Montessori-Pädagogik in der Diskussion. Von den ursprünglichen Ansätzen bis zu aktuellen Umsetzungsmöglichkeiten.


Examensarbeit, 2006

133 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Biographie
2.1 Kindheit und Jugend
2.2 Das Studium der Medizin
2.3 Montessoris Arbeit mit geistig behinderten Kindern
2.4 Die „Casa dei bambini“
2.5 Internationale Entwicklungen
2.6 Zusammenfassung

3 Das Verhältnis von Kind und Erwachsenem
3.1 Der Kampf zwischen Kind und Erwachsenem
3.2 Das Ende des Kampfes
3.3 Persönlichkeitsbildung als Grundlage für den Frieden auf der Welt
3.4 Zusammenfassung

4 Montessoris anthropologische und bildungstheoretische Vorstellungen als Grundlage ihrer Pädagogik
4.1 Die pränatale - und die postnatale Phase
4.2 Die sensiblen Phasen
4.2.1 Die erste Entwicklungsphase von null bis sechs Jahren
4.2.1.1 Teilphase I: null bis drei Jahre
4.2.1.2 Teilphase II: drei bis sechs Jahre
4.2.2 Die zweite Entwicklungsphase von sechs bis zwölf Jahren
4.2.3 Die dritte Entwicklungsphase von zwölf bis achtzehn Jahren
4.2.4 Die vierte Entwicklungsphase von achtzehn bis vierundzwanzig Jahren
4.3 Der absorbierende Geist
4.4 Die Polarisation der Aufmerksamkeit
4.5 Die Normalisierung
4.6 Das Konzept der Kosmischen Erziehung
4.6.1 Die Kosmische Theorie
4.6.2 Die Kosmische Erziehung
4.7 Zusammenfassung

5 Pädagogische Konsequenzen Maria Montessoris
5.1 Die Freie Arbeit
5.2 Die Wahlfreiheit
5.3 Die vorbereitete Umgebung
5.3.1 Das Material
5.3.1.1 Die Ästhetik
5.3.1.2 Die Aktivität
5.3.1.3 Die Begrenzung
5.3.1.4 Die Fehlerkontrolle
5.3.2 Der Erzieher
5.3.2.1 Die innere Vorbereitung
5.3.2.2 Der passive Erzieher
5.3.2.3 Die Aufgaben des Erziehers
5.4 Soziales Lernen in altersheterogenen Gruppen
5.5 Zusammenfassung

6 Praxisbeispiel
6.1 Die Grundschule K
6.1.1 Die Schulleiterin
6.1.2 Das Schulprogramm
6.1.3 Die Eltern(mit)arbeit
6.2 Die Klasse 2a
6.3 Die praktische Umsetzung der pädagogischen Grundprinzipien Montessoris
6.3.1 Die Polarisation der Aufmerksamkeit
6.3.2 Die Freie Arbeit
6.3.3 Differenzierung – Die Berücksichtigung sensibler Phasen
6.3.4 Die vorbereitete Umgebung
6.3.4.1 Das Material
6.3.4.2 Der Erzieher
6.3.5 Soziales Lernen
6.4 Zusammenfassung

7 Schlussbetrachtung

8 Thesenartige Zusammenfassung

9 Literaturverzeichnis

10 Anhang

Schulprogramm der Grundschule

1 Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der von Maria Montessori entwickelten Pä­dagogik. Die Montessori-Pädagogik entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ist ein pädagogisches Konzept von vielen, welches seinen Ursprung in der Zeit der so genannten „reformpädagogischen Bewegung“ hat. Das Besondere an der Pädagogik Montessoris ist, dass dieses reformpädagogische Modell das Einzige blieb, welches weltweit Anerkennung fand und umgesetzt wurde. Die Grundlage der reformpädagogischen Bewegung bildete eine neue Sichtweise auf das Kind und die daraus resultierende Forderung nach einer kindorientierten Erziehung.

In einer Zeit, in der dem deutschen Bildungssektor erhebliche Schwächen attes­tiert wurden, gewinnen die kindorientierten Konzepte der Reformpädagogik wieder zunehmend an Interesse. Der bis heute in den Schulen praktizierte einheitliche Unterricht, der an die vermeintlich identischen Lernvoraussetzungen der Schüler­schaft anknüpft, wird der Heterogenität der Schüler nicht mehr gerecht. Die Indivi­dualisierung des Unterrichts ergibt sich als logische pädagogische Konsequenz. Das von Montessori entwickelte pädagogische Konzept, welches die individuellen Bedürfnisse des Kindes in besonderem Maße achtet und berücksichtigt, scheint eine hilfreiche Möglichkeit für die Reformierung des Bildungssystems darzustellen. Die von Montessori entwickelten pädagogischen Prinzipien sollen die individuelle Förderung des Kindes entsprechend seiner Fähigkeiten ermöglichen.

In der vorliegenden Arbeit soll herausgestellt werden, inwiefern die Schulpraxis mit Montessoris pädagogischen Vorstellungen übereinstimmt. Zu diesem Zweck hatte ich ein jeweils zweiwöchiges Praktikum an einer Montessori-Schule in privater Trägerschaft und an einer Regelschule, die nach den Prinzipien Montessoris arbeitet, geplant. Ziel dieser Arbeit sollte es sein, gegenüberzustellen, inwieweit die pädagogischen Prinzipien Montessoris in diesen beiden unterschiedlich organisierten Schulen Anwendung finden. Fünf Tage vor Beginn des Praktikums in der Montessori-Grundschule Wittenberge wurde ich in einem Telefongespräch darüber informiert, dass ich dieses Praktikum aufgrund personeller Umstrukturierungen dort nicht mehr antreten könne. Dieses Problem war bei der Themenstellung für die Examensarbeit nicht zu erwarten, da ich die Zusage von beiden Schulleitern für das jeweilige Praktikum bekommen hatte. In Rücksprache mit Herrn Ziegenspeck haben wir uns, unter Berücksichtigung der neuen Umstände, darauf geeinigt, dass ich mich in der Betrachtung von Praxisbeispielen ausschließlich auf die Darstellung meiner Erfahrungen in der Regelschule beziehen werde. Folglich findet in Kapitel 6, anders als im Titel dieser Arbeit formuliert, lediglich ein Praxisbeispiel – die Grundschule K. – Berücksichtigung.

Aufgrund der Darstellung der praktischen Erfahrungen ergibt sich eine Begren­zung des vorangehenden theoretischen Teils. Dies hat zur Folge, dass nicht alle Aspekte der Montessori-Pädagogik ausführlich dargestellt werden können. Die Akzentuierung bestimmter Bereiche im theoretischen Teil ergibt sich aus deren Relevanz für meine praktischen Beobachtungen.

Die Arbeit beginnt mit einer Darstellung der Biographie Montessoris, die im engen Zusammenhang mit der von ihr entwickelten Pädagogik steht (Kapitel 2). An­schließend werden im 3. Kapitel Montessoris neue Sichtweise auf das Kind und die damit verbundenen Forderungen für eine kindzentrierte Erziehung näher er­läutert. Friedenserzieherische Aspekte werden in diesem Zusammenhang ebenso berücksichtigt.

Montessoris Theorie von der sich in Phasen vollziehenden Entwicklung des Kin­des wird in Kapitel 4 näher betrachtet. Dabei wird auch auf phasenspezifische Ei­genschaften des Kindes eingegangen und die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ in seiner Bedeutung als Schlüsselphänomen in der Montessori-Pädagogik her­ausgestellt. Zusätzlich wird Montessoris Konzept der „Kosmischen Erziehung“ dargestellt, die als bildungstheoretische Grundlage ihrer Pädagogik verstanden werden kann.

Im 5. Kapitel wird auf die pädagogischen Prinzipien Montessoris, welche sich aus ihren Vorstellungen von der kindlichen Entwicklung ableiten, eingegangen. Be­gonnen wird mit der Darstellung der „Freien Arbeit“[1] als zentrale Unterrichtsform in der Montessori-Pädagogik. Im Anschluss daran wird das Prinzip der Wahlfrei­heit vorgestellt und die Bedeutung der „vorbereiteten Umgebung“ für die Entwicklung des Kindes erläutert. Abschließend wird das Lernen in altersgemischten Gruppen als Grundlage für soziales Lernen genauer betrachtet.

Hierauf folgt das bereits erwähnte 6. Kapitel mit der Darstellung meiner Erfahrungen in der Grundschule K.. In dem sich anschließenden 7. Kapitel wird die Umsetzung der Montessori-Pädagogik auf nationaler und internationaler Ebene betrachtet. Besondere Berücksichtigung finden dabei die Internationale Montessori-Gesellschaft AMI und die Deutsche Montessori-Gesellschaft (DMG e.V.).

Den Abschluss bildet das 8. Kapitel, in dem noch einmal die wichtigsten Inhalte dieser Arbeit thesenartig zusammengefasst sind.

2 Biographie

In diesem Kapitel wird die Biographie Maria Montessoris dargestellt, denn diese ist eng verbunden mit der von ihr entwickelten Pädagogik. Der Einblick in Montessoris Leben zeigt, auf welche Weise ihr in sich geschlossenes pädagogisches Konzept entstanden ist und wie es weltweite Anerkennung fand.

2.1 Kindheit und Jugend

Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle/Italien geboren. Sie war das einzige Kind von Renilde Montessori, geb. Stoppani (1840-1912), und Alessandro Montessori (1832-1915) (vgl. Heiland 1991, S.9). Alessandro Montessori entstammte kleinbürgerlichen Verhältnissen, sein Vater war Angestellter in einer Tabakhandlung. Renilde Stoppani kam hingegen aus einer Gutsbesitzerfamilie und war, ungewöhnlich für die damalige Zeit, sehr gebildet.

Die Anstellung Alessandro Montessoris als Finanzbeamter hatte häufige Arbeitsplatz- und damit auch Wohnortwechsel zur Folge. 1875 wurde Alessandro Montessori nach Rom versetzt, welcher dann der endgültige Wohnort der Familie Montessori wurde. Dieser Umzug kam Renilde Montessori ganz recht, weil die Auswahl an Bildungsmöglichkeiten für ihre Tochter in Rom vielseitiger war als in Chiaravalle. Renilde Montessori wollte, dass ihre Tochter ihre Potenziale besser nutzt, da es ihr selbst zur damaligen Zeit nicht möglich gewesen war. „Renilde Montessori sah in Marias zukünftigem Lebensweg Möglichkeiten, die sie selbst nicht verwirklichen konnte und wollte für Maria eine hoch qualifizierte Ausbildung und spätere Berufstätigkeit, nicht lediglich die obligat erscheinende Verheiratung.“ (Heiland 1991, S.13). Auch Alessandro Montessori hatte Zukunftspläne für seine Tochter. Er wollte Maria in die römische Elite einführen und diese mit ihr und ihrer charmanten Art beeindrucken. Alessandro hatte für seine Tochter den Beruf der Lehrerin im Blick, doch diese Idee entsprach keineswegs den Vorstellungen Marias. Zunächst war Maria keine herausragende Schülerin, was zu einem bestimmten Teil gewiss auch in dem Zustand des italienischen Erziehungssystems begründet war: „Die am meisten angewandte Methode des Lernens war der Drill.“ (Kramer 1999, S.31). Doch im Laufe der Schulzeit, eventuell angeregt durch die Erwartungen die ihre Eltern in sie setzten, begann Maria intensiv Bücher zu lesen und entwickelte ein starkes Interesse an der Mathematik.

Renilde Montessori erzog ihre Tochter sehr liberal aber gleichzeitig auch nach christlichen Werten und unterstützte ihre willensstarke Tochter immer in ihren Vorhaben. Maria lernte schon früh, sich als Frau gegen Männer zu behaupten, denn oft entsprachen ihre Vorstellungen nicht den konservativen Vorstellungen ihres Vaters. So war sie stets dem Kontrast der sehr konservativen Sichtweise ihres Vaters einerseits und der liberalen Sichtweise ihrer Mutter andererseits ausgesetzt. Maria ist an den widersprüchlichen Anforderungen, die ihre Eltern an sie stellten, gewachsen. Sie lernte, sich durchzusetzen.

Marias Wunsch Ingenieurin zu werden, hat in der Familie Montessori zu Auseinandersetzungen geführt. Dem konservativ eingestellten Vater war der Wunsch Marias, in eine „Männerdomäne“ einzudringen, unverständlich. Marias Mutter hingegen unterstützte ihre Tochter in ihrem Vorhaben. Folglich wurde Maria im Herbst in die technische Schule Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buonarotti eingeschult. Obwohl es in dieser Schule ähnlich wie in der vorherigen Schule zuging und auch dort wieder ausschließlich eintönige Wissensaneignung und Wissensproduktion praktiziert und die gleichen Drillmethoden angewandt wurden, beendete sie ihre dreijährige Ausbildung 1886 mit guten Ergebnissen.

Anschließend besucht Maria vier Jahre einen weiterführenden Kurs im Regio Instituto Tecnico Leonardo da Vinci. Obwohl sie auch diesen Kurs mit guten Leistungen absolvierte, wuchs in ihr schon gegen Ende dieser Ausbildung aufgrund ihres starken Interesses an der Biologie und der Mathematik der Wunsch, Ärztin zu werden. Schon zu dieser Zeit war zu erkennen, dass Maria sich nicht immer den einfachsten Weg aussuchte und die Kraft und den Willen besaß, unbekannte Wege zu beschreiten.

2.2 Das Studium der Medizin

Als Voraussetzung für den Beginn eines Studiums der Medizin musste Maria Montessori zunächst zwei Jahre lang Physik, Mathematik und Naturwissenschaften an der Universität in Rom studieren. 1892 erhielt sie die offizielle Berechtigung, Medizin studieren zu dürfen. Allerdings hatte noch nie zuvor eine Frau ein Medizinstudium begonnen, so dass Montessori sich nicht ohne weiteres an der Universität einschreiben konnte. Der Kultusminister Guido Baccelli informierte Montessori in einem persönlichen Gespräch darüber, dass er es nicht zulassen werde, dass eine Frau Medizin studiert (vgl. Schwegmann 2002, S.50). Doch mit der Unterstützung ihrer Mutter und durch andere ungeklärte Umstände konnte sie ihr Medizinstudium entgegen der allgemeinen Missbilligung beginnen.

Nach ihrem ersten Tag im Anatomischen Institut zweifelte Maria Montessori an der Richtigkeit ihrer Berufswahl. Der Anblick konservierter Organe, Skelette, Schädel und Knochen widerte sie an. Ihr wurde klar, dass in diesen Skeletten und Organen einmal Leben steckte und das erschütterte sie zutiefst: „Das moralische Leben, das diese jämmerlichen Reste beseelt hatte, sein Denken, sein Leiden, brachte mich um…“ (Montessori 1896, zit. nach Kramer 1999, S.51)[2]. Doch von der Motivation, mit Menschen arbeiten zu können geleitet, ließ sich Montessori weder von den ungewohnten Anblicken in der Anatomie, noch von den Feindseligkeiten ihrer Kommilitonen oder dem gestörten Verhältnis zu ihrem Vater von ihrem Vorhaben abbringen. Sie blieb hartnäckig wie bereits in ihrer Kindheit und ihr Selbstbewusstsein war durch nichts zu erschüttern. Das bemerkten auch ihre Kommilitonen und so gewann sie allmählich Anerkennung, vorrangig für ihren Fleiß und ihre sehr guten Leistungen. Zwei Jahre vor ihrem Studienabschluss absolvierte Montessori mehrere Praktika in verschiedenen Krankenhäusern. Sie spezialisierte sich auf dem Gebiet der Kinderheilkunde und begann, in der psychiatrischen Klinik der Universität in Rom Material über den Verfolgungswahn zu sammeln, da das Thema ihrer Doktorarbeit „Ein klinischer Beitrag zum Studium der Halluzinationen als Bestandteil des Verfolgungswahns“ (Raapke 2001, S.169) lautete. 1896 beendete Maria Montessori ihr Studium. Kurz zuvor hatte sich bereits Montessoris Vater im Anschluss an einen beeindruckenden Vortrag seiner Tochter mit ihr ausgesöhnt.

Montessoris Durchsetzungsvermögen, ihre Willenskraft und nicht zuletzt ihr rhetorisches Geschick machten sie bereits während ihres Studiums zu einer Kämpferin in der Frauenbewegung. Sie kämpfte für das, was ihrer Mutter zeitlebens verwehrt geblieben war – für die Befreiung der Frau aus ihrer stereotypen Rolle in der Gesellschaft. Montessori war sich ihrer Ausnahmeposition als Medizinstudentin bewusst und nutzte diese dazu, um auf Kongressen mehr Rechte für die Frauen einzufordern.

Nach der Vereinigung Italiens im Jahre 1870 wurde die Politik liberaler und die Rolle der Frau veränderte sich langsam. Montessori redete von den „Neuen Frauen“, die den Kopf heben, statt ihn zu senken, denn nur dadurch erhielten sie eine schöne Haltung (vgl. Schwegmann 2002, S.84). Diese Forderung einer aufrechten Haltung der Frau spiegelt sich später auch in Montessoris Vorstellungen von der Erzieherin in der Montessori-Pädagogik wider. Montessori sprach davon, dass die Erzieherin sich anmutig im Raum bewegen sollte (vgl. Standing 1957, S.271) und wünschte sich für ihre Pädagogik Erzieherinnen, die in ihrer Persönlichkeit gefestigt sind und dieses nach außen verkörpern. Später zog sich Montessori aus der Frauenbewegung zurück, kämpfte jedoch weiterhin für die Achtung der Frauen.

2.3 Montessoris Arbeit mit geistig behinderten Kindern

Nach Beendigung ihres Studiums arbeitete Montessori als Assistenzärztin in der Universitätsklinik in Rom und eröffnete gleichzeitig noch eine eigene Praxis (vgl. Heiland 1991, S.34). Ein Jahr später, 1897, nahm sie zusätzlich ihre Tätigkeit an der Psychiatrischen Klinik der Universität in Rom auf. Auf diese Weise kam es zum ersten Kontakt Montessoris mit geistesgestörten Kindern. Eine kleine Begebenheit weckte Maria Montessoris Interesse an diesen Kindern: Eine Betreuerin der Kinder beschwerte sich bei Montessori darüber, dass die Kinder die heruntergefallenen Brotkrümel aufsammeln und essen würden. Montessori erkannte sofort, dass dieser Raum keinerlei Anregung für die Kinder bot, ihre Hände und Finger zu benutzen. Das Aufsammeln der Brotkrümel stellte die einzige sinnvolle Beschäftigung für die Kinder dar. Dieser Vorfall weckte Montessoris Interesse an geistesgestörten Kindern (vgl. Schwegmann 2002, S.76). Angeregt durch die Beobachtungen und das Studium der Literatur über geistig behinderte Kinder wurde Montessori bewusst, dass diese Kinder keiner medizinischen, sondern pädagogischer Hilfe bedürfen.

Bei ihrem intensiven Studium der Literatur über geistig behinderte Kinder stieß Montessori auf die Bücher von Jean-Marc-Gaspard Itard und dessen Schüler Edouard Séguin. Diese beiden Ärzte und Pädagogen haben Montessoris Werk nachhaltig beeinflusst. Die Erkenntnisse, die Itard aus der Arbeit mit einem wilden, im Wald gefundenen Jungen zog, dienten der Anregung für die später von Montessori entwickelte Pädagogik. Itard erfand Lernmaterial für den Jungen, welches ihm dabei helfen sollte, Ordnungsstrukturen aufzubauen (vgl. Raapke 2001, S.172). Diese Gedanken über die Beschaffenheit von Lernmaterialien, welches durch seine äußere Ordnung die innere Ordnung des Kindes einleiten sollte, griff Montessori später in ihrer Pädagogik auf. Auch das von Itard eingeführte Prinzip der Isolierung eines Sinnes bei der Übung und Verfeinerung der Wahrnehmung in mehreren Stufen wurden von Séguin und später auch von Montessori in weiterentwickelter Form übernommen (vgl. Heiland 1991, S.40). Séguin beschäftigte sich vor allem mit geistig behinderten Kindern und deren Erziehung und entwickelte zu diesem Zweck das bereits von Itard angewendete Material weiter. Zusätzlich fügte er neues Material und teilweise auch Gegenstände des täglichen Lebens zur Schulung der Sinne und zur Entwicklung der Motorik hinzu, welches Montessori im Laufe der Jahre noch weiter verfeinert und strukturiert hat. Die revolutionären Erkenntnisse Itards und Séguins wurden von Montessori in eine „logische und pädagogische Ordnung“ (Raapke 2001, S.174) gebracht und somit anwendbar für die pädagogische Praxis gemacht. In Frankreich war es schon lange üblich, dass Ärzte gleichzeitig Pädagogen waren. Auch Montessori entwickelte sich immer mehr von einer Ärztin zur Pädagogin. Aus der Zusammenarbeit von Medizin und Pädagogik ergaben sich in Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue pädagogische Grundprinzipien, an denen sich später auch Montessoris Pädagogik orientiert (vgl. 5):

- „Über die Entwicklung und Übung der Sinne wird der Verstand geprägt (John Locke).
- Über Sinne und Verstand bauen sich auf dem tragenden Grund von Liebe und Barmherzigkeit die Gemütsfähigkeiten auf.
- Der Weg zur Gesundheit, Ordnung und Moral führt über die regelmäßige Arbeit.
- Der Weg zur Selbständigkeit erfordert die individuelle Anleitung.
- Der Unterricht braucht nicht nur Anschauung, sondern Fass lichkeit und Be greif barkeit.[3]
- Vor aller Erziehung muss die methodisch genaue Beobachtung stehen.“

(Raapke 2001, S.173)

Ihr Interesse für geistig behinderte Kinder spiegelte sich auch zunehmend in Montessoris Vortragsreisen wider. In ihren Vorträgen befasste sich Montessori nicht mehr nur mit der sich verändernden Rolle der Frau, sondern sie beschäftigte sich zunehmend mit den Missständen in der Erziehung des Kindes. Ihr spezielles Augenmerk war dabei auf die menschenunwürdigen Umstände in der Erziehung der geistig behinderten Kinder gerichtet. Die Forderung nach einer besseren Erziehung geistig gestörter Kinder brachte Montessori im Jahre 1900 die Ernennung zur Leiterin einer Modellschule ein, die einem Institut für die Ausbildung von Lehrern für die Arbeit mit geistig behinderten Kindern angeschlossen war. Sie leitete diese Schule gemeinsam mit Dr. Giuseppe Montesano. Montesano und Montessori hatten sich bereits während Montessoris Medizinstudiums kennen gelernt. Sie führten eine Liebesbeziehung, heirateten jedoch nicht. Aus dieser Liebesbeziehung entstand ein Kind, welches am 31. März 1898 geboren wurde. Bis auf wenige enge Vertraute wusste niemand von der Schwangerschaft Montessoris. Direkt nach der Geburt gab Montessori ihren Sohn Mario zu einer Pflegefamilie (vgl. Schwegmann 2002, S.83). Die Gründe dafür sind nicht bekannt.

Während ihrer zweijährigen Tätigkeit an der Schule Scuola Magistrale Ortofrenica entwickelte Montessori das bereits beschriebene Material von Itard und Séguin weiter und entwarf zusätzlich Material zum Lesen- und Schreibenlernen: die Modellbuchstaben. Durch die ihnen angebotenen Materialien waren die geistig behinderten Kinder in der Lage, die gleichen oder sogar bessere Ergebnisse in Prüfungen zu erbringen als „normale“ Schüler. Montessori erkannte, dass auch geistig gesunde Kinder noch stärker durch das entsprechende Material von ihr gefördert werden könnten: „Ich war ganz sicher, daß[4] ähnliche Methoden, wie ich sie bei den Schwachsinnigen angewandt hatte, auch normaler Kinder Persönlichkeit entwickeln und auf das wunderbarste und überraschendste befreien würde.“ (Montessori, zit. nach Standing 1957, S.28)[5].

Geleitet durch diese Erkenntnis beendete Montessori 1901 ihre Arbeit als Schuldirektorin und begann ein Jahr später das Studium der Anthropologie, Experimentalpsychologie und Erziehungsphilosophie, „um sich selber noch einmal ganz von vorn für die Erziehung normaler Kinder auszubilden.“ (Kramer 1999, S.115). Dies war die offizielle Begründung Montessoris. Über die inoffiziellen Gründe, wie zum Beispiel die Trennung vom Vater ihres Kindes, kann nur spekuliert werden (vgl. Kramer 1999, S.114).

Von 1904 bis 1908 hielt Montessori Vorlesungen über Anthropologie und Biologie am pädagogischen Institut der Universität in Rom. Bis 1906 war sie zusätzlich als Lehrerin im Ausbildungsinstitut für Lehrer in Rom tätig. In dieser Aufgabe sah sich Montessori als Reformerin des Schul- und Erziehungssystems (vgl. Kramer 1999, S.122). 1907 sollte sie schließlich die Chance erhalten, ihre eigenen Vorstellungen vom Schul- und Erziehungssystem in die Praxis zu übertragen.

2.4 Die „Casa dei bambini“

Die Gründung des ersten Kinderhauses „Casa dei bambini“ entstand aus einer Notsituation heraus. Montessori wurde von einer römischen Sanierungsgesellschaft gefragt, ob sie Kinder in dem römischen Stadtteil San Lorenzo – einem Arbeiterviertel – beaufsichtigen könne. In den dort lebenden Familien waren beide Elternteile gezwungen, den ganzen Tag zu arbeiten. Die noch nicht schulpflichtigen Kinder waren demzufolge sich selbst überlassen. Die Sanierungsgesellschaft befürchtete, dass die gerade erst sanierten Wohnblocks durch die gelangweilten Kinder gleich wieder beschädigt werden würden. Um dem vorzubeugen, wollten sie eine Tagesstätte errichten, in der die Kinder beaufsichtigt und beschäftigt werden könnten.

Montessori erklärte sich dazu bereit ein Kinderhaus zu errichten, ungeahnt dessen, dass dies den Grundstein für eine Pädagogik bilden würde, die sich innerhalb kürzester Zeit auf die ganze Welt ausbreiten würde. Das Kinderhaus bot Montessori die einmalige Möglichkeit, ihre Vermutungen über den Umgang von „normalen“, in diesem Fall jedoch vernachlässigten, Kindern mit dem von ihr entwickelten Material in der Praxis bestätigen zu lassen (vgl. Raapke 2001, S.178). Die Einweihung des Kinderhauses fand am 6. Januar 1907 statt. Es wurden über 50 Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren in das Kinderhaus aufgenommen.

Das Kinderhaus wurde von den Erziehern[6] und den Kindern selbst bewirtschaftet. Die Kinder, Jungen wie Mädchen, waren in die tägliche Arbeit eingebunden, wie zum Beispiel bei der Essenszubereitung oder bei dem Säubern der Räume. Die Umgebung der Kinder war ansprechend gestaltet. Alle Möbel waren auf die Körpergröße der Kinder abgestimmt, die Materialregale waren offen und für alle frei zugänglich und das Aufhängen von Bildern und das Hinstellen von Topfpflanzen vermittelte eine familiäre Atmosphäre (vgl. Raapke 2001, S.179). Da Montessori aufgrund diverser Pflichten, denen sie nachkommen musste, nicht selbst in der Schule als Betreuerin arbeiten konnte, stellte sie eine Betreuungsperson ein. Dieser Person trug sie auf, in den Hintergrund zu treten und die Kinder insbesondere bei dem Umgang mit dem von ihr entwickelten Material zu beobachten. Montessori selbst stattete der „Casa dei bambini“ jedoch regelmäßige Besuche ab. Bei einem ihrer Besuche beobachtete sie gespannt ein dreijähriges Mädchen, welches sich intensiv mit den hölzernen Einsatzzylinderblöcken und den dazugehörigen Holzzylindern beschäftigte. Montessori konnte beobachten wie dieses Kind, ungeachtet äußerer Einflusse, diese Übung vierundvierzig Mal wiederholte (vgl. Montessori 19951, S.17f.). Diesen Zustand vollständiger Konzentration konnte Montessori später noch bei vielen anderen Kindern beobachten. In der Literatur wird dieser Zustand oft als „Montessori-Phänomen“ bezeichnet. Montessori selbst bezeichnete diesen Zustand als „Polarisation der Aufmerksamkeit“ (vgl 4.4).

Weiterhin beobachtete Montessori, dass die Kinder die Arbeit mit dem Material der Beschäftigung mit den im gleichen Maße zur Verfügung stehenden Spielsachen vorzogen. Sie entdeckte, „dass Kinder 'Bauarbeiter' sind, die aus sich selbst Menschen machen, wenn sie in Freiheit ihrem Drang, sich zu entwickeln, eine Richtung geben können“ (Schwegmann 2002, S.135). Ebenso beobachtete sie die von den Kindern selbst herbeigeführte, so genannte „Schreibexplosion“. Die Kinder waren von einen Tag auf den anderen in der Lage, zu schreiben. Aus diesen Beobachtungen heraus leitete Montessori ihr Konzept zum Schreiben- und Lesenlernen ab. Montessori vertrat dabei, resultierend aus ihren Beobachtungen der Kinder, die für damalige Zeiten ungewöhnliche Auffassung, dass vor dem Lesenlernen das Schreibenlernen kommt (vgl. Kramer 1999, S.160).

Ausgelöst durch diese pädagogischen Neuerungen vollzog sich in den Kindern im Kinderhaus ein Wandel. Sie waren jetzt in der Lage, konzentriert zu arbeiten und schienen aufgeschlossener, selbstbewusster und fröhlicher zu sein als in den Wochen zuvor (vgl. Kramer 1999, S.139). Diese Veränderungen im Verhalten des Kindes wurden von Montessori als „Normalisierung“ bezeichnet (vgl. 4.5). Die vorbereitete Umgebung einschließlich des Materials und das Arbeiten des Kindes mit dem Material spielten bei der Normalisierung eine größere Rolle als das Einwirken des Lehrers auf das Kind (vgl. 5.3). Montessori sprach statt vom Lehrer, vom Leiter, da der Lehrer in ihrem Verständnis keine unterrichtende Funktion habe, sondern die Kinder beobachte und ihre Entwicklung leite (vgl. Montessori 1991, S.181).

Die Methode Montessoris war so erfolgreich, dass bereits drei Monate nach Eröffnung des ersten Kinderhauses ein weiteres im Stadtteil San Lorenzo eröffnet wurde. Es folgten weitere Kinderhäuser im gesamten Stadtgebiet. Angetrieben durch das öffentliche Interesse weitete Montessori ihre Pädagogik auf ältere Kinder und Kinder aus besser situierten Familien aus. Das nationale und internationale Interesse nahm zu. Besucher aus aller Welt kamen nach Rom, um sich persönlich ein Bild von der Montessori-Methode machen zu können. Den Kinderhäusern in Rom folgten ein Kinderhaus in Mailand und 1909 ein Kinderhaus in dem italienischsprachigen Teil der Schweiz (vgl. Heiland, S.49). Im gleichen Jahr leitete Montessori ihren ersten eigenen Ausbildungskurs für Lehrer auf der Grundlage ihres eigenen pädagogischen Konzeptes. Ebenso veröffentlichte sie ihr Buch „Il metodo della pedagogia scientifica applicato all'educazione infantile nelle case dei bambini“, bekannt unter dem Kürzel „Il Metodo“. Darin erläuterte sie ihr pädagogisches Konzept unter Bezugnahme auf ihre praktischen Erfahrungen in den Kinderhäusern.

2.5 Internationale Entwicklungen

Durch die Veröffentlichung ihres ersten Buches in mehr als zwanzig Sprachen (vgl. Kramer 1999, S.180) gelang Montessori der internationale Durchbruch. Weltweit, so zum Beispiel in Argentinien, in Australien oder in Russland, wurde das pädagogische Konzept Montessoris eingeführt. Die englische Übersetzung ihres Buches „Il Metodo“ erschien 1912. Dies hatte den großen Durchbruch der Montessori-Pädagogik in den USA zur Folge. Das Interesse der amerikanischen Erzieher und Lehrer an einer Montessori-Ausbildung war groß. Da Montessori es sich jedoch vorbehielt, ihre Diplomkurse selbst zu leiten, weil sie sonst eine „Verwässerung ihrer Methode“ (Kramer 1999, S.200) befürchtete, konnten die Amerikaner sich vorerst nicht zu Montessori-Pädagogen ausbilden lassen.

Bereits 1910 hatte Montessori entschieden, sich aus den von ihr bekleideten Ämtern zurückzuziehen und intensiv an der Verbreitung ihres pädagogischen Konzeptes zu arbeiten. Obwohl Montessori nicht die einzige Ärztin und Pädagogin war, die sich mit der Förderung geistig behinderter und „normaler“ Kinder beschäftigte, so war sie jedoch die Erste, die ihre Erkenntnisse für die Praxis nutzbar machte. Ihr war es gelungen, „durch das Zusammenfließen ihres sozialen Verantwortungsbewusstseins mit den medizinischen Fachkenntnissen, den historischen pädagogischen Ideen und durch ihre medizinische und pädagogische Praxis“ (Raapke 2001, S.186) eine schlüssige Pädagogik zu entwickeln. Damit ihre Erkenntnisse in ihrem Sinne in die Praxis umgesetzt werden konnten, entschied sich Montessori dazu, die Ausbildung der Lehrkräfte „in aller Welt selbst [zu] leiten.“ (Raapke 2001, S.184). Ihre oberste Priorität war es, dem Kind zu einer selbsttätigen Entwicklung zu verhelfen. Montessori sah ihr pädagogisches Konzept als das einzig Richtige hierfür an. Daher versuchte sie stets, ihr Konzept vor anderen pädagogischen Einflüssen zu schützen. Zu dieser Zeit wurden auch die ersten nationalen Montessori-Gesellschaften von Anhängern der Montessori-Pädagogik gegründet. Diese Zusammenschlüsse unterstützten sie zusätzlich bei der Verbreitung ihres pädagogischen Konzeptes und wurden aus bereits erwähnten Gründen von Montessori persönlich ermächtigt und überwacht.

Nach Beendigung ihrer diversen beruflichen Tätigkeiten musste Montessori den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn, den sie 1913 zu sich nahm und der sie fortan begleitete, durch „die Tantiemen ihrer Bücher und Vorträge, die Anteile aus dem Vertrieb des didaktischen Materials und die Gebühren für die Ausbildungskurse“ (Raapke 2001, S.186) verdienen. 1913 wurde Montessori dem internationalen Interesse an einem Ausbildungskurs gerecht und bot in Rom den ersten internationalen Ausbildungskurs an, dem noch viele weitere folgten. In der Zahl der Anmeldungen für diesen Kurs spiegelte sich das starke Interesse der amerikanischen Erzieher und Lehrkräfte wider: Von den 87 Teilnehmern kamen 67 aus den USA. Im gleichen Jahr trat Montessori eine Vortragsreise nach Amerika an und wurde dort als eine der „berühmtesten Frauen der Welt“ (Raapke 2001, S.185) gefeiert. Zwei Jahre später, bei einer erneuten Amerika-Reise, war der Enthusiasmus gesunken, nicht zuletzt aufgrund Montessoris resoluter Ablehnung von Veränderungen an ihrem pädagogischen System und der unautorisierten Verbreitung ihres Konzeptes. So enthielten die Montessori-Diplome eine Klausel, „die den Inhaber oder die Inhaberin ausdrücklich zur Eröffnung einer Schule, nicht aber zur Ausbildung Dritter in der Methode berechtigte“ (Standing 1957, S.72). Ähnliche Entwicklungen waren auch in England zu beobachten. Durch Montessoris fast schon verzweifelte Versuche, ihre Pädagogik vor Einflüsse von außen zu schützen, spalteten sich die Anhänger Montessoris im Laufe der Zeit immer mehr in zwei Gruppen auf: In diejenigen, die sich strikt an die Montessori-Methode hielten und in diejenigen, die Montessoris Pädagogik als Ausgangspunkt für Neuerungen in der Pädagogik sahen.

Da die „Entwicklungsphase“ ihrer Pädagogik für das Kinderhaus abgeschlossen war, wandte sich Montessori fortan gezielt der Weiterentwicklung ihrer Pädagogik über das Kindesalter hinaus bis zum Alter von zwölf Jahren zu. Die Ausdehnung der Montessori-Pädagogik auf die Schule hatte auch eine Erweiterung des Materials zur Folge. Montessori entwickelte Material zum Rechnen, für die Geometrie und die Grammatik. Zudem erschien ihr neues Buch „L'autoeducazione nelle Scuole elementari“ in zwei Bänden, wobei sich der erste Band der Theorie widmete und der zweite Band der Anwendung ihrer Materialien, einschließlich der neu entwickelten Materialien. Als Montessori 1916 nach Barcelona übersiedelte, erhielt sie dort die Chance, ihr pädagogisches Prinzip in einer Schule umzusetzen. Weiterhin wurde eigens für Montessori und ihre Pädagogik ein Ausbildungsinstitut errichtet (vgl. Raapke 2001, S.190). Als jedoch Montessori sich 1919 bei Unruhen nicht auf die Seite der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung stellen wollte, wurden ihr die Mittel für die Schule und das Ausbildungsinstitut entzogen. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1912, der Tod des Vaters folgte drei Jahre später, wandte sich Montessori verstärkt der Kirche zu. Ein katholischer Geistlicher war von Montessoris Prinzipien beeindruckt und wollte diese mit religionspädagogischen Aspekten verbinden. Montessori einigte sich mit dem Geistlichen. 1913 wurde das „Haus der Kinder in der Kirche“ in Barcelona errichtet (vgl. Ortling 1992, S.45). In abgewandelter Form ist diese religionspädagogische Arbeit Montessoris später in ihre Vorstellungen von der „Kosmischen Erziehung“ eingegangen (vgl. 4.6).

In den Niederlanden hatte sich indessen auch eine Montessori-Bewegung herausgebildet. Montessori reiste 1917 nach Holland und lernte dort den Biologen Hugo de Vries kennen. Dieser schlug Montessori vor, den von ihm verwendeten Begriff der „sensiblen Perioden“ für ihre Vorstellungen von der Entwicklung des Kindes zu übernehmen (vgl. Heiland 1991, S.76). Auch in Holland war das Interesse an der Montessori-Pädagogik groß. Von der international anerkannten Amsterdamer Modellschule für Montessori-Pädagogik breitete sich diese Pädagogik über das ganze Land aus (vgl. Kramer 1999, S.350). In Holland wurde zusätzlich zu den bereits bestehenden Kinderhäusern und Montessori-Grundschulen das erste Montessori-Lyzeum eröffnet, welches den Schülern ab einem Alter von zwölf Jahren offen stand. Montessori unterstützte den Aufbau dieses Lyzeums mit ihren Ideen und entwickelte daraus die später als “Erdkinder-Plan“ und „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ bekannt gewordene Ausdehnung ihrer Pädagogik auf das Jugendalter (vgl. 4.2.3).

In Deutschland hatte sich vor allem Clara Grunwald um die Errichtung von Montessori-Einrichtungen verdient gemacht. Sie war auch die erste Schülerin Montessoris, die eigenständig einen Ausbildungskurs zum Montessori-Pädagogen leitete. Montessori, die das Vorgehen Grunwalds bis dahin gebilligt hatte, wandte sich nun von Grunwald und der von ihr im Jahr 1925 gegründeten „Deutschen Montessori Gesellschaft“ (DMG e.V.) ab, entzog der Deutschen Montessori-Gesellschaft und deren Einrichtungen die Autorisierung und wurde Präsidentin des Vereins „Montessori-Pädagogik Deutschlands e.V.“ (vgl. Raapke 2001, S.195f.). 1929 wurde von Montessori und ihrem Sohn die „Association Montessori Internationale“ (AMI) gegründet. Der Sitz der AMI war bis 1935 zunächst in Berlin, wurde dann aber nach Amsterdam verlegt, wo er bis heute ist (vgl. Heiland 1999, S.79). Aufgabe der AMI ist es, zu überwachen, dass die Montessori-Prinzipien und das Material nicht verfälscht werden. In Kapitel 7 wird noch ausführlicher auf die AMI und die Deutsche Montessori-Gesellschaft eingegangen.

1924 nutzte Mussolini Montessoris Ruf für die Aufbesserung seines eigenen Ansehens und setzte sich aktiv für den Erhalt und die Ausdehnung der Montessori-Pädagogik in Italien ein (vgl. Kramer 1999, S.339). Auch ein Ausbildungszentrum für Montessoripädagogen wurde 1927 von ihm geplant. Jedoch ließen sich die Vorstellungen Montessoris von einem frei erzogenen und frei denkenden Kind nicht mit der Erziehung des faschistischen Systems Italiens vereinen, so dass es 1934 zum offiziellen Bruch kam und die italienischen Montessori-Schulen geschlossen wurden. Aus denselben Gründen wurde bereits ein Jahr vorher die Montessori-Pädagogik in Deutschland verboten. Unabhängig von den politischen Entwicklungen in Europa hatte Montessori bereits 1932 ihre erste große Rede über Friedenserziehung gehalten. In ihren Augen stellte „jedes neugeborene Kind […] eine neue Chance zum Frieden“ (Raapke 2001, S.197) dar. Montessori setzte sich dafür ein, diese Chance in der Erziehung unbedingt zu nutzen, mit dem Ziel eines friedlichen Zusammenlebens aller Nationen auf der Welt.

1936 verließ Montessori mit ihrem Sohn und dessen Familie Barcelona, weil in Spanien der Bürgerkrieg ausbrach, und sie zogen nach Laren in Holland. Im selben Jahr wurde ihr Buch „The Secret of Childhood“ veröffentlicht, in der die „Synthese von Montessori-Praxis und Montessoris Theorie“ (Heiland 1991, S.93) Gegenstand war. Aufgrund des großen Interesses an der Montessori-Pädagogik in Indien – sogar Gandhi und Tagore waren von ihren pädagogischen Vorstellungen beeindruckt – ging Montessori 1939 nach Indien um auch dort persönlich Ausbildungskurse zu leiten. Zusätzlich zu der Ausbildung zum Montessori-Pädagogen erhofften sich die Inder von dem Besuch Montessoris auch eine praktische Lösung für das in Indien weit verbreitete Problem des Analphabetismus' (vgl. Kramer 1999, S.405).

Nachdem Montessori sich bereits mit dem jungen Kindesalter und dem Jugendalter im Zusammenhang mit ihrer Pädagogik beschäftigt hatte, richtete sich nun ihr Blick auf die Kleinstkindphase und die Sprachentwicklung, Themen, die sie in ihrem 1949 erschienenen Buch „The Absorbent Mind“ näher erläuterte (vgl. Heiland 1991, S.107). Durch den in Indien praktizierten Hinduismus erweiterte sich Montessoris „religiöser Horizont“ und regte sie an, ihre Idee von der „kosmischen Erziehung“ noch einmal aufzugreifen. Doch es waren vor allem die Bücher ihres Uronkels, Antonio Stoppani, der sich zeitlebens darin versuchte, moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit den Glaubenssätzen der römisch-katholischen Kirche zu vereinen, die die Grundlage für die „Kosmische Theorie“ bildeten. Ihre Vorstellungen von einer Erziehung, die „die Sechs- bis Zwölfjährigen auf ihre Aufgabe als Verwalter und Mitschöpfer der Welt vorbereiten will“ (Schulz-Benesch 1992, S.37) nahmen Gestalt an (vgl. 4.6).

Die letzten drei Jahre ihres Lebens verbrachte Montessori wieder in Europa. Sie leitete weiterhin Ausbildungskurse und ihr wurden Ehrungen für ihre Arbeit zuteil. So wurde sie in den Jahren 1949, 1950 und 1951 aufgrund ihres Engagements in der Friedenserziehung für den Friedensnobelpreis nominiert. Am 6. Mai 1952 verstarb Maria Montessori in Nordwijk aan Zee in Holland.

2.6 Zusammenfassung

Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle/Italien geboren. Montessoris Vater war sehr konservativ eingestellt, ihre Mutter hingegen liberal und gleichzeitig sehr religiös. Durch diese gegensätzlichen Vorstellungen der Eltern lernte Montessori schon früh, für ihre Vorhaben zu kämpfen. Unterstützung erhielt sie dabei immer vonseiten der Mutter. Der Grundstein für Montessoris tiefe Religiosität, welche auch ihre spätere Arbeit, dabei vor allem ihre Sichtweise auf das Kind, stark beeinflusste, wurde bereits im Kindesalter durch ihre Mutter gelegt.

Aufgrund ihres mathematisch-naturwissenschaftlichen Interesses entschied sich Montessori zunächst, Ingenieurin zu werden. Dies entsprach genauso wenig den Vorstellungen, die der Vater vom Lebensweg seiner Tochter hatte, wie der sich an die Ausbildung anschließende Wunsch Montessoris, Ärztin zu werden. Montessori setzte sich durch und beendete 1896 ihr Medizinstudium als erster weiblicher Doktor in Italien.

Während ihrer anschließenden Arbeit an der Universitätsklinik in Rom hatte sie den ersten Kontakt mit geistig behinderten Kindern. Montessori wurde sich schnell der Tatsache bewusst, dass diese Behinderung eher auf pädagogischem als auf medizinischem Wege zu lösen sein würde. Bei ihrer Recherche Literaturrecherche zu diesem Thema stieß Montessori auf die Werke Itards und Séguins und baute deren entwickelte Sinnesmaterialien weiter aus. Durch den Einsatz dieser Materialien erzielte sie überraschende Erfolge bei ihrer Arbeit mit geistig behinderten Kindern. In ihr wuchs die Idee, dass diese Materialien auch die Entwicklung „normaler“ Kinder positiv beeinflussen könnte. 1907 erhielt Montessori in dem von ihr gegründeten „Casa dei bambini“ in Rom die Möglichkeit, die Wirkung ihres Sinnesmaterials auf die Entwicklung des Kindes zu beobachten und wurde in ihrer Annahme bestätigt. Im „Casa dei bambini“ beobachtete Montessori das erste Mal die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ und die damit einhergehende „Normalisierung“ des Kindes. Auch die passive Rolle des Erziehers zugunsten der freien Entwicklung des Kindes und die Idee der „vorbereiteten Umgebung“ wurden in diesem Kinderhaus geprägt. Die Beobachtungen Montessoris und die daraus resultierenden Erkenntnisse bildeten später die Grundlage ihrer Pädagogik.

Montessori weitete ihre Pädagogik auf Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren aus. Auf die Phase der Entwicklung ihrer Pädagogik folgte die Phase der Verbreitung ihrer Pädagogik auf der ganzen Welt. Die „Montessori-Methode“ fand weltweite Akzeptanz. Es wurden Montessori-Schulen und -Kinderhäuser errichtet, Ausbildungszentren für Lehrer entstanden und es bildeten sich Montessori-Gesellschaften in verschiedenen Ländern. Montessori war die einzige Pädagogin, der es gelungen war, eine reformpädagogische Bewegung weltweit bekannt zu machen. Dabei wurde sie lebenslang von ihrem Sohn Mario unterstützt.

Montessori entwickelte Ideen, wie ihre Pädagogik auf den Sekundarschulbereich ausgeweitet werden könnte. Die „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ entstand. Während des zweiten Weltkrieges hielt Montessori sich mit ihrem Sohn und dessen Familie in Indien auf, da auch dort großes Interesse an der Montessori-Pädagogik bestand. In Indien nahmen Montessoris Vorstellungen von der „Kosmischen Erziehung“ und der Friedenserziehung Gestalt an. Ferner beschäftigte sie sich mit der Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum Alter von zwei Jahren. Der Begriff des „absorbierenden Geistes“ wurde durch sie geprägt.

1949 kehrte Montessori endgültig aus Indien zurück und widmete sich bis zu ihrem Tod am 6. Mai 1952 weiterhin der Verbreitung ihrer Pädagogik.

Die Basis der Montessori-Pädagogik bildet die veränderte Sichtweise des Erwachsenen auf das Kind. Es gilt, die Phase der Kindheit als grundlegende Phase für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen zu betrachten und zu respektieren. Im folgenden Kapitel soll Montessoris neue Sichtweise auf das Kind noch weiter ausgeführt werden. In diesem Zusammenhang wird auch auf ihre damit verbundenen Vorstellungen zur Friedenserziehung eingegangen.

3 Das Verhältnis von Kind und Erwachsenem

Montessori stellt fest, dass sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rolle und das Ansehen des Kindes in der Gesellschaft bereits verbessert haben, dass es jedoch immer noch an einer grundlegenden Akzeptanz und einer Anerkennung der Rechte des Kindes mangelt. Aus diesem Grund bezeichnet Maria Montessori ihre pädagogische Bewegung selbst als 'einen sozialen Feldzug zum Verständnis des Kindes' (Montessori, zit. nach Standing 1957, S.226).

Im folgenden Kapitel sollen auf der Grundlage von Montessoris Kritik an dem Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem ihre Vorstellungen von einer kindgemäßen Erziehung dargelegt werden. Darauf aufbauend soll erläutert werden, wie sich diese Erziehung ihrer Vorstellung nach auf den Frieden in der Welt auswirkt.

3.1 Der Kampf zwischen Kind und Erwachsenem

Das Problem der bisherigen Erziehung formuliert Montessori (20051, S.7) wie folgt: „Von vielen Pädagogen und den meisten Eltern wird die Kindheit als ein Durchgangsstadium zum Erwachsensein betrachtet, und in diesem Sinne werden alle Bedürfnisse des kindlichen Lebens vom Erwachsenen bestimmt.“ Ihrer Meinung nach erheben sich die Erwachsenen über das Kind und maßen sich an, zu wissen und darüber zu entscheiden, was für das Kind gut ist und was nicht. „Da der Erzieher sich zum Maßstab für das Werden und Tun des Kindes macht, werden Abweichungen als zu korrigierende Fehler betrachtet.“ (Holtstiege 1991, S.31). Aus dieser autoritären Haltung des Erwachsenen gegenüber dem Kind entsteht ein Kampf zwischen Kind und Erwachsenem (vgl. Montessori 1990, S.187), und zwar immer dann, wenn der Erwachsene dem Kind seinen Willen aufzwingen will. Montessori geht davon aus, dass fast alle Erziehungsversuche der Erwachsenen auf der einen Seite zwar gut gemeint sind, da sie das Ziel verfolgen, das Kind zu erziehen und weiterzubilden. Auf der anderen Seite enden sie in der Umsetzung jedoch meist in der Unterdrückung des Kindes. Dementsprechend bezeichnet sie diese Missverständnisse auch als „unbewußte[7] Irrtümer“ (Montessori 1990, S.21) des Erwachsenen bei der Erziehung des Kindes.

Diese „unbewussten Irrtümer“ und den daraus resultierenden Kampf zwischen Kind und Erwachsenem gilt es zu beseitigen. Der Erzieher muss ein Verständnis dafür entwickeln, dass alle negativen Persönlichkeitsmerkmale, die der Erwachsene später aufweist, in engem Zusammenhang mit seiner meist autoritären Erziehung in der Kindheit stehen. Ziel des autoritären Erziehungsstils ist es, dass der Stärkere, der Erwachsene, dem Schwächeren, dem Kind, seinen Willen aufzwingt. Dieses Verhalten des Erziehers hat zur Folge, dass sämtliche in dem Kind vorhandenen Kräfte zum Selbstaufbau unbewusst unterdrückt werden. Die Kräfte, welche das Kind für den Persönlichkeitsaufbau benötigt, werden stattdessen in dem Kampf gegen den Erwachsenen eingesetzt. Da dieser Kampf ungleich ist, erlebt sich das Kind stets in der Rolle des „Besiegten“ und beginnt, sich seinem Schicksal zu fügen, blind zu gehorchen und entwickelt Verhaltensanomalien. Die Anomalien entstehen aus der inneren Zerrissenheit des Kindes, das gerne seinen inneren, aufbauenden Kräften folgen würde, jedoch seine ganze Kraft in dem Kampf gegen den Erwachsenen einsetzen muss. So wird das Kind entweder schüchtern, launisch oder in anderer Weise verhaltensauffällig. Aus diesem Grund fordert Montessori, dass die in dem Kind vorhandenen Kräfte zum Selbstaufbau Beachtung finden.

3.2 Das Ende des Kampfes

Die Persönlichkeitsentwicklung steht in der Erziehung im Sinne Montessoris im Vordergrund. Montessori geht in ihrer „Theorie der sensiblen Phasen“ davon aus, dass sich die Persönlichkeit des Kindes von der Geburt bis zum Alter von ungefähr achtzehn Jahren aufbaut (vgl. 4.2.). Ab dem achtzehnten Lebensjahr ist der Jugendliche in der Regel in seinem Charakter, seinen Wesenszügen, seinem Verhalten und ebenso in seinen Fehlern entwickelt, geprägt und nicht mehr formbar. Dementsprechend misst Montessori der Achtung des Kindes und seines inneren Aufbaus viel Bedeutung bei.

Da Montessori die Phase der Kindheit und der Jugend als entscheidende Phasen für den Persönlichkeitsaufbau des Kindes ansieht, müssen diese Phasen stärkere Beachtung seitens der Erwachsenen finden. Die Lösung des Erziehungsproblems liegt in einer grundlegenden Einstellungsänderung und der damit einhergehenden Verhaltensänderung des Erwachsenen gegenüber dem Kind (vgl. 5.3.2). Montessori fordert, dass die Phase der Kindheit von den Erwachsenen als eigenständige und vor allem grundlegende Entwicklungsphase angesehen und nicht nur als Übergangsstadium zum Erwachsensein betrachtet wird. Der Erwachsene muss sich vom autoritären, unterdrückenden Erziehungsstil lösen und eine neue geistige Haltung gegenüber dem Kind einnehmen, „eine sich bescheidende, durch das Vertrauen in die gottgegebenen inneren Schöpferkräfte des Kindes ehrfurchtsvollere Haltung.“ (Standing 1957, S.239). Montessori fordert die Erzieher dazu auf, die sich phasenweise, in sensiblen Perioden[8] vollziehende, Entwicklung des Kindes zu achten. Um die sensiblen Perioden des Kindes und die damit einhergehenden Bedürfnisse erkennen und darauf eingehen zu können, muss der Erwachsene das Kind zunächst genau beobachten und dann das Kind dabei unterstützen, sich gemäß seines inneren Bauplans frei und selbsttätig zu entwickeln. Es gilt, im Kinderhaus und in der Schule eine respektvolle und harmonische Atmosphäre zu schaffen, die es dem Kind ermöglicht, sich selbstständig und ohne Repressionen des Erwachsenen zu entwickeln. Das bereits beschriebene Gefühl, „Sieger“ oder „Besiegter“ zu sein, lässt sich dabei nicht immer vermeiden, jedoch kann dem Kind durchaus das Gefühl vermittelt werden, dass niemand immer gewinnen kann und dass es kein Mangel ist, auch einmal zu verlieren. So geht das Kind als charakterstarke, selbstbewusste Persönlichkeit aus seiner Kindheit hervor.

3.3 Persönlichkeitsbildung als Grundlage für den Frieden auf der Welt

Im Charakter gefestigte Menschen bilden laut Montessori die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben aller Nationen auf der Erde. Montessori geht davon aus, dass der Mensch, wenn er in seiner Kindheit nicht unterdrückt, sondern „psychisch gesund aufgewachsen wäre und durch eine vollständige Entwicklung einen starken Charakter und eine klare Intelligenz erreicht hätte, […] nicht in sich selbst zwei entgegengesetzte moralische Prinzipien dulden [könnte]“ (Montessori 1992, S.37). Diese entgegengesetzten moralischen Prinzipien sieht Montessori zum Beispiel in den Erwachsenen, die in den Krieg ziehen, für ihr eigenes Leben kämpfen, andere Leben dafür aber vernichten. Wie bereits weiter oben festgestellt, liegen die Gründe für dieses unreflektierte Verhalten der Menschen begründet in ihrer autoritären Erziehung. Diese Menschen haben gelernt, folgsam zu sein, zu gehorchen und sich ihrem Schicksal zu ergeben. Ein intelligenter, moralisch und charakterlich gefestigter Mensch wäre laut Montessori zu Gewalttaten, wie zum Beispiel der Kriegsführung, nicht in der Lage.

Dementsprechend gilt es, die Jugend zu intelligenten, persönlichkeitsstarken Erwachsenen heranzuziehen. Die Aufgabe von Schule und Erziehung ist dabei, dem Kind bei dieser Entwicklung zu helfen. Montessori sieht in der Beendigung des Kampfes zwischen Kind und Erwachsenem einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft und damit auch zu der von ihr entwickelten Erziehung zum Frieden. Die Persönlichkeitsbildung des Kindes dient folglich dem Frieden auf der Welt. Montessori (1992, S.48) bezeichnet die Erziehung auch sinnbildlich als „Waffe des Friedens“. Aus diesem Grund darf das Kind in der Erziehung nicht länger unterdrückt werden. Der Selbstaufbau des Kindes muss in der Erziehung berücksichtigt werden. Dazu bedarf es des Respekts und der Achtung des Erwachsenen gegenüber dem Kind.

3.4 Zusammenfassung

Montessori kritisiert das bisherige Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem. Sie sieht darin einen Machtkampf, in dem der Erwachsene seine Autorität dazu missbraucht, dem Kind seinen Willen aufzuzwingen. Dies führt zu Verhaltensanomalien des Kindes, da es sich aufgrund der Unterdrückung durch den Erwachsenen nicht gemäß seiner inneren Aufbaukräfte entwickeln kann. Montessori geht davon aus, dass gesellschaftliche Missstände wie Kriege oder Konflikte auf die durch autoritäre Erziehung bewirkten Verhaltensanomalien zurückzuführen sind. Aus ihrer Sozialkritik ergibt sich die Forderung nach einer kindgemäßen Erziehung.

Montessori strebt ein neues Verständnis von der Erziehung des Kindes an, in der der Erzieher um die inneren Aufbaukräfte des Kindes weiß, sie versteht und sie respektiert. Der Erzieher muss sich zugunsten des eigentätigen Aufbaus des Kindes zurückziehen, und dem Kind Zeit und Raum geben, sich frei zu entwickeln. Nur so kann der Kampf zwischen Erwachsenem und Kind beendet werden und die Kinder können zu charakterstarken Individuen heranwachsen. Die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes steht in der Montessori-Pädagogik an erster Stelle. Oberstes Ziel ist es, dass die Kinder persönlich gestärkt aus ihrer Jugend hervorgehen, denn für Montessori liegt die Zukunft der Welt in den Händen der Kinder. Die moralisch erzogenen und charakterlich gefestigten Individuen „erneuern“ die Menschheit und bilden den Ausgangspunkt für ein friedliches Zusammenleben aller Nationen auf der Welt.

Wie bereits angedeutet, beruht der Kerngedanke von Montessoris Anthropologie auf der Annahme, dass sich der Mensch selbst entwickelt, angetrieben durch innerliche, schöpferische Energien. Im folgenden Kapitel soll daher, unter Berücksichtigung der anthropologischen und bildungstheoretischen Vorstellungen Montessoris, dargestellt werden, in welchen Phasen sich die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes vollzieht.

4 Montessoris anthropologische und bildungstheoretische Vorstellungen als Grundlage ihrer Pädagogik

In diesem Kapitel sollen Montessoris Annahmen von der Entwicklung des Kindes, auf deren Grundlage Montessori ihre pädagogischen Prinzipien entwickelte, näher betrachtet werden. Begonnen wird mit der Darstellung der Phasen in denen sich die Entwicklung des Kindes vollzieht. Gefolgt wird dies von der Betrachtung gewisser phasenspezifischer Eigenschaften des Kindes. Des Weiteren findet das von Montessori entdeckte Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit in seiner Funktion als Ausgangspunkt der kindlichen Entwicklung Berücksichtigung. Abschließend wird Montessoris Vorstellung von der Kosmischen Erziehung erläutert, welche die bildungstheoretische Grundlage und so die zentrale Idee ihrer pädagogischen Arbeit bildet.

4.1 Die pränatale - und die postnatale Phase

Montessori geht in ihrer Theorie von der Entwicklung des Kindes davon aus, dass das Kind in seiner Entwicklung zwei embryonale Phasen durchläuft. In der ersten embryonalen Phase, auch pränatale Phase genannt, vollzieht sich die physische Entwicklung des Kindes im Mutterleib. Die zweite embryonale Phase schließt sich direkt an die Geburt an und wird folglich als postnatale Phase bezeichnet. In dieser Phase vollzieht sich vorrangig die psychische Entwicklung des Kindes. Innerhalb beider Phasen sind ähnliche Entwicklungsabläufe des Kindes zu beobachten.

In ihren Aussagen zur pränatalen Entwicklung stützt Montessori sich auf die Erkenntnisse des Biologen G.F. Wolff, der die Präformationstheorie widerlegt hat. Die Präformationstheorie besagt, dass bereits das fertige Lebewesen im Miniaturformat in der Keimzelle enthalten ist. Mittels mikroskopischer Beobachtungen konnte Wolff jedoch diese Theorie widerlegen und beweisen, dass die Keimzelle in keiner Weise vorgeformt ist. Daraus schlussfolgerte er, dass in der Keimzelle eine Art Energie bestehen müsse, die nicht sichtbar ist und doch den Aufbau dieser Zelle vorantreibt (vgl. Fuchs 2003, S.56). Montessori geht mit der Vorstellung Wolffs über die Entwicklung des Lebens konform: „Der Bauplan läßt sich nur aus der unermüdlichen Tätigkeit der Zellen erkennen, wenn das Werk bereits getan ist. Nichts anderes ist zu sehen als dieses Werk selbst.“ (Montessori 1990, S.25). Diesen Selbstaufbau des Organismus' bezeichnet Montessori (1990, S.25) auch als „Wunder der Schöpfung“. Aus der ersten Keimzelle bilden sich durch Zellteilung immer weitere Zellen, aus denen sich dann letztendlich die einzelnen Organe bilden. Die Organe entwickeln sich zunächst getrennt voneinander, bilden dann jedoch eine funktionale Einheit.

Die postnatale Entwicklung des Kindes auf geistiger Ebene vollzieht sich auf ähnliche Weise. Das Kind besitzt zunächst kein Verhaltensmuster, es ist also ein „psychischer Embryo“ und entwickelt sich erst in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Dabei verfolgt das Kind, ähnlich wie bei der pränatalen Entwicklung, einen unsichtbaren Plan „jener psychischen Instinkte und Funktionen, die das Wesen instand setzen sollen, zur Außenwelt in Beziehung zu treten.“ (Montessori 1990, S.26). Montessori hat diesen Plan auch als „immanenten Bauplan“ des Kindes bezeichnet. In diesem inneren Bauplan sind sensible Phasen festgelegt, die periodisch auftreten und das Kind zur selektiven Aufnahme von Umweltreizen antreiben (vgl. 4.2., inklusive 4.2.1 bis 4.2.4). Hervorgerufen durch die Einwirkung unterschiedlichster Umwelteinflüsse und der Variationsformen des in dem Kind vorhandenen schöpferischen Geistes, erfolgt eine individuelle Entwicklung des Kindes. Während der sensiblen Phasen wird das Kind von einer „potentiellen Energie“ geleitet, die es dazu befähigt, „auf Grund seiner Umwelteindrücke eine seelische Welt aufzubauen.“ (Montessori 1990, S.47). Innerhalb dieser zeitlich begrenzten Phasen erlernt das Kind einzelne Funktionen getrennt voneinander, wie zum Beispiel das Sprechen oder die Bewegung. Erst wenn alle sensiblen Phasen durchlebt sind, ergeben diese einzelnen Funktionen das Ganze, nämlich die psychische Einheit des Kindes. Dies ist vergleichbar mit dem Vorgang der Entwicklung der einzelnen Organe des Kindes in der pränatalen Phase, die auch erst am Ende das Ganze bilden - in diesem Fall das Kind.

Die Entwicklung des Kindes in den ersten drei Lebensjahren kann mit der vorgeburtlichen Entwicklung des Kindes verglichen werden. Zunächst bilden sich aus einer Keimzelle viele Zellen, die sich im Laufe der Zeit immer weiter ausbilden und in ihren Funktionen spezialisieren, bis sie am Ende das Kind hervorbringen. Die geistige Entwicklung des Kindes in der postnatalen Phase verläuft ähnlich. Anfangs sammelt das Kind viele Eindrücke aus der Umwelt mithilfe des „absorbierenden Geistes“, auf den unter 4.3 noch ausführlicher eingegangen wird. Die gesammelten Eindrücke werden dann im Alter von drei bis sechs Jahren mit Hilfe der „Polarisation der Aufmerksamkeit“ (vgl. 4.4) strukturiert und in Beziehung zueinander gesetzt und so in einem 'komplexen Ideensystem' organisiert (Fuchs 2003, S.59).

In den sensiblen Phasen offenbart sich der innere Bauplan des Kindes. Diesen gilt es, vom Erwachsenen zu achten und darauf zu vertrauen. Der Erwachsene steht dem Kind unterstützend bei dem Selbstaufbau zur Seite, jedoch kann er die Entwicklung selbst nicht lehren (vgl. Montessori 1975, S.184). Sie vollzieht sich, angeleitet durch die inneren Impulse des Kindes. Demzufolge ist das Kind der „Baumeister des Menschen“ (Montessori 1990, S.46). Das in der Montessori-Pädagogik eingesetzte Material unterstützt das Kind zusätzlich bei der Entwicklung seiner Persönlichkeit, da es entsprechend der Sensitivitäten des Kindes in den unterschiedlichen Phasen gestaltet ist (vgl. 5.3.1).

4.2 Die sensiblen Phasen

Die Entwicklung des Kindes in Phasen vollzieht sich nach Montessori in Phasen, in so genannten „sensiblen Phasen“. Diesen Begriff hat Montessori von dem holländischen Biologen Hugo de Vries übernommen der ähnliche Entwicklungen in der Tierwelt entdeckt hat. Dabei handelt es sich um „besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter der Lebewesen auftreten. Sie sind von vorübergehender Dauer und dienen nur dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen.“ (Montessori 1990, S.47). Die Phasen können nicht von außen herbeigeführt werden, da die Entwicklung des Kindes von inneren Gesetzmäßigkeiten entsprechend seines immanenten Bauplans gelenkt wird. Daraus lässt sich schließen, dass sich nicht alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt in ein- und derselben sensiblen Phase befinden. Im Ablauf der sensiblen Phasen lässt sich eine Reihenfolge erkennen: „Diese Phasen haben in der Persönlichkeitsentwicklung fortschreitenden Aufbaucharakter mit nicht umkehrbarer Richtung.“ (Holtstiege 2004, S.74). Demnach bildet die eine sensible Phase die Grundlage für die nächste Phase: „Je mehr Aufmerksamkeit den Bedürfnissen einer Periode geschenkt wird, um so größer wird der Erfolg in der darauffolgenden sein.“ (Montessori 1975, S.174).

Sensible Phasen entstehen nicht durch äußere Anregung, sondern aufgrund eines inneren Impulses, der die Lernbereitschaft des Kindes erhöht und dessen Wahrnehmung auf spezielle Umweltbereiche lenkt. In einer sensiblen Phase nimmt das Kind nur die Gegenstände in der Umwelt wahr, die ihm bei seinem Lernvorgang dienlich sind. Montessori spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „potentiellen Energie“ (Montessori 1990, S.47), die diese Empfänglichkeitsperiode einleitet. Aufgrund dieser inneren Energie ist das Kind dazu in der Lage, einen Lernfortschritt mühelos und ohne großen Kraftaufwand zu erreichen. Das von Montessori entwickelte didaktische Material befriedigt die zu dem Zeitpunkt vorhandenen Bedürfnisse des Kindes. Es kann nie Auslöser für eine sensible Phase sein. Auch der Lehrer hat keinen Einfluss auf die sensiblen Phasen. Seine Aufgabe besteht darin, das Kind sorgfältig zu beobachten, um die Sensibilitäten des Kindes zu erkennen. Hat der Lehrer die sensible Phase des Kindes erkannt, ist es seine Aufgabe, das Kind in Kontakt mit den entsprechenden Materialien zu bringen. Danach muss der Lehrer sich wieder zurückziehen, damit er den Selbstaufbau des Kindes nicht behindert (vgl. 5.3.2.3). „Das Ziel, auf das alle didaktischen Bemühungen gerichtet sind, besteht in der Intention, dem Kinde zu helfen, sich durch Selbständigkeit zur freien Persönlichkeit zu entwickeln.“ (Holtstiege 2004, S.84). Die sensiblen Phasen bilden folglich die Grundlage für den Persönlichkeitsaufbau und die damit einhergehende „Normalisierung“ des Kindes (vgl. 4.5). Wird eine sensible Phase des Kindes nicht erkannt und somit übergangen, ist es „mit Aufwand von Willenskraft, mit Mühe und Anstrengung“ (Montessori 1990, S.50) verbunden, sich das nicht Erlernte später anzueignen. Unter Umständen ist dies auch gar nicht mehr möglich und führt zu Fehlentwicklungen des Kindes.

[...]


[1] Die Begriffe “Freie Arbeit”, “Freiarbeit” und “freie Arbeit” werden in der Literatur synonym verwendet und können deshalb jederzeit begrifflich ausgetauscht werden. Der Begriff „Freie Arbeit“ wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit als Eigenname benutzt und aus diesem Grund in der weiteren Verwendung groß geschrieben.

[2] Montessori, M. (1896): Brief an Clara.

[3] Hervorhebungen im Original.

[4] An dieser Stelle und in den weiteren Ausführungen werden Zitate grundsätzlich wie im Urtext angegeben. Regeln der neuen Rechtschreibung finden in den Zitaten keine Berücksichtigung.

[5] Alle von Standing verwendeten Aussagen Montessoris sind nach eigenen Angaben persönlichen Gesprächen mit Montessori entnommen.

[6] Die Begriffe „Erzieher“, „Lehrer“ und „Leiter“ sind als Synonyme zu verstehen und können deshalb jederzeit begrifflich ausgetauscht werden. Um einen besseren Lesefluss zu gewährleisten werden in dieser Arbeit die männlichen Begriffe benutzt, die gleichermaßen die weibliche Form beinhalten. Ebenso implizieren die Begriffe „Schüler“, „Student“ und „Referendar“ die weibliche Form.

[7] Hervorhebung im Original.

[8] Die Begriffe „sensible Perioden“ und „sensible Phasen“ sind als Synonyme zu verstehen und können deshalb jederzeit begrifflich ausgetauscht werden.

Ende der Leseprobe aus 133 Seiten

Details

Titel
Montessori-Pädagogik in der Diskussion. Von den ursprünglichen Ansätzen bis zu aktuellen Umsetzungsmöglichkeiten.
Hochschule
Universität Lüneburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
133
Katalognummer
V71665
ISBN (eBook)
9783638621236
Dateigröße
3807 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Montessori-Pädagogik, Diskussion, Ansätzen, Umsetzungsmöglichkeiten, Berücksichtigung, Praxisbeispielen
Arbeit zitieren
Diana Wellige (Autor:in), 2006, Montessori-Pädagogik in der Diskussion. Von den ursprünglichen Ansätzen bis zu aktuellen Umsetzungsmöglichkeiten., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71665

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