Bilingualismus und bilinguale Spracherziehung aus linguistischer Perspektive


Examensarbeit, 2006

107 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Theoretische Grundlagen
2.1 Begrifflichkeiten
2.1.1 Erstsprache
2.1.2 Muttersprache
2.1.3 Zweitsprache
2.1.4 Mehrsprachigkeit
2.1.5 Bilingualismus
2.2 Einblick in die Spracherwerbstheorie
2.2.1 Theorie des Behaviorismus
2.2.2 Theorie des Nativismus
2.3 Spracherwerb
2.3.1 Monolingualer Erstspracherwerb
2.3.2 Bilingualer Erstspracherwerb

3 Einführung in das Thema des Bilingualismus
3.1 Zur Definition von Bilingualismus
3.2 Forschungsbereiche
3.2.1 Pädagogik
3.2.2 Linguistik
3.2.2.1 Psycholinguistik
3.2.2.2 Neurolinguistik
3.2.2.3 Soziolinguistik
3.3 Hintergründe für die Entwicklung von Bilingualismus
3.3.1 Familiäre Aspekte
3.3.2 Geschichtliche Aspekte
3.3.3 Geografische Aspekte
3.3.4 Soziokulturelle Aspekte
3.3.5 Aspekt der Globalisierung

4 Bilinguale Spracherziehung
4.1 Die Altersfrage
4.2 Familiäre bilinguale Erziehung
4.2.1 Allgemeines
4.2.2 Modelle und Methoden
4.3 Schulische bilinguale Erziehung
4.3.1 Allgemeines
4.3.2 Modelle und Methoden
4.3.2.1 Immersion
4.3.2.2 Kritische Betrachtung

5 Bilingualismus unter soziolinguistischen Gesichtspunkten
5.1 Code-Choice
5.1.1 Communication Accommodation Theory (CAT)
5.1.2 Markedness Modell (MM)
5.2 Code-Switching
5.2.1 Definition
5.2.2. Defizitfrage
5.2.3 Ursachen

6 Vor- und Nachteile des Bilingualismus
6.1 Nachteile
6.2 Vorteile
6.3 Vergleichende Zusammenfassung

7 Resümee

8 Glossar

9 Abbildungsverzeichnis

10 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In Anbetracht globaler Entwicklungen nehmen zwischenmenschliche, grenzüberschreitende Kontakte rapide zu. Sich verdichtende internationale Verflechtungen auf wirtschaftlicher Ebene bedeuten für viele Berufsspaten eine Unumgänglichkeit mehrsprachiger Befähigung. Auch die heutigen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten fördern das Interesse und häufig die Notwendigkeit des Erlernens weiterer Sprachen neben der eigenen Muttersprache.

Nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Mischehen besteht für viele Kinder die Möglichkeit, schon von Geburt an zwei Sprachen zu erwerben. Diese Form des Zweisprachigkeitserwerbs ist jedoch bei weitem nicht die einzige und lässt sich durch zahlreiche weitere ergänzen. Diese Vielfalt kann als stellvertretend für das gesamte Feld der Zweisprachigkeit angesehen werden. Bei dem Versuch eines Einblicks in die Thematik des Bilingualismus werden Interessierte häufig mit einer kaum überschaubaren Fülle an Fachliteratur konfrontiert.

Die vorliegende Arbeit bezweckt eine Reduzierung auf einige grundlegende Aspekte des ausgedehnten Themenfeldes des Bilingualismus, welche eine klar strukturierte Übersicht bieten sollen. Anhand dieser wird ein Einfinden in die Materie ermöglicht und gleichzeitig wird der Leser für die Komplexität der Thematik sensibilisiert.

Der methodische Ansatz hierbei ist es, ausgewählte Theorien zu erörtern, sie nachfolgend mit alltagsbezogenen Forschungsbereichen abzugleichen, um abschließend eine Antwort auf die Frage nach der positiven oder negativen Dominanz der Aspekte des Bilingualismus zu finden. Ziel ist es dabei, häufig auftretende Kontaktpunkte zur Zweisprachigkeit zu beleuchten und zu erschließen. Basierend auf gewonnenen Erkenntnissen ist zum Ende der Arbeit eine Evaluation positiver und negativer Auswirkungen des Bilingualismus vorgesehen.

Um sich mit dem Inhalt vertraut machen zu können, ist zum Einstieg eine Vermittlung fundamentalen Wissens unverzichtbar. Theoretische Grundlagen verschaffen das nötige Verstehen für ein weiteres Lesen.

Durch das Aufführen verschiedener Entstehungsursachen des Bilingualismus, soll der erforderliche Weitblick geschärft werden, da häufig nur einige wenige Beispiele aus dem näheren Umfeld in Betracht gezogen werden.

Ein erstes Hauptaugenmerk liegt auf der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema der bilingualen Spracherziehung. Immer wieder stellen Eltern und Lehrer die Frage nach dem optimalen Lernalter. Diese gilt es, basierend auf differenzierten Betrachtungen von Forschungsergebnissen, zu beantworten. Des Weiteren ist eine Unterteilung in familiäre und schulische bilinguale Erziehung sinnvoll. Entsprechende Methoden und Vorgehensweisen werden erläutert und verglichen.

Die Bandbreite potentieller Interessensschwerpunkte wird zu Beginn der Arbeit durch Vorstellung verschiedener Forschungsbereiche verdeutlicht, deren Fokus auf bestimmte Gebiete der Zweisprachigkeit gerichtet ist. Im späteren Verlauf der Arbeit wird dann speziell aus soziolinguistischer Perspektive der Forschung das Code-Switching, der Sprachwechsel Bilingualer, ausführlich betrachtet. Diese Besonderheit zweisprachiger Konversationen wird häufig – insbesondere im Hinblick auf mangelnde sprachliche Befähigung – diskutiert und bedarf einer näheren Analyse.

Als Abschluss der Arbeit greift das letzte Kapitel eine Auswahl von Vor- und Nachteilen des Bilingualismus auf, die gegeneinander aufgelistet und in einem Fazit evaluiert werden.

2 Theoretische Grundlagen

Um ein Basisverständnis für die Materie zu vermitteln, werden im Folgenden fundamentale Begriffe definiert. Auch werden grundlegende, klassische Theorieansätze zum Thema Spracherwerb aufgeführt. Um Übersichtlichkeit zu gewährleisten, findet eine Beschränkung auf zwei der Haupttheorien bzw. -strömungen statt.

Weiter wird der Prozess des Erstspracherwerbs erläutert. Da bilingualer Erstspracherwerb als eine Variante des monolingualen Erstspracherwerbs angesehen werden kann, wird vorerst der monolinguale Erstspracherwerb betrachtet, um anschließend den bilingualen Verlauf besser erfassen zu können.

2.1 Begrifflichkeiten

Viele der folgenden Begriffe sind in der Regel aus dem alltäglichen Sprachgebrauch bekannt, bedürfen aber dennoch einer klaren Definition, da neben abweichendem individuellem Verständnis auch in der Literatur keine übereinstimmenden Begriffsauslegungen gelten.

2.1.1 Erstsprache

Als Erstsprache wird die Sprache bezeichnet, die vom Menschen zuerst erworben wird. Wenn jemand von Geburt an zwei Sprachen erlernt, so ist im Regelfall eine Unterscheidung zwischen der dominanten, starken und der weniger stark ausgeprägten, der schwachen Sprache vorzunehmen.[1] Die besser beherrschte Sprache wird vom Sprecher häufiger genutzt und kann somit als seine Erstsprache bezeichnet werden. Nicht in allen Fällen ist die dominante Sprache jedoch auch die zuerst erworbene. An dieser Stelle können Kinder mit Migrationshintergrund als Beispiel aufgeführt werden. Wandern sie in jungen Jahren einem neuen Land zu, so ist es keine Ausnahme, dass sie die Sprache der neuen Umgebung annehmen und darüber hinaus ihre zuerst erlernte Landessprache weniger nutzen, teilweise vergessen oder gar verlieren.[2]

2.1.2 Muttersprache

Wie der Begriff schon selbst beschreibend aussagt, ist die Muttersprache die Sprache, die von der Mutter bzw. der Hauptbezugsperson mit dem Kind gesprochen wird und die das Kind von dieser lernt. Sie ist die Sprache, die von der frühsten Kindheit an gesprochen wird. Kielhöfer und Jonekeit beschreiben sie „als die Sprache der Gefühle, als Sprache, in der man träumt, denkt, betet, flucht, zählt und rechnet.“[3] Weiter erklären sie, dass Zweisprachige imstande sind all dies mittels jeder ihrer Sprachen umzusetzen, was sie zu der denkbaren Annahme mehrerer Muttersprachen führt.[4]

Entgegengesetzt könne es auch zu einem Verlust der Muttersprache kommen. Günther und Günther nennen den Fall Kolumbus. Es sei zu vermuten, dass er seine Muttersprache Genuesisch durch seine Reisen und das Erlernen von Latein, Spanisch und Portugiesisch nahezu verloren hatte.[5]

Können also zuerst erworbene jedoch verlernte Erstsprachen noch als solche bezeichnet werden? Die gleiche Frage gilt für eine nach obiger Definition erlernter Muttersprache, die jedoch verlernt und nicht mehr gesprochen wird. Ist an dieser Stelle der Begriff der Muttersprache noch greifend?

Durch eine hohe Anzahl verschiedener Möglichkeiten des ersten Spracherwerbs oder auch der Entwicklung der Muttersprache könnte pro Fallkonstellation eine neue Begriffsdefinition erarbeitet werden. Zur Vereinfachung des weiteren Lesens soll folgende Auslegung allgemein gültig sein:

Die Erstsprache bezeichnet die Sprache, die als erste vom Kind erlernt wird. Da diese in den meisten aller Fälle durch die Muttersprache verkörpert wird, werden diese beiden Termini für den weiteren Verlauf der Arbeit synonym verwendet. Auch wird die Erstsprache bzw. die Muttersprache mit der dominanten Sprache gleichgesetzt. Im Fall Bilingualer wird Muttersprache für die mit der Mutter gesprochene Sprache genutzt.

2.1.3 Zweitsprache

Unter einer Zweitsprache wird eine Sprache verstanden, die nach der Erstsprache erworben bzw. erlernt wird. Häufig wird sie dem Begriff der Fremdsprache gleichgestellt. Lewandowski unterscheidet zwischen dem natürlich erworbenen und systematisch gesteuerten Fremdspracherwerb.[6] Seiner Auffassung nach wird eine zweite Sprache entweder unbewusst und ungesteuert unter z. B. familiären Gegebenheiten erworben oder das Kind lernt die zweite Sprache bewusst und gesteuert, durch z. B. Selbst- oder Fremdsteuerung. Bei dem natürlichen Erwerb sind methodische Konzepte unnötig, das Kind erwirbt die zweite Sprache automatisch. Kielhöfer und Jonekeit listen dennoch einige zu berücksichtigende Prinzipien für einen ungehinderten Erfolg auf. Hierbei nennen sie „die funktionale Sprachtrennung, emotionale und sprachliche Zuwendung [und eine] positive Spracheinstellung […].“[7]

Apeltauer verweist auf eine obligate Unterscheidung zwischen dem Begriff der Fremd- und der Zweitsprache. Fremdsprachenerwerb sei nur innerhalb der Schule möglich, in der Regel in der Zeit nach der Grundschule. Der Lerner könne diese meistens nicht außerhalb des Unterrichts gebrauchen und sei dadurch nicht besonders ambitioniert die fremde Sprache zu erlernen. Durch die fehlenden äußeren Umstände, die zum Üben anreizen und die niedriger angesetzte Stundenzahl im schulischen Lehrplan, sei es ungewöhnlich ein muttersprachliches Niveau in einer Fremdsprache zu erreichen. Eine Zweitsprache hingegen sei allgemein akzeptiertes Mittel der Kommunikation in der Gesellschaft des Lerners. Der Unterricht beginne daher schon in der Grundschule mit einer höheren Stundenanzahl. Die Intensität werde zumeist durch täglichen außerschulischen Kontakt und damit verbundener Anwendung gestärkt.[8]

Für diese Arbeit sind der Begriff der Zweit- und Fremdsprache gleichzustellen, um ein störungsfreieres Lesen zu gewähren.

Oftmals ist eine Zweitsprache überlebensnotwendig. Wieder sei das Beispiel einer Migrantenfamilie in einem neuen Land mit einer für sie neuen Sprache erwähnt. Allein die Hürden der Bürokratie macht ein Erlernen der neuen Sprache für bloße grundlegende organisatorische Angelegenheiten unabdingbar. Arbeitsplatz, Schule und soziales Umfeld könnten ohne diese nicht zugänglich gemacht werden.

Zweitsprache bedeutet für viele auch das Erlernen einer regionalen Mundart.[9] Gerade in Deutschland gibt es viele ortsbezogene Dialekte, die der alltäglichen Kommunikation dienen und auf dem Stundenplan der regionalen Schulen stehen.

2.1.4 Mehrsprachigkeit

Mehrsprachigkeit liegt vor, wenn ein Individuum mehr als einer Sprache mächtig ist. Hierbei wird ein reibungsloser Wechsel zwischen den Sprachen vorausgesetzt. Für diesen gibt es jedoch vielfältige Auslegungen und Definitionsversuche.

Vielerorts ist das Beherrschen mehrerer Sprachen nichts Außergewöhnliches. Speziell in grenznahen Wohngebieten ist das Erlernen zweier oder mehrerer Ländersprachen alltäglich. In Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden wird Mehrsprachigkeit als selbstverständlich angesehen und die Minderheit des Landes kann sich als monolingual bezeichnen. Immerhin dürfen sich 22% der dänischen und 44% der niederländischen Bevölkerung mehrsprachig nennen.[10]

2.1.5 Bilingualismus

Der Bilingualismus ist als eine Form der Mehrsprachigkeit anzusehen. Wörtlich übersetzt steht das lateinische Präfix bi- für zwei- oder zwie-. Lingua bedeutet u. a. Zunge, Reden oder Sprache. Das Suffix -ismus steht für die grammatische Markierung des Wortes, in diesem Fall des Substantivs. Bilinguis ist als eigenständiger Begriff für u. a. zweizüngig oder zweisprachig nachzuschlagen.[11]

Auch wenn das Präfix die Beherrschung von zwei Sprachen impliziert, so wird Bilingualismus häufig synonym mit dem Begriff der Mehrsprachigkeit verwendet.[12] Dies würde bedeuten, dass Bilinguale auch mehr als zwei Sprachen beherrschen könnten. Als einheitliche Definition soll für diese Arbeit der Bilingualismus als Befähigung von zwei Sprachen verstanden werden. In Anlehnung an Weinreich gilt die einfache Beschreibung, dass „[d]ie Praxis, abwechselnd zwei Sprachen zu gebrauchen, […] Zweisprachigkeit heißen [soll], die an solcher Praxis beteiligten Personen […] zweisprachig genannt [werden].“[13] Hierbei ist die Erwerbsform der zwei Sprachen nicht von Relevanz.

Eine nähere Betrachtung der Auslegemöglichkeiten des Bilingualismus findet in Kapitel 3 statt.

Ergänzend ist die z. T. vorherrschende Unterscheidung der Begriffe Bilingualismus und Bilingualität zu erklären. Bilingualismus beschreibt nach Hamers und Blanc den Zustand einer Gemeinschaft, in der durch eine Anzahl bilingualer Individuen zwei Sprachen verstanden und gesprochen werden. Bilingualität beschreibe die zweisprachige Fähigkeit auf individueller Ebene.[14] Diese präzise Unterscheidung wird jedoch nicht einheitlich durch fachspezifische Literatur zur Thematik unterstützt.

Aus diesem Grund soll für den weiteren Verlauf der Arbeit der Begriff des Bilingualismus auch den Charakter der beschriebenen Bilingualität umfassen. Dies bewirkt zwar eine Verallgemeinerung der möglichen Spezialisierung, gewährt jedoch ein fließendes Lesen der Arbeit und spiegelt ferner das überwiegende Begriffsverständnis fachbezogener Literatur wider.[15]

2.2 Einblick in die Spracherwerbstheorie

Seit Jahrzehnten befassen sich Wissenschaftler mit dem Phänomen des Spracherwerbs. Dieser fängt einigen Ansichten zufolge schon als Embryo im Bauch der Mutter durch erste Lautwahrnehmung und -differenzierung statt.[16] Eine kontroverse Sichtweise datiert den Beginn des Spracherwerbs ab dem Zeitpunkt der Geburt. Gemein sind jedoch überwiegend allen Standpunkten, dass Spracherwerb von Individuum zu Individuum durch variable Faktoren verschieden ausfallen kann und aus diversen Blickwinkeln betrachtet werden muss.[17] Fragen nach Alter, sozialem Umfeld, wirtschaftlichen Gegebenheiten, politischer Situation, religiösen Hintergründen, familiärer Vorbelastung oder Migrationshintergrund kommen unweigerlich auf und müssen berücksichtigt werden.

Da der reine Spracherwerb am besten an Kleinkindern zu beobachten ist, waren sie seit jeher favorisierte Beobachtungsobjekte. Das wohl bekannteste, am weitesten zurückliegende Experiment ist durch Herodot überliefert.[18] Er berichtet vom ägyptischen Pharao Psamtik (663-610 v. Chr.), der zwei Neugeborene ohne sprachliche Zuwendung großziehen ließ. Ähnliche Forschungen wurden von James IV of Scotland (1473-1513) betrieben. Die beobachteten Kinder wiesen in beiden Fällen eine Sprachentwicklung vor, ohne je ein Wort gehört zu haben. Dahingegen erzielte der Großmogul Indiens namens Akbar (1542-1605) kontroverse Ergebnisse. Die von Sprache isolierten Kinder seines Experiments entwickelten keinerlei Ansätze eines sprachlichen Lautsystems.

Über die Jahrhunderte festigte sich der Glaube an letzteres Ergebnis. Der Mensch scheint zwar eine spezielle Veranlagung für den Erwerb von Sprache zu besitzen, kann diese jedoch nicht ohne Hilfe, ohne soziale Unterstützung zum Tragen bringen. So haben in späteren Jahrhunderten Berichte über so genannte Wolfskinder, welche nach Jahren vollständiger Abgeschiedenheit im Wald aufgefunden wurden, weitere Male bewiesen, dass keine Sprachentwicklung aus eigenem und alleinigem Leistungsvermögen entstehen kann. Weder wiesen sie Sprachverständnis auf, noch war es leicht ihnen die entsprechende Sprache beizubringen.[19] Die zwei wohl genausten wissenschaftlich beobachteten Fallstudien der Kinder Victor durch den Linguisten Itard und Genie durch die Linguistin Curtiss belegen, dass keines der beiden Kinder in der Lage war, trotz intensivster Betreuung, ein ihrem Alter entsprechendes Sprachniveau zu erlangen.[20]

Die weit zurück liegenden Datierungen von Sprachuntersuchungen zeigen das allgemeine Interesse und den Wunsch nach Erkenntnis. Erläuterungen, Thesen und Annahmen wurden seit jeher schriftlich dokumentiert und miteinander verglichen.

Aus einer breiten Masse von Theorien bezüglich des Spracherwerbs sollen die zwei bekanntesten als auch wichtigsten Bereiche aufgezeigt werden. Diese definieren sich durch den Behaviorismus gegenüber dem Nativismus. Ursprünge dieser beiden Auffassungsweisen sind schon in der griechischen Philosophie zu verzeichnen, reichen also bis in die Antike zurück.[21] Schon Platon (427-347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) lieferten sich durch die Phýsei-Thései-Debatte einen Streit über die Entstehung der Sprache.[22] Platon vertrat hierbei die Auffassung einer von der Natur entstandenen Sprache (phýsei), Aristoteles jedoch war der Überzeugung einer vom Menschen geschaffenen Sprache (thései).[23]

2.2.1 Theorie des Behaviorismus

Seit den Anfängen erster Theorieformulierungen zu Zeiten der griechischen Antike, ist als letztendlich anerkannter Begründer der lerntheoretischen klassisch behavioristischen Betrachtungsweise der Psychologe Watson zu nennen. Er beschreibt in den frühen 20er Jahren die voneinander abhängige Verknüpfung von Stimulus und Response, dem Reiz und der daraus folgenden Reaktion.[24] Durch seine Theorie verfestigte sich nach und nach der Standpunkt der Kernaussagen der behavioristischen Sichtweise: Äußere Faktoren wirken auf ein Individuum ein und rufen so eine bestimmte Reaktion hervor. Durch Nachahmung, Anwendung, Verstärkung und Schaffung einer Routine, dem Habit, wird eine Verhaltensweise erlernt.[25] Dieses Muster wurde von den Behavioristen auch auf den Spracherwerb übertragen. Kinder imitieren also laut Behaviorismus das ihnen Vorgesagte und Gehörte, bekommen von Außenstehenden entsprechendes Feedback und werden in ihrem Handeln positiv oder negativ bestärkt.

Der russische Mediziner, Physiologe und Nobelpreisträger Pawlow kann als richtungweisend vor der Entstehung des Behaviorismus gesehen werden. Er entdeckte und erarbeitete das Prinzip der Klassischen oder auch Respondenten Konditionierung * [26] , welches ein Meilenstein für die Verhaltensforschung bedeutete. Aufbauend auf seiner Theorie konnten weitere bedeutende Erkenntnisse im Bereich der Lernpsychologie erzielt werden.

Als weiterer und wohl bekanntester Befürworter und Wissenschaftler des Behaviorismus ist der Psychologe Skinner zu nennen. Er entwickelte in den 50er Jahren die Theorie des Operanten Konditionierens *.[27] Hierbei basiert der Konditionierungserfolg auf dem Prinzip des Versuchs und Irrtums, dem trial and error. Ziel ist es, eine Verhaltensweise, die unmittelbar vor der Verstärkung, dem Reinforcement vollzogen wurde, zu konditionieren. Dieses geschieht durch die situationsspezifische Belohnungen. Skinner ist der Ansicht, dass durch dieses Schema auch umfangreiches Sprachenlernen möglich sei. Er weitet seine These auf das Gebiet der Lerntheorie aus und entwickelte u. a. eine Lernmethode, die in der Didaktik als Programmierter Unterricht bekannt ist. Für ihn gelten Kinder als passive Wesen, die Sprache durch die Außenwelt aufnehmen. Eltern und Lehrer haben seiner Ansicht nach also ein großes Beeinflussungspotenzial bezüglich der Sprachentwicklung.

1957 veröffentlicht Skinner sein Werk Verbal Behavior, in welchem er die Gesetze menschlichen Verhaltens auch für den Spracherwerb geltend macht. Hiermit bot er dem Sprachwissenschaftler Chomsky Anlass zur Kritik.[28]

2.2.2 Theorie des Nativismus

Im Gegensatz zur behavioristischen Sichtweise vertritt Chomsky den nativistischen Ansatz. Er widerspricht der Auffassung Skinners mit einer eigens neu entwickelten Theorie. Diese beschreibt die Existenz einer speziellen angeborenen biologischen Beschaffenheit eines jeden Kindes, des Language Acquisition Device (LAD), welche es zum Spracherwerb befähige.[29] Sprache werde so vom Kind automatisch erlernt und müsse nicht gesondert beigebracht werden. Er kritisiert die Sichtweise der Behavioristen dahingehend, als dass es für ein Kind aus behavioristischer Perspektive nicht möglich sein könne, die ihm gelieferten Sprachinformationen logisch umzusetzen und zu erlernen. Es gäbe zu viele Fehlerquellen, durch beispielsweise fragmentarisches Sprachmaterial, welche das Kind jedoch anscheinend automatisch kompensiere.[30] Dies ist für ihn durch den LAD zu begründen. Weiter sei die Struktur einer zu lernenden Sprache tief im Lernenden verankert und müsse nicht erst erlernt werden. Diese Fähigkeit, die weltweit zu beobachten sei, benennt er mit dem Begriff der Universal Grammar (UG). [31]

Abschließend ist zu erwähnen, dass beide Sichtweisen, die des Behaviorismus und auch des Nativismus, bis heute nicht unkritisiert blieben, jedoch auch nicht verworfen wurden. Es gibt Verfechter beider Theorien, wenn auch in meist abgeänderten, weniger radikalen Formen. Wenn z. B. der Behaviorismus, speziell der klassische Behaviorismus, als eine ungenügende Reduzierung auf äußere Faktoren angesehen wird, muss beachtet werden, dass er sehr wohl Neuerungen aufweist. Schon seit den 50er Jahren wurden auch innere Faktoren in Betracht gezogen. „Durch intervenierende Variablen wie Bewusstsein, Vorstellung, Wille und Erleben [wurde] die mechanische Sehweise des Verhaltens geändert.“[32]

Die Theorie des angeborenen Spracherwerbsmechanismus wird ebenfalls kritisiert, da bislang keine ausreichend unterstützenden Untersuchungen auf dem Gebiet der Neurobiologie manifestiert werden konnten. Chomsky hält jedoch weiterhin an seiner These fest und beschreibt als Gegenargument und Beweis den universellen Spracherwerb, gleichgültig welcher Sprache, der bei jedem Kind ähnlich ablaufe.

Auch der Biologe Lenneberg vertritt diese Ansicht. So wie Kinder unbewusst das Laufen lernen, würden sie ebenfalls der Sprache nach und nach mächtig. Gegenargumente sind z. B. die Berichte der bereits erwähnten Wolfskinder, die auch nach intensivsten Bemühungen spezieller Lehrkörper kaum oder sogar gar keinen Spracherwerb vorweisen konnten. Hier könnte jedoch wiederum die Theorie der Critical Period Hypothesis (CPH) Lennebergs einlenken.[33] Sie beschreibt die Wichtigkeit des Zeitpunkts der Stimulation einer biologischen Funktion, um ihre Wirkung zum Tragen bringen zu können. Wenn dieser versäumt werde, könne keine optimale Effektivität der Funktion erzielt werden.[34]

Als weiterer Kritikpunkt kann der nachgewiesene Gebrauch einer vereinfachten Sprechweise gegenüber Babys, der Motherese oder Babysprache erwähnt werden, welche es ihnen erleichtern könnte, die Sprache zu erlernen und das Wirken des LAD infolgedessen entkräftigt.[35]

Warum beide Theorien bis heute nebeneinander Beständigkeit aufweisen, kann an den voneinander abweichenden Untersuchungsinteressen bezüglich der kindlichen Sprachentwicklung liegen. Behavioristen konzentrieren sich auf die Begründung des Erwerbs von Vokabular und grammatischen Morphemen, Nativisten hingegen legen ihren Forschungsschwerpunkt auf den Erwerb komplexer Grammatik.[36]

Hiermit sind nur zwei hauptsächliche Richtungen des Bereichs der Spracherwerbstheorien angeführt. Es existieren noch weitaus mehr, die in Betracht gezogen werden könnten. Letztlich sind die kontroversen Ansichten bis heute nicht vereinbar und nach dem „heutigen Stand der Forschung gibt es keine allgemein akzeptierte Spracherwerbstheorie.“[37]

[...]


[1] Vgl. Kielhöfer, B./Jonekeit, S.: Zweisprachige Kindererziehung. 9., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stauffenberg-Verlag, Tübingen 1995, S. 12

[2] Vgl. Apeltauer, E.: Grundlagen des Erst- und Fremdsprachenerwerbs. Eine Einführung. Fernstudieneinheit 15. Druckhaus Langenscheidt, Berlin, München, Wien [u. a.] 1997, S. 10

[3] Kielhöfer, B./Jonekeit, S.: 1995, S. 19

[4] Vgl. Kielhöfer, B./Jonekeit, S.: 1995, S. 18

[5] Vgl. Günther, B./Günther, H.: Erstsprache und Zweitsprache. Einführung aus pädagogischer Sicht. Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2004, S. 32 ff.

[6] Lewandoski, T.: Linguistisches Wörterbuch. Bände 1-3. Quelle und Meyer, Heidelberg 1990, S. 1285. In: Günther, B./Günther, H.: 2004, S. 34

[7] Vgl. Kielhöfer, B./Jonekeit, S.: 1995, S. 15

[8] Vgl. Apeltauer, E.: 1997, S. 15 f.

[9] Vgl. Günther, B./Günther, H.: 2004, S. 34

[10] Vgl. Apeltauer, E.: 1997, S. 17

[11] Vgl. Pons Globalwörterbuch. Lateinisch-Deutsch. 2. neubearbeitete Auflage 1986. Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung, Stuttgart, Dresden 1994, S. 111, 112, 578

[12] Vgl. Günther, B./Günther, H.: 2004, S. 36

[13] Weinreich, U.: Sprachen in Kontakt. München 1977, S. 15. Zit. n.: Kielhöfer, B./Jonekeit, S.: 1995, S. 15

[14] Vgl. Hamers, J./Blanc, M. H. A.: Bilinguality and Bilingualism. 2. edition. Cambridge University Press, Cambridge 2000, S. 6

[15] Vgl. Romaine, S.: Language in Society: Bilingualism. Basil Blackwell, Oxford 1989, S. 76 ff. oder Appel, R./Muysken, P.: Language contact and bilingualism. Reprinted 1987. Edward Arnold, London, New York, Melbourne [et al.] 1993, S. 73 ff.

[16] Vgl. Volmert, J.: Primärer Spracherwerb. Wie der Mensch zur Sprache kommt. In:

Volmert, J. (Hrsg.): Grundkurs Sprachwissenschaft: Eine Einführung in die Sprachwissenschaft für Lehramtsstudiengänge. Unveränderter Nachdruck der 4. Auflage. W. Fink, München 2000, S. 37 oder Günther, B./Günther, H.: 2004, S. 57

[17] Vgl. Myers-Scotton, C.: Multiple Voices. An Introduction to Bilingualism. Blackwell Publishing, Malden, Oxford, Carlton 2006, S. 43

[18] Vgl. Bloomfield, L.: Die Sprache. Deutsche Erstausgabe. Herausgegeben von Ernst, P./Luschützky, C. (Hrsg.), Edition Praesens, Wien 2001, S. 28

[19] Vgl. Edwards, J.: Multilingualism. Routledge, London, New York 1994, S. 15 ff.

[20] Vgl. Hartmann, R. A.: Grundlagenprobleme der Sprachwissenschaft. Kritische Analyse und Abwägung der allgemeinen Ansichten über Sprache von Saussure, Chomsky und Piaget. 1. Auflage. Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 1998, S. 207 ff.

[21] Vgl. Borsche, T./Weidemann, H.: Grundzüge der Aristotelischen Sprachtheorie. In: Schmitter, P. (Hrsg.): Geschichte der Sprachtheorie. Sprachtheorien der abendländischen Antike. Gunter Narr Verlag, Tübingen 1991, S.140 ff.

[22] Vgl. Schmitter, P. (Hrsg.): 1991, S. 140 ff.

[23] Vgl. Oksaar, E.: Zweitspracherwerb. Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung. Kohlhammer GmbH, Stuttgart 2003, S. 83

[24] Vgl. Oksaar, E.: 2003, S. 84

[25] Vgl. Lightbown, P. M./Spada, N.: How Languages are Learned. 2. edition. 4. impression. Oxford University Press, Oxford, New York, Athens [u. a.] 2000, S. 9

* ein Asterisk kennzeichnet im weiteren Verlauf dieser Arbeit Termini, die im Glossar erklärt werden.

[26] Vgl. Gage, N. L./Berliner, D. C.: Pädagogische Psychologie. 5. vollständig überarbeitete Auflage. Herausgegeben von Bach, G. (Hrsg.). Beltz Psychologie Verlags Union, Weinheim 1996, S. 231 ff.

[27] Vgl. Gage, N. L./Berliner, D. C.: Bach, G. (Hrsg.) 1996, S. 236 ff.

[28] Vgl. Lyon, J.: Becoming Bilingual. Language Acquisition in a Bilingual Community.

Multilingual Matters LTD, Clevedon, Philadelphia, Toronto [et al.] 1996, S. 14

[29] Vgl. Oksaar, E.: 2003, S. 84 f.

[30] Vgl. Oksaar, E.: 2003, S. 86

[31] Vgl. Lightbown, P. M./Spada, N.: 2000, S. 36

[32] Osgood, C. E.: A behavioristic analysis of perception and language as cognitive phenomena. In: Bruner, J. C. (ed.): Contemporary approaches to cognition. Cambridge, Mass. 1957, S. 75­-125. Zit. n.: Oksaar, E.: 2003, S. 84

[33] Roche, J.: Fremdspracherwerb. Fremdsprachendidaktik. Narr Francke Attempto Verlag GmbH& Co. KG, Tübingen, Basel 2005, S. 38

[34] Vgl. Kapitel 4.1

[35] Vgl. Lightbown, P. M./Spada, N.: 2000, S. 24

[36] Vgl. Lightbown, P. M./Spada, N.: 2000, S. 26

[37] Oksaar, E.: 2003, S. 83

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Bilingualismus und bilinguale Spracherziehung aus linguistischer Perspektive
Hochschule
Universität Duisburg-Essen
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
107
Katalognummer
V71338
ISBN (eBook)
9783638617925
Dateigröße
1025 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bilingualismus, Spracherziehung, Perspektive
Arbeit zitieren
Farina Wittenberg (Autor:in), 2006, Bilingualismus und bilinguale Spracherziehung aus linguistischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/71338

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