Muslime im 16. Deutschen Bundestag


Hausarbeit, 2007

33 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen
2.1 Islam und Muslime
2.2 Migration

3. Kurzbiographien muslimischer Abgeordneter

4. Politische Motive und Tätigkeitsfelder muslimischer Abgeordneter

5. Unterstützung für islamische Abgeordnete
5.1 Staatsangehörigkeit und politische Partizipation
5.2 Wahlverhalten muslimischer Wähler
5.3 Verbandsfärbung muslimischer Abgeordneter
5.4 Unterstützung innerhalb ihrer Parteien

6. Fazit

Quellenverzeichnis

Anhang
Tabelle 1: Übersicht
Tabelle 2: Migranten- und Islamverbände in der „Lobbyliste“

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Glaube und Politik sind in unserer scheinbar laizistischen Gesellschaft immer noch zwei zusammengehörende Bestandteile, die sich im politischen Alltag kaum verbergen. Deutlich zuerkennen ist das „C“ in den Kürzeln der Christlich-Sozialen und Christlich-Demokratischen Partei. Zu nennen ist die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe“ die laut Artikel 64 des Grundgesetzes bei Vereidigungen von Kabinettsmitgliedern und Bundespräsidenten gesprochen werden kann. Zu nennen ist die dauernde Auseinandersetzung mit Werten in unserer Demokratie. Werte, die nicht nur durch den Glauben geprägt wurden, aber unbestreitbar dem Einfluss des christlichen Europas unterlagen.

Christen sind in unseren Tagen nicht mehr die einzigen gläubigen Politiker in Deutschland. Bereits seit Jahren bestimmen Musliminnen und Muslime in den höheren Etagen der Politikhierarchie mit. Dabei sind sie den gleichen Wertfragen ausgesetzt, denen alle Politiker[1] unterliegen. Resultierend aus der geringen öffentlichen Betrachtung und fehlender wissenschaftlicher Berücksichtigung ist das einigen Deutschen nicht bekannt und oft kommt dem Unbekannten, aus Angst und Unwissenheit, Ablehnung entgegen. Die vorliegende Arbeit möchte das vermeintlich Unbekannte beleuchten. Es soll gezeigt werden, welche muslimischen Abgeordnete im Deutschen Bundestag wirken, was ihre Wurzeln sind und welche Unterstützung sie durch verschiedene politische Akteure erhalten. Kurzum: Gibt es für muslimische Abgeordnete spezifische Besonderheiten ihres politischen Agierens?

Als methodische Vorgehensweise bot sich die komparative Analyse an. Die Fallzahl der muslimischen Abgeordneten ist gering. Schwierigkeiten gab es bei der genauen Identifizierung der Fälle. Nicht alle Abgeordneten machten in der Selbstauskunft des Deutschen Bundestages Angaben zu ihrer Religion. Abhilfe schafften Presserecherchen und eigene Befragungen der Abgeordneten. Statistiken, die muslimische Abgeordnete nicht unter „sonstige Konfessionen“ klassifizieren, liegen erst seit dem 13. Deutschen Bundestag vor.[2] Ungenaue Identifizierungen könnten bei geringen Fallmengen zu großen Verschiebungen führen und erfordern für längerfristige Analysen aufwendigere Untersuchungen, als es dem Autor möglich ist. Deshalb begrenzt sich diese Arbeit auf den 16. Deutschen Bundestag.

Die Variablenmenge beschränkt sich auf den theoretischen Ausgangspunkt der Untersuchung. Auf Grundlagen der oben genannten spezifizierten Fragestellung werden Variablen zu den Bereichen Biographie, politische Tätigkeit, Organisationszugehörigkeit, Kandidatur und Religion untersucht. Daten, die anhand öffentlicher Quellen nicht zugänglich gemacht werden konnten, wurden durch Befragungen der betroffenen Abgeordneten ergänzt. Wegen zeitlicher Einschränkungen der Mandatsträger kam es in keinen der Fälle zu persönlichen Interviews. Schriftliche Fragebögen, die den Fällen angepasst wurden, kompensierten die Datendefizite teilweise. Alle Variablen wurden nach Fällen geordnet und in einer Tabelle des Anhangs dargestellt.

Die Untersuchung beginnt, nach den Wortklärungen, mit dem Herausarbeiten biografischer Schnittmengen. Vermutet wird, dass bestimmte Lebenserfahrungen spezifisch für muslimische Abgeordnete sind. Im Anschluss erfolgt ein Abgleich ihrer politischen Motive und Schwerpunkte sowie parlamentarischen Tätigkeitsfelder, um ebenfalls Gemeinsamkeiten zu erschließen. Den größten Raum der Untersuchung nimmt die Analyse politischer Akteure ein, die konstruktiv und teilweise destruktiv auf die politische Laufbahn muslimischer Abgeordneter wirken könnten. Berücksichtigt werden staatliche Reglements, die muslimische Wählerschaft, Interessenorganisationen und parteiinterne Praxen. Empirische Vorüberlegungen lassen in diesen Bereichen explizite Schlussfolgerungen vermuten.

2. Definitionen

2.1 Islam und Muslime

Die Übersetzung des arabischen Wortes „Islam“ lautet: „Hingabe (an Gott)“ bzw. „Ergebung in Gottes Willen“.[3] Der Islam ist eine monotheistische abrahamitische Religion, die sich streng vom Polytheismus abgrenzt. Als Ursprung, Quelle und Unterscheidungsnorm alles Islamischen gilt der Koran und die Prophetentradition (Sunna). Seit dem Beginn der islamischen Zeitrechnung im Jahr 622 kristallisierten sich im Laufe der Jahrhunderte, neben vielen anderen Abspaltungen, zwei große Strömungen heraus: Sunniten und Schiiten. Die Anhänger des Islams werden in der deutschen Sprache als Muslime, Moslems oder Mohammedaner bezeichnet.[4]

Problematisch ist die Benutzung des Wortes „muslimisch“ in einer verallgemeinernden adjektivischen Verwendung. Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer verweist in ihren Publikationen immer wieder auf die Vielfalt und Wandelbarkeit islamischer Ideen und Lebenswelten hin. Für sie ist der Islam „in diesem Sinne eine Bezugsgröße, keine Zwangsjacke“.[5] Entsprechende Differenziertheit gebietet die vorliegende Arbeit für die Einordnung Abgeordneter als Muslime. Die genealogische Idee, vom automatischen Übergang der Religion von den Eltern auf deren Nachkommen, ist für die folgenden Untersuchungen ausgeschlossen. Religion, die bewusst gelebt wird, könnte sich eher im politischen Handeln zeigen, als bloße Annahme ohne geistige Bindung. Aus diesem Grund werden lediglich jene Abgeordnete berücksichtigt, die sich selbst als Muslime bekennen.

2.2 Migration

Migration (lat. Migratio: Wanderung, Auswanderung) ist zum einem die grenzüberschreitende bzw. internationale Migration und der langfristige Wechsel des eigenen Lebensmittelpunktes. Diese umfasst die gewaltsame Vertreibung genauso wie die Flucht von Menschen wegen Not, politischen Pogromen oder Umweltkatastrophen. Hinzukommen die ethnische (Rück-)Wanderung oder die Migration aus Gründen besserer Arbeits-, Studien- oder Ausbildungschancen in den Zielregionen.[6]

3. Kurzbiographien muslimischer Abgeordneter

Der berufliche und politische Werdegang deutscher Politiker ist mittlerweile ein recht gut erforschter Bereich der Politikwissenschaften. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die umfangreichen Forschungsergebnisse, die sich speziell den Karrieren deutscher Abgeordneter widmen.[7] Im Folgenden soll, neben den Mehrheitsverhältnissen, die vergleichende Analyse der Biografien muslimischer Abgeordneter im Mittelpunkt stehen. Das Ziel ist es, Gemeinsamkeiten in den Lebensläufen bis zur Wahl in den Bundestag zu finden, die spezifisch für islamische Abgeordnete sein könnten. Dazu werden ebenfalls, sobald als notwendig erachtet, Vergleiche mit nicht-muslimischen Abgeordneten gezogen.

Dem 16. Deutschen Bundestag gehören momentan fünf Abgeordnete an, die sich zum islamischen Glauben bekennen. Das entspricht einem Gesamtanteil von 0,8% aller Abgeordneten und besitzt neben den christlichen Abgeordneten (katholisch 29%, evangelisch 34%) ein sehr geringes Gewicht.[8] Eine tendenzielle Entwicklung von Mehrheitsverhältnissen zwischen Muslimen und Abgeordneten anderer Religionen ist aufgrund der schwierigen Datenlage in diesem Rahmen nicht möglich.[9]

Es folgen die Kurzportraits der fünf islamischen Bundestagsabgeordneten des 16. Deutschen Bundestages in alphabetischer Reihenfolge:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Frau Dr. Lale Akgün (SPD) wurde am 17.09.1953 in Istanbul/Türkei geboren. Ihr Vater ist Zahnarzt und ihre Mutter ist Mathematikerin (beide türkisch). Sie ist mit einem islamischen Religionslehrer verheiratet und hat eine Tochter. Bis zum dritten Schuljahr besuchte sie eine türkische Grundschule und ist mit neun Jahren nach Deutschland gekommen. Hier legte sie ihr Abitur ab und absolvierte das Studium der Medizin, Völkerkunde und Psychologie. 1981 erhielt sie die deutsche Staatsangehörigkeit und arbeitete bis 1997 in der Familienberatung der Stadt Köln und war bis Oktober 2002 Leiterin des Landeszentrums für Zuwanderung NRW in Solingen.[10]

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Über die ersten Lebensjahre von Herrn Hüseyin-Kenan Aydın (WASG/DIE LINKE) ist lediglich folgendes bekannt: er wurde am 23.10.1962 in Pülümür/Türkei geboren und absolvierte in Deutschland den Hauptschulabschluss. Ab 1980 war er Hüttenarbeiter bei Thyssen-Stahl (Duisburg), wurde dort Betriebsrat und ging auf die Sozialakademie Dortmund. Danach übernahm er den Posten eines Gewerkschaftssekretärs der IG Metall der Bezirksleitung NRW (seit 2003 von Düsseldorf). Im Jahr 1984 trat er in die SPD ein und war 2005 Mitbegründer der „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG).[11]

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Frau Ekin Deligöz (B90/DIE GRÜNEN) wurde am 21.04.1971 in Tokat/Türkei geboren. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Im September 1979 kam sie nach Deutschland wo sie ihre Grundschule beendete und das Abitur ablegte. Danach folgte ein Studium der Verwaltungswissenschaft in Konstanz und Wien. Im Februar 1997 erhielt sie die deutsche Staatsangehörigkeit und ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages. Frau Deligöz sorgte unter muslimischen Kreisen für Aufregung als sie 2006 mit anderen deutsch-türkischen Politikerinnen zum Ablegen des Kopftuches aufrief. Wegen nachfolgender Morddrohungen erhielt sie Polizeischutz.[12]

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Herr Prof. Dr. Hakkı Keskin (DIE LINKE) wurde am 12.02.1943 in Maçka (Hamisköy) / Trabzon in der Türkei geboren. Nach seinem türkischen Abitur erlangte er in der Zeit von 1965-66 seine Hochschulreife in Deutschland. Daran schloss sich ein Studium und die Promotion in den Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin an. Nach einem zweijährigen Aufenthalt von 1980-82 in der Türkei als Planungsberater des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, kehrte er aus politischen Gründen nach Deutschland zurück, erhielt 1993 die deutsche Staatsangehörigkeit und wirkte in Hamburg als Professor für Politik und Migrationspolitik. Seit 1995 ist er Mitbegründer und Vorsitzender (bzw. Ehrenvorsitzender seit Einzug in den Bundestag) der „Türkischen Gemeinde in Deutschland e.V.“. Keskin schied nach ca. 30-jähriger Parteimitgliedschaft 2005 aus der SPD aus.[13]

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Herr Omid Nouripour (B90/DIE GRÜNEN) wurde am 18.06.1975 in Teheran/Iran geboren. 1988 flüchteten seine Eltern (beide damals Ingeneure der zivilen Luftfahrt) mit ihren Kindern aus politischen Gründen nach Deutschland. In Frankfurt/Main beendete er die Schule und legte sein Abitur ab. In Mainz studierte er deutsche Philologie, Politik- und Rechtswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre. Er arbeitete neben mehreren Aushilfsjobs, als Mitarbeiter eines Abgeordneten des Europaparlaments sowie eines Bundestagsabgeordneten, als Projektleiter einer Nichtregierungsorganisation und als freier Mitarbeiter einer großen Frankfurter Tageszeitung. Nunmehr ist er Promovent der Germanistik zum Thema „Heimat, Fremde – über Deutsche Literatur von Nicht-Deutschen“. Im Jahr 2002 erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit.[14]

Vergleichend können folgende Punkte hervorgehoben werden: Alle muslimischen Abgeordneten entstammen mindestens einem nicht-deutschen Elternteil, ihre Geburtsorte liegen in Iran bzw. in der Türkei und besitzen somit einen Migrationshintergrund.[15] Dass die türkischstämmigen Mandatsträger mit vier Personen die größte Gruppe beanspruchen, entspricht dem Bundestrend, nach dem die Eingebürgerten vormals türkischen Staatsbürger ebenfalls die größte Gruppe darstellen.[16]

Weiterhin ist der hohe Bildungsgrad der muslimischen Abgeordneten nicht zu übersehen. Mit einer Ausnahme vollzog die Mehrheit eine akademische Ausbildung und erlangte sogar die Promotion oder die Habilitation. Die Überrepräsentation von Abgeordneten mit Hochschulabschluss ist für den gesamten Deutschen Bundestag festzustellen: Im Jahr 2005 besaßen 76,5% aller Abgeordneten des 16. Bundestages einen Hochschulabschluss.[17] Dieses Verhältnis beruht auf den Selektionskriterien für politische Aufsteiger bei der parteipolitischen-parlamentarischen Rekrutierung. Zu nennen wären dabei, neben der Artikulationsfähigkeit, allgemeine Kenntnisse für den Umgang mit politischer Themenvielfalt und Fähigkeiten zur sozialen Integration.[18] Alle genannten Fähigkeiten sind nicht nur für Menschen mit deutschen Vorfahren eine Herausforderung, sondern insbesondere für Migranten und deren Kinder.

Betrachtet man die Biographien der muslimischen Abgeordneten, zeichnet sich, mit einer Ausnahme, folgendes Bild ab: fast alle waren zum Zeitpunkt der Migration Kinder und nahmen aktiv am Leben ihres Geburtslandes teil (zum Beispiel in der Schule). Der Einfluss ihrer frühen Kindheit oder Jugend durch das Geburtsland könnte zum Festhalten an der Religion beigetragen haben. Weitergehende psychologische Untersuchungen könnten dies klären. Es ist durchaus plausibel, dass soziale Einflüsse, auch außerhalb des Elternhauses, in der frühen und späten Kindheit prägend waren.[19] In dieses Muster passt ebenfalls, dass nicht alle Abgeordneten mit Elternteilen aus vornehmlich islamischen Ländern sich zum Islam bekennen: die türkischstämmige Abgeordnete Sevim Dağdelen (MdB, DIE LINKE) ist zum Beispiel nach eigener Aussage seit ihrer frühesten Jugend nicht mehr religiös und bezeichnet sich heute nicht als Muslimin.[20] Weiterhin hat Michaela Noll (MdB, CDU) einen iranischen Vater und gibt in der Selbstauskunft des Deutschen Bundestages zur Religionszugehörigkeit römisch-katholisch an.[21] Obwohl die Gründe dafür oft vielschichtig und sehr persönlich sind, ist es jedoch bemerkenswert, dass beide Abgeordnete in Deutschland geboren wurden und im Gegensatz zu den islamischen Mandatsträgern ihre Kindheitserfahrungen nicht in einem islamisch geprägten Land machten. Sie gehören deshalb der zweiten Einwanderergeneration an.

Ebenso können anhand der Biographien die Erkenntnisse von Jytte Klausens Untersuchung zu den muslimischen Eliten Europas nur zum Teil bestätigt werden: Sie schließt die Bundestagsabgeordneten in die Elite ein und fand heraus, dass die meisten als junge Erwachsene gekommen sein müssten - „als politisch erfahrene Aktivisten, als Studenten, die einen europäischen Hochschulabschluss anstrebten, oder als politisch verfolgte Flüchtlinge“.[22] Wie bereits im vorigen Abschnitt festgestellt wurde und wie aus den Kurzportraits abzulesen ist, entspricht lediglich Prof. Dr. Keskin Klausens These.

Uneinheitlich sind die Gründe zur Migration nach Deutschland. Kategorisiert man diese nach politischen, ökonomischen und sonstigen Intentionen so ergibt sich ein differenziertes Bild: soweit feststellbar, gaben drei Abgeordnete politische oder sonstige Gründe an.[23] Zwei Abgeordnete gaben dazu keine Auskunft. Dies widerlegt die Annahme, es könnte sich bei den muslimischen Abgeordneten in erster Linie um die zweite Generation der so genannten „Gastarbeiter“ handeln, denen der Familiennachzug seit 1974 gestattet war. Und dies spricht für die These Jytte Klausens, dass gewählte Vertreter mit muslimischem Hintergrund in der Regel nicht Nachkommen von Arbeitsmigranten sind, „die durch Akkulturation an europäische Normen und Sprachen in die Führungsetagen der Politik aufgestiegen sind.“[24] Gleichzeitig liefert diese Beurteilung einen Beitrag zur kritischen Betrachtung der deutschen Integrationspolitik der letzten vierzig Jahre.

4. Politische Motive und Tätigkeitsfelder muslimischer Abgeordneter

Motive sind Beweggründe für ein Verhalten, unterschieden von seinem konkreten Ziel, d.h. der richtunggebende, leitende, antreibende seelische Hinter- und Bestimmungsgrund des Handelns. Nach dem stärkeren Motiv richtet sich meist das Geschehen – die schweren Motive werden abgeschwächt.[25]

Welcher seelische Hintergrund leitet und treibt die muslimischen Abgeordneten in ihrer politischen Arbeit an? Ist es richtig, dass ihr Migrationshintergrund, wie schon im zweiten Kapitel angedeutet, oder der Glaube das stärkste Motiv für den Einstieg in die Politik war? Und drückt sich dieser Gedanke in der Ausübung des Mandats aus? Das sind Fragen, die im folgenden Kapitel einem Klärungsversuch unterliegen.

Zu Beginn der Ausführungen sei auf Tabelle 1 des Anhangs verwiesen, welche separat die Schwerpunkte der politischen Arbeit der muslimischen Abgeordneten, alle parteiinternen Tätigkeiten und Mitgliedschaften in Gremien des Bundestages und sonstigen Gremien zusammenfasst.

Bei der vergleichenden Analyse ergaben sich in diesen Bereichen explizite Verknüpfungspunkte. Auffällig sind die mehrheitlichen Mitgliedschaften in den Oppositionsparteien B90/DIE GRÜNEN (zwei Abgeordnete) und DIE LINKE/WASG (zwei Abgeordnete). Nur eine muslimische Abgeordnete sitzt für eine Regierungspartei (SPD) im Deutschen Bundestag. Um dieses Ergebnis der notwendigen Untersuchung zu unterziehen, müsste die Binnensoziologie der Parteien des Bundestages näher betrachtet werden; was jedoch sehr schwierig ist, da laizistische Parteien keine Konfessionsstatistiken führen[26] und Muslime der CDU bzw. CSU lediglich unter „Sonstige“ erfasst sind.[27] Die gleichen unbefriedigenden Ergebnisse ergaben eigene Anfragen bei allen Parteien des Bundestages. Deshalb kann nur vermutet werden, dass islamische Politiker in den kleineren Parteien größere Aufstiegschancen besitzen und durch deren Parteiprogrammatik angezogen werden. Denn gerade die Linkspartei und die Grünen schließen in ihren Programmen für Migranten relevante Themen wie Integration und den Beitritt der Türkei zur EU ein, Themen zu denen CDU und CSU teilweise konträre Ansichten vertreten.[28]

Einen weiteren Beweis für diese These könnte die Untersuchung der politischen Schwerpunkte der Abgeordneten erbringen. So ergibt der Blick in die Tabelle 1, dass die muslimischen Abgeordneten sich annähernd die gleichen politischen Schwerpunkte gesetzt haben und dass sie diese praktisch in den Gremien des Deutschen Bundestages umzusetzen versuchen: Jeder muslimische Abgeordnete gab als persönlichen Schwerpunkt seiner politischen Arbeit Integration bzw. Migration an und Vier von Fünf sind in Ausschüssen, die sich mit internationalen Themen befassen. Hervorzuheben ist der Ausschuss der Europäischen Union in dem sich drei muslimische Abgeordnete des Bundestages und mind. ein weiterer muslimischer Abgeordneter (Cem Özdemir, B90/DIE GRÜNEN) des Europäischen Parlaments befindet. Der Ausschuss der Europäischen Union ist in seiner Funktion als Integrationsausschuss zuständig für Grundsatzfragen der europäischen Integration, wie die institutionelle Reform der Europäischen Union, die Erweiterung der Europäischen Union, die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der anderen Mitgliedstaaten.[29] Der Beitritt der Türkei in die EU ist also genauso Thema des Ausschusses und für die türkisch stämmigen Abgeordneten ein herausragender Punkt. Es scheint den Parteien demnach gelungen zu sein, die muslimischen Abgeordneten nach ihrer politischen Neigung im Bundestag zu positionieren.

[...]


[1] Zur besseren Lesbarkeit wird im weiteren Verlauf der Arbeit auf die femininen Schreibweisen für Personenbezeichnungen verzichtet.

[2] Vgl. Verwaltung des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Datenhandbuch zur Geschichte des deutschen Bundestages 1949 bis 1999, 1994 bis 2003, Berlin.

[3] Vgl. Wehr, Hans, Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart (arabisch-deutsch), Wiesbaden 1985, S. 593.

[4] Gute Einführungen in die Geschichte des Islams liefern Krämer, Gudrun, Geschichte des Islam, München 2005, Noth, Albrecht, Paul, Jürgen (Hrsg.), Der islamische Orient - Grundzüge seiner Geschichte, Würzburg 1998 und Küng, Hans, Der Islam - Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2006.

[5] Vgl., Krämer, 2005, S. 7.

[6] Vgl. Joas, Hans (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie, Frankfurt/Main u.a., 2001.

[7] Eine umfassende Bibliographie zur Parlamentssoziologie findet sich in Feldkamp, Michael, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1994-2003, Berlin 2005, S. 194, zu den letzten großen Untersuchungen vgl. Best, Heinrich u.a., Zwischenauswertung der Deutschen Abgeordneten Befragung 2003/04, Jena 2004 und Wessels, Bernhard, Abgeordnetenbefragung 2003, Berlin 2003.

[8] Nach eigenen Befragungen konnten die widersprüchlichen Angaben zur Zahl der muslimischen Abgeordneten auf der Homepage des Deutschen Bundestages korrigiert werden. Vgl. http://www.bundestag.de/mdb/mdb_zahlen/religion.html, abgefragt am 02.03.2007.

[9] Zu Erläuterung der schwierigen Datenlage sei noch einmal auf die Hinweise in der Einleitung verwiesen.

[10] Vgl. Schwarzer, Alice, „Lale Akgün über das Kopftuch, Multikulti, den Zentralrat und die wahre Integration“, in: EMMA September/Oktober (2003), http://www.laleakguen.de/topic/9.persoenliches.html, abgefragt am 25.02.2007.

[11] Vgl. http://www.linksfraktion.de/mdb_aydin.php, abgefragt am 25.02.2007.

[12] Zu den biographischen Angaben vgl. http://www.ekin.de/person/person_lebenslauf_1.html, über den Aufruf zum Ablegen des Kopftuches vgl. Eichinger, R. u.a., „Legt das Kopftuch ab!“, in: BILD am SONNTAG, 15.10.2006.

[13] Vgl. http://www.linksfraktion.de/mdb_keskin.php, abgefragt am 26.02.2007, http://www.keskin.de/, abgefragt am 26.02.2007.

[14] Vgl. Rollmann, Anette, „Was ist an mir exotisch?“, in: DAS PARLAMENT 03 (2007), http://www.nouripour.de/, abgefragt am 26.02.2007.

[15] Zu Lebensläufen aller gegenwärtigen Abgeordneten vgl. auch http://www.bundestag.de/mdb/bio/index.htmloder oder Deutscher Bundestag, Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages, Berlin 2006.

[16] Vgl. Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge, Migrationsbericht 2005, S. 172.

[17] Vgl. Rudzio, Wolfgang, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 417.

[18] Vgl. Rudzio, 2006, S. 416.

[19] Zur Kindheitsforschung vgl. Bründel, Heidrun, Hurrelmann, Klaus, Einführung in die Kindheitsforschung, Weinhein, Basel 1996.

[20] Nach eigener Befragung.

[21] Vgl. Rollmann, 2007.

[22] Vgl. Klausen, Jytte, Europas muslimische Eliten, Frankfurt 2006, S. 27

[23] Aufgrund des jungen Alters bei der Ankunft in Deutschland ist anzunehmen, dass die Initiative zur Migration meistens von Eltern ausging.

[24] Ebda.

[25] Vgl. Häcker, Hartmut, Dorsch psychologisches Wörterbuch, Bern u.a. 2004.

[26] Vgl. Rudzio, 2006, S. 156.

[27] Einen systematischen Überblick über sozialstrukturelle Zusammensetzungen der Parteimitgliedschaften liefert z.B. Niedermayer, Oskar, Parteimitglieder seit 1990: Version II/2003, Berlin 2003.

[28] Weiterführende Untersuchungen zur Parteienunterstützung s. Kapitel 5.4, für einen Zusammenfassung der Programmatiken aller Bundestagsparteien vgl. Rudzio, 2006, Tab. 3, Faltblatt.

[29] Vgl. Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestag, 2006.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Muslime im 16. Deutschen Bundestag
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Aufgaben und Funktionsweise des Deutschen Bundestages
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
33
Katalognummer
V72190
ISBN (eBook)
9783638715263
ISBN (Buch)
9783638715881
Dateigröße
658 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Muslime, Deutschen, Bundestag, Aufgaben, Funktionsweise, Deutschen, Bundestages
Arbeit zitieren
Mirko Broz (Autor:in), 2007, Muslime im 16. Deutschen Bundestag, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/72190

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