom-P450-System kann beispielsweise ein aus einer Oxidation stammendes Elektron statt auf Sauerstoff auch auf ein anders Substrat übertragen. Eine toxikologisch sehr bedeutendes Enzym ist die Menadion-Oxidoreduktase [40, S. 76-78]. Sie ist ein Zwei-Elektronen-Transfer-Enzym, wodurch radikalische Zwischenstufen vermieden werden. Die am häufigsten katalysierten Reaktionen sind Reduktionen von Nitro- und Azogruppen sowie die Dehalogenierung [50, S. 63, 40, S. 78, 87, S. 24]. Von geringerer Bedeutung ist die Reduktion von Doppelbindungen, Aldehyden und Ketonen [50, S. 63]. Beispiel hierzu präsentieren die nachstehenden Abbildungen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.32: Biotransformation von Anilin und Nitrobenzol

[...]


[1] Diese Bezeichnung schließt im gesamten Text die feminine Form mit ein. In Fällen, in
denen eine geschlechtsspezifische Betrachtung gewollt ist, wird dies ausdrücklich betont.

Ende der Leseprobe aus 200 Seiten

Details

Titel
Toxikologie - Todsicher ein Thema für den Chemieunterricht
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Didaktik der Chemie)
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
200
Katalognummer
V73039
ISBN (eBook)
9783638634267
ISBN (Buch)
9783656057994
Dateigröße
3567 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit bietet im ersten Teil eine allgemeine Einführung in das Thema Toxikologie. Im zweiten Teil werden Versuche vorgestellt, die im Chemieunterricht durchgeführt werden können und eine experimentelle Erarbeitung des Themas ermöglichen.
Schlagworte
Toxikologie, Todsicher, Thema, Chemieunterricht
Arbeit zitieren
Thorsten Dollmetsch (Autor:in), 2004, Toxikologie - Todsicher ein Thema für den Chemieunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/73039

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