Die Rezeption mittelalterlicher Texte bei Johann Jacob Bodmer am Beispiel des Nibelungenliedes


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

55 Seiten, Note: 1,75


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Johann Jakob Bodmer

Die Freymüthigen Nachrichten (FN)

Vom Schwäbischen Zeitpuncte

Bodmers Beschäftigung mit dem Nibelungenlied
Chriemhilden Rache und die Klage (1757)
Chriemhilden Rache und die Klage
Die Fragmente
Die Rache der Schwester (1767)
Die Balladen (1781)
Sivrids mordlicher Tod (16. Aventiure)
Die wahrsagenden Meerweiber (25./26. Aventiure)
Der Königinnen Zank (14. Aventiure)

Bodmers Dichtungstheorie

Bodmer und der Poetikstreit

Die erste vollständige Ausgabe des Nibelungenlieds (1782)

Schlussbetrachtung

Anhang
Anhang 1: Sivrids mordlicher Tod
Anhang 2: Die wahrsagenden Meerweiber
Anhang 3: Der Königinnen Zank

Johann Jakob Bodmer: Übersicht über Leben und Werk (incl. Textzitate)

Verwendete Literatur

Einleitung

Vor dem Hintergrund der Frage, in welcher Form sich die Aufklärung mit Wissensbeständen der vorangegangenen Jahrhunderte auseinandergesetzt hat, soll am Beispiel des von Johann Jacob Bodmer wiederentdeckten und in mehreren Auszügen edierten Nibelungenliedes[1] gezeigt werden, welchen Weg das von den Schweizern ausgehende Interesse für die mittelalterliche Literatur genommen hat und wie diese Entwicklung nicht dem ursprünglichen Verständnis der Aufklärung folgt, die sich in der Kontinuität des Humanismus und damit auch der französischen Klassik sieht, sondern durch die Hinwendung zur zeitgenössischen englischen Literatur eine Neubewertung des Mittelalters begründet, die die im Humanismus verankerte Ablehnung gerade dieses Zeitalters aufhebt.

Johann Jakob Bodmer

Johann Jakob Bodmer (1698-1783), Spross einer Pfarrersfamilie aus Greifensee bei Zürich mit Ambitionen zum Kaufmannsberuf, verlässt als 20jähriger die Züricher Gelehrtenschule, das Carolinum, und begibt sich auf Reisen nach Lyon und Lugano, wo er französische und englische Literatur kennenlernt, darunter auch eine französische Ausgabe des englischen Spectator. Nach seiner Rückkehr tritt er 1719 in die Zürcher Staatskanzlei ein und beginnt, sich mit der Zürcher Geschichte zu beschäftigen und entsprechende Urkunden und Quellen ausfindig zu machen. Gleichzeitig ruft Bodmer mit seiner Gesellschaft der Mahler (1720-1722/23) einen geselligen Kreis ins Leben, in dem sich Professoren, Ärzte und Juristen zusammenfinden und begründet damit die über das gesamte Jahrhundert reichende Tradition intelektuell-akademischer Vereinigungen in der Limmatstadt, an der er selbst mit der Gründung von immer neuen Vereinigungen und Gesellschaften einen erheblichen Anteil hat.[2] Aus dieser Gesellschaft der Mahler geht 1721 die moralische Wochenzeitschrift Discourse der Mahlern hervor, die Bodmer im Alter von 23 Jahren zusammen mit seinem Freund und Studienkollegen Johann Jakob Breitinger[3] (1701-1776) in einer Auflage von 200 Exemplaren herausgibt. Diese Zeitschrift, die sich am Modell des englischen Spectator orientiert, hat zum Ziel, gegen den Ruf der Kulturlosigkeit anzukämpfen, der der Schweiz zu Beginn des Jahrhunderts anhaftet. In diesen Discoursen, zumeist von Bodmer oder Breitinger selbst verfasst, werden Fragestellungen der praktischen Lebensführung, der Moral und auch der Ästhetik behandelt, die sich, nach englischem Vorbild, auch nicht zuletzt gegen den überladenen spätbarocken Stil (gothic manner of writing) richten und Opitz[4] und de la Motte favorisieren. Daneben erfolgt die Beschäftigung mit den Schriften Joseph Addisons,[5] neben Richard Steele der Herausgeber des Spectator, durch die auch kunsttheoretische Überlegungen zum Erhabenen diskutiert werden.[6] Ebenfalls über den Spectator wird John Miltons Epos Paradise lost bekannt, das Bodmer 1732 unter dem Titel Das verlorene Paradies ins Deutsche übersetzt. Das zwischen 1660 und 1667 entstandene, 10bändige religiöse Werk interpretiert den Sündenfall als Auflehnung des Menschen gegen den göttlichen Schöpfungsplan und sieht auch den Menschen selbst involviert in den Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Satan. Kaum hat jedoch Bodmer seine Übersetzung herausgegeben, schaltet sich Gottsched ein, der erst zwei Jahre zuvor in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst ein Regelwerk geschaffen hatte, das auf der Grundlage eines klassizistisch-aristotelischen Verständnisses eine Kunstform postuliert, die sich bei der Nachahmung der Natur an den Beschränkungen einer hypothetischen Wahrscheinlichkeit orientiert. Genau dieser hypothetischen Wahrscheinlichkeit gehorchen Miltons Engel und Teufel aber nicht, und so bezeichnet Gottsched Miltons Paradise lost als Machwerk ungeheurer Einbildung. Damit löst er eine Orientierungsdebatte aus zwischen denjenigen, die dem französischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts anhängen und jenen Züricher Aufklärern, allen voran Bodmer und Breitinger, die von der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur beeinflusst sind. Diese Grundsatzdebatte konfrontiert anhand der beiden literaturästhetischen Modelle - das in der Tradition des Humanismus stehende, klassizistisch-französische und das dem Mittelalter zugewandte englische - auch die Anhänger des ersteren mit dem neuen Selbstverständnis der gebildeten Schicht, die in England aus Handelsbürgertum und Landadel besteht; eine soziale Struktur, die sich wesentlich besser auf Zürich übertragen lässt als die bis dahin vorherrschende antikisierende Hofkultur.

Als eine deutsche Variante dieser "Querelle" kann in diesem Zusammenhang der Streit zwischen Gottsched, Bodmer und Breitinger über das "Wunderbare" gelten. Die Poetik der Schweizer stößt auf so viel Zustimmung, dass Zürich um 1740 bereits zum Zentrum einer neuen, modernen Literaturauffassung geworden und das bis dahin vorherrschende Bild einer umfassenden Kulturlosigkeit der Schweizer zunehmend in Vergessenheit geraten ist.

Bodmer und Breitinger sind in der Zwischenzeit Professoren an ihrer ehemaligen Bildungsstätte, dem Collegium Carolinum, geworden, wo Bodmer zwischen 1731 und 1775 das Weltbild einer ganzen Reformergeneration geprägt hat.[7]

Die beiden Freunde haben sich eine eigene Anhängerschaft geschaffen, mit der sie über die Ausbildungseinrichtung hinaus einen regen Austausch pflegen. Es beginnt die Zeit der Zirkel und Vereine, in denen sich die intelektuelle Elite zusammenschließt und die Themen der Zeit diskutiert. Die ersten Zusammenschlüsse dieser Art, von Bodmer und Breitinger ins Leben gerufen, sind die bereits erwähnte Gesellschaft der Mahler und die darauf folgende Literarische Gesellschaft (1725-1726. Die beiden wichtigsten Vereinigungen der folgenden Jahrzehnte sind die seit 1740 bestehende Wachsende Gesellschaft (bis 1748) und die Dienstags-Compagnie (1750-1772), in der sich seit dem Besuch Klopstocks in Zürich[8] dessen Anhänger und Freunde versammeln.

In diesen Jahren entsteht auch der Eindruck von Freiheit und Unabhängigkeit, der vor allem den Zürichern aus deutscher Sicht anhaftet und der bewirkt, dass Zürich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Zufluchtsort deutscher Aufklärer wird, die dann wiederum das Züricher Geistesleben maßgeblich mitgestalten.

Die Freymüthigen Nachrichten (FN)

Die zahlreichen Vereinigungen und Gesellschaften produzieren nicht zuletzt auch zahlreiche Schriften, die als gemeinnützige oder wissenschaftliche Publikationen einem interessierten Publikum zugänglich gemacht werden sollen. Zu diesem Zweck entstehen periodisch erscheinende Zeitschriften, die bald - und dies nicht nur in Zürich - zu dem bevorzugten Medium der Aufklärung werden. Im Laufe nur weniger Jahre bilden sich verschiedene Formen und Arten von Zeitschriften und Zeitungen heraus, die ein immer differenzierteres Publikum mit klar umrissenen Interessensgebieten und Ansprüchen bedienen. So sind bald die reinen Unterhaltungszeitschriften deutlich zu unterscheiden von den moralischen Wochenschriften (wozu die Discourse der Mahlern zählen); diese wiederum von den literarischen Zeitschriften oder den Rezensionsorganen. Zu dieser letzten Gruppe gehören die von Johannes Heidegger und Salomon Wolf herausgegebenen Freymüthigen Nachrichten von neuen Büchern und anderen zur Gelehrtheit gehörigen Sachen, die ab 1744 wöchentlich mit einer Auflage von 200 bis 300 Exemplaren erscheinen. Die Freymüthigen Nachrichten sind Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses der gelehrten Welt in der Limmatstadt, die sich nun endlich, dank Bodmers und Breitingers poetologischer Publikationen, als richtungsweisendes literarisches Zentrum etabliert hat. Gelesen werden die Freymüthigen Nachrichten dementsprechend vor allem in Deutschland, und das gerade wegen des deutlich spürbaren Einflusses von Bodmer und Breitinger. Die zunehmende Anerkennung, die den Freunden in weiten Kreisen der literarischen Welt zuteil wird, geht nicht zuletzt auf ihre umfassende Präsenz in dieser Zeitschrift zurück. In insgesamt 20 Jahrgängen, von 1744 bis 1763, begleiten und reflektieren die Freymüthigen Nachrichten besonders Bodmers Schaffen und stellen damit heute eine nicht zu unterschätzende Quelle für die Aufklärungsforschung dar.

Vom Schwäbischen Zeitpuncte

Bodmers bereits erwähntes Interesse für alte Quellen der Zürcher Geschichte weitet sich in den 1720er Jahren aus auf die Suche nach Schweizer Volksliedern, in deren Texten Bodmer eine dem (Schweizer Berg)Volk eigene Natürlichkeit und Ursprünglichkeit zu finden hofft. Für Bodmer ergibt sich das Eigentümliche eines Volkes nämlich aus seiner geographischen Lage und den Einflüssen des dazu gehörigen Klimas; treffen diese beiden Faktoren vorteilhaft zusammen, entstehen die guten Sitten der Menschen, die wiederum die Grundlage für die Poesie bilden.[9] Das seit der Antike bekannte Konzept der Erklärung von politischen und kulturellen Phänomenen aus den klimatischen und topographischen Verhältnissen heraus wird von Montesquieu (1689-1755) für das europäische 18. Jahrhundert neu begründet, als er sich in seinem 1748 anonym in Genf publizierten Hauptwerk, der geschichtsphilosophischen, staatstheoretischen Schrift De l’esprit des loix, sich nicht nur zur heute noch praktizierten Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative (Gewaltenteilung) äußert, sondern auch einen Zusammenhang herstellt zwischen Staatsform und Umgebungsbedingungen. Diese Theorie hält schnell Einzug in staatstheoretische[10], kunsttheoretische[11] oder geschichtsphilosophische[12] Schriften; allgemein geht die Klimatheorie des 18. Jahrhunderts von der Annahme aus, dass sich nur in Gebieten mit gemäßigtem Klima die hohen Künste entfalten können, so wie Natur und Menschen in denselben Regionen die besten Entwicklungschancen haben. Ein zuträgliches Klima wirkt sich demnach auf Natur und Kunst aus, eine „poetische Luft“ lasse auch Poesie und Dichtkunst gedeihen.

Diese poetische Luft glaubt Bodmer in dem Gebiet zwischen Aare und Rhein wiedergefunden zu haben, und zwar zu Zeiten der Hohenstaufer, jenes schwäbischen Fürstengeschlechts, das zwischen 1138 und 1254 mit Friedrich von Büren, Friedrich von Hohenstaufen und Konrad III. die deutschen Kaiser und Könige stellt und zu dessen Herzogtum auch Zürich gehört. Diese als wesentlich empfundene Zugehörigkeit zum deutschsprachigen Kulturraum führt denn auch im Laufe von Bodmers Arbeiten unweigerlich und folgerichtig zu einer Abgrenzung desselben gegenüber den englisch- und französischsprachigen Kulturräumen.

1734 „belegt“ Bodmer an einem Lehrgedicht (Die Winsbekin) die hohe Qualität der deutschsprachigen Literatur und erklärt die Stauferzeit zu einem goldenen Zeitalter der Dichtung, das erst 1268, mit Konradins Enthauptung auf dem Marktplatz zu Neapel, sein Ende findet.

Eine umfassende Bestätigung seiner Thesen findet Bodmer in der 1735 erschienen Abhandlung Enquiry into the Life and Writings of Homer des englischen Professors Thomas Blackwell, denn dort findet er nicht nur die These von der gesellschaftlichen und klimatischen Gebundenheit aller Dichtung, sondern auch Einiges zur mündlichen Vortragsweise der Epen Homers.

In seinem Aufsatz Von dem wichtigen Antheil, den das Glück beytragen muß, einen Epischen Poeten zu formieren. Nach den Grundsätzen der ‚Inquiry into the live [!] and the Writings of Homer’ fasst er zuerst die zentralen Aussagen Blackwells zusammen,[13] um in einem zweiten Aufsatz, Von den vortrefflichen Umständen für die Poesie unter den Kaisern aus dem schwäbischen Hause, zu zeigen, dass die bei Blackwell beschriebenen Umstände, die das Entstehen der hohen Dichtung zu Homers Zeiten ermöglicht haben, auch für den deutschsprachigen Raum zur Zeit der Hohenstaufen gegeben waren.[14] Diese besonderen Umstände setzen sich, nach Blackwell und Bodmer, zusammen aus einem gemäßigten, milden Klima und günstigen gesellschaftlichen Bedingungen, die wiederum von drei Faktoren abhängig sind, nämlich dem allgemeinen Zustand des Landes in Bezug auf Sitten, Rechtsordnung und Religion, die über das einzelne Land hinausgehenden allgemeinen Sitten der Zeit und die individuellen Gegebenheiten, also Herkunft, Erziehung und persönlicher Werdegang.[15]

Zehn Jahre später gibt er auch Belege für das Vorhandensein der für die Poesie förderlichen sittlichen Voraussetzungen, und zwar anhand einer Abschrift einzelner Minnelieder der damals als Pariser Codex bekannten Manessischen Liederhandschrift, in denen er die seit langem gesuchte Natürlichkeit, nicht zuletzt wegen ihrer vermeintlichen Nähe zur Anakreontik, zu erkennen glaubt. Als Bodmer die Handschrift 1746 selbst in Augenschein nehmen kann, wird seine Suche nach Schweizer Wurzeln mit einem Hadlaub-Gedicht belohnt, das er in dem Manuskript entdeckt und das die vermeintlich Pariser Handschrift nicht nur augenblicklich zu einer Zürcher macht, sondern auch gleichzeitig den Beweis für die Qualität der Züricher Poeten liefert und die Vorstellung einer blühenden Kultur im mittelalterlichen Zürich nährt.

Bodmers Beschäftigung mit dem Nibelungenlied

Chriemhilden Rache und die Klage (1757)

Am 29. Juni 1755 erfährt Bodmer von dem Lindauer Arzt Jakob Hermann Obereit (1725-1798) von der Existenz zweier Codices altschwäbischer Gedichte in der Bibliothek der Reichsgrafen von Hohenems, und nur zwei Wochen später, am 14. Juli, bekommt Bodmer die Handschrift zur Abschrift zugeschickt[16]. Bereits 1756 erscheinen in den Freymüthigen Nachrichten mehrere Verweise und Ankündigungen zum Nibelungen liet,[17] das er schon jetzt öffentlich mit Homers Illias vergleicht. Die bevorstehende Edition des Fundes begleitet er wiederum mit Beiträgen in den Freimüthigen Nachrichten.[18] 1757 veröffentlichen Bodmer und Breitinger Chriemhilden Rache und die Klage, das letzte Drittel derjenigen Handschrift des Nibelungenliedes, die heute als Handschrift C bekannt ist.[19] Diese beiden Gedichte, so heißt es in der Einleitung, seien von hohem Wert und verdienten, bekannt gemacht zu werden; eine Ehre übrigens, die bei weitem nicht allen alten Schriften zusteht, denn Es ist in der Tat für den Ruhm des schwäbischen Zeitpunktes am besten gesorget, wenn man nicht alles, was noch in dem Staube verborgen liget, an den Tag hervorziehet, sondern in dem was man uns giebt, eine reife und einsichtsvolle Wahl beobachtet. Das Ausnehmende in dieser alten Literatur ist eben nicht im Ueberflusse übrig.[20]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Weglassen der ersten beiden Drittel der Handschrift wird sowohl begründet als auch gerechtfertigt. Zur Begründung werden die nicht vorhandenen poetologischen Kenntnisse, und hier besonders der Mangel an poetologischer Strukturalisierung des Verfassers angeführt, der, statt den Regeln der Einheit der Handlung zu folgen, sich in Weitläufigkeiten ergangen hätte, die sich nur für Lebensbeschreiber (Biographos), nicht aber für Poeten und Dichter gezieme. Diese wiederum, in Kenntnis der Eigenheiten der menschlichen Existenz und der immer wieder in das menschliche Leben eindringenden Ereignisse, seien der Einheit der Handlung verpflichtet, die sich zu entfalten habe von dem Moment an, in dem ein Individuum erstmalig mit dem zu beschreibenden Ereignis konfrontiert würde und die genau bis zu dem Moment zu reichen habe, in dem das beschriebene Ereignis aus dem Blickfeld des Individuums hinausträte. Dagegen verstößt das Nibelungenlied insofern, als die erzählte Handlung, die diese Kriterien erfüllt, die Rache der Kriemhild darstellt,[21] was bedeutet, dass alles andere, was in den 24 vorangegangenen Kapiteln berichtet wird, wenn überhaupt, viel kürzer und in ganz anderer Form hätte berichtet werden müssen.

Zur Rechtfertigung des selektiven Aktes des Weglassens bezieht sich Bodmer auf niemand Geringeren als auf Homer, der in seiner Illias ebenfalls die 10 Jahre vor dem Streit zwischen Achilles und Agamemnon weggelassen habe. Doch auch Homers Übersetzer haben zuweilen den Text gekürzt und den Dichter „korrigiert“: 1713 publizierte Antoine Houdar de La Motte (1672–1731) eine Übertragung der Ilias, die gegenüber dem Original deutliche Kürzungen und einige „Korrekturen“ aufweist. Dem eigentlichen Text war ein Discours sur Homère vorangestellt, in dem der Bearbeiter sein Vorgehen rechtfertigt, was im Anschluss an die Veröffentlichung eine Debatte über den Vorzug von Original oder Übersetzung - die Querelle d'Homère - auslöst.

Nach Bodmers Bearbeitung bleiben von der Handschrift die letzten 14 Kapitel des Nibelungenliedes: Kriemhilds Rache und die Klage. Während Kriemhilds Rache durch die Darstellungen von Tapferkeit und die stetig variierenden Beschreibungen der Kämpfe und Gefechte an Homer erinnert, erinnert die Klage besonders an den letzten Gesang der Illias; das beschriebene Leid, so Bodmer, sei der von Andromache, Hecuba und Helena ausgesprochenen Totenklage um Hector sehr ähnlich.

Chriemhilden Rache und die Klage

Die Rache der Kriemhild beginnt bei Bodmer mit dem letzten Vers der Strophe 1682 (26. Aventiure). Er selbst weist in seiner Vorrede[22] darauf hin, dass die Handschrift einen starken Defekt erlitten habe; sie ist zwischen der 24. und 26. Aventiure lückenhaft, die 25. Aventiure fehlt vollständig.[23] Um diesen Bruch auszugleichen, hat der Herausgeber ergänzet, damit das Gedicht von Chriemhilden Rache nicht ohne einen Kopf wäre. Bodmer greift also selbst zur Feder und verfasst eine Einleitung in mittelhochdeutscher Sprache.

Als Gesang werden übrigens in der Übertragung auch die einzelnen Kapitel bezeichnet; die kurze Einleitung zum ersten Gesang der Rache der Schwester setzt dabei die zeitliche Entstehung des folgenden Gedichtes durch die Nennung der beiden antiken Protagonisten Achilles (Illias) und Ulysses (Odyssee) in Bezug zum Beginn der Homer-Rezeption in Deutschland, denn es heißt: Eh die aonischen Musen[24] in Deutschlands hainen gewandelt,/ Als Achilles noch nicht in deutschen gesängen gefochten,/ Und Ulysses die freyer noch nicht im bettler betrogen/Sangen die Eschilbache, von deutschen Musen begeistert, (...)

Auf die Gegenüberstellung des Textes der Handschrift mit den Texten von Bodmers Edition wird im Anhang verzichtet, denn zum einen ist diese Edition bereits ausführlich in der Sekundärliteratur behandelt worden,[25] und zum anderen sind in dieser ersten Ausgabe die Abweichungen vor allem Transkriptionsdiskrepanzen und daher marginal.

Erfolg war dieser Publikation keiner beschieden, denn trotz der umfangreichen Auslassungen war selbst ein Drittel des als Homer-Pendant angekündigten Nibelungenliedes nicht leserfreundlich genug, die Sprache zu schwierig und unbekannt, waren die edierten Verse zu lang, um dem Leser damit einen Zugang zu dieser Literatur zu ermöglichen.

Die Fragmente

Nach der Klage sind noch insgesamt sechs Fragmente aus dem nicht edierten Teil der Handschrift C angefügt, bei denen es sich im Großen und Ganzen um Textabschriften handelt. Diese Fragmente sind fortlaufend, als unstrukturierte Verse aneinandergefügt und nur durch ihre Überschriften gekennzeichnet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um:

Von den Nibelungen (Sp. 241-243)

Diese Passage stellt vor allem Siegfried vor und entspricht den Strophen 86 bis 100 der Handschrift. Vollständig ausgelassen wurde die Strophe 95 (Si heten da ir friunde zwelf chune man/die starch als risen warn waz chundez si v/er\van?/die slvoch sit mit zorne div Sifrides hant/vñ rechen sibenhund/er\t dwanger von Nibelunge lant); hier drängt sich der Verdacht auf, dass vielleicht die zwölf Riesen und die darauf folgenden 700 Recken Bodmer zu abenteuerlich erschienen (vgl. dazu die Zusammenfassung auf S. 13).

Desweiteren fehlen die Verse 3 und 4 der Strophe 99 (so sp/ra\ch von Tronege Hagene daz hat er getan/also grozer chrefte nimere reche gewan). Das Auslassen dieser beiden Verse scheint wenig logisch, ist doch Hagen seit Beginn dieser Passage (Strophe 86) als Erzähler eingeführt. Oder sollte ihn wiederum das Absolutistische des Erzählerkommentars gestört haben?

Wie Sifrit zuerst Chriemhilden sah (Sp. 243-246)

Dieser Teil entspricht den Strophen 283 bis 298 und weist lediglich eine Auslassung in der Strophe 293 auf, in der der letzte Vers (mit <minnekliche/n\> tvgenden si grvzte Sifriden sint) fehlt, ohne dass sich dafür auf den ersten Blick eine Erklärung finden lässt.

[...]


[1] Bodmer hatte die Handschriften (die heutige Handschrift C) des bereits seit dem 17. Jahrhundert verschollenen Nibelungenlieds mit Unterstützung von Jacob Hermann Obereit wiedergefunden und daraus seit 1757 mehrere Bearbeitungen veröffentlicht. Nach weiteren Handschriftenfunden 1769 (Handschrift B) und 1779 (Handschrift A) erfolgte 1782 die erste Ausgabe des vollständigen Textes durch den Züricher Christoph Heinrich Myller [Müller], mit einer Widmung an Friedrich den Großen, der allerdings diesem elenden Zeugs nichts Rechtes abgewinnen konnte.

[2] Vgl. dazu Bürger, S. 19-22.

[3] Die Zentralbibliothek Zürich widmet dem lange Jahre erfolgreichen Gespann in diesem Jahr eine eigene Ausstellung unter dem Titel: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der Zürcher Aufklärung (Katalogsaal der Zentralbibliothek Zürich, 12. September bis 11. November 2006); Bodmers Verdienst um das Nibelungenlied wird in diesem Zusammenhang allerdings nur am Rande gewürdigt.

[4] Davon zeugt beispielsweise Bodmers Edition Martin Opitzens Von Boberfeld Gedichte (1745 bzw. 21755).

[5] Ein schönes Beispiel für die Vorbildfunktion seiner Schriften und Mitteilungen findet sich in der Vorrede zu Bodmers 1758 erschienenen Sammlung von Minneliedern, die, so der Verfasser, Addison entzükt haben würde.

[6] Essay on the Pleasures of the Imagination. Deutsch (Joseph Addison): Von den Belustigungen der Einbildungskraft. In: Der Zuschauer, Zweyte verbesserte Auflage, Theil 6, Leipzig 1751, S. 75-126.

[7] Bürger, S. 22.

[8] Vgl. dazu Hentschel, S. 11f.

[9] Vgl. dazu Debrunner, S. 46-47.

[10] Albrecht von Haller (1708-1777) vertritt ebenfalls den Standpunkt, dass Sitten und Tugenden der Menschen vom Klima abhängen. Aus diesem Grund siedelt er seine drei Staatsromane Usong (1771), Alfred (1773) und Fabius und Cato (1774) in einem jeweils passenden Klima an.

[11] Auch Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) greift die Klimatheorie auf und führt sie zurück zur Antike, wenn er Griechenland als die von den Göttern bevorzugte Geburtsstätte der hohen Künste bezeichnet, die sich aufgrund der exzellenten Lebensbedingungen entwickeln konntent.

[12] Hier greift Herder (1744-1803) die geographischen und klimatischen Theorien in seinen geschichtsphilosophischen Schriften auf, in denen die Historie als » Gang Gottes über die Nationen« verstanden wird.

[13] Bodmer musste sich besonders nach diesem Aufsatz den Vorwurf gefallen lassen, fremdes Gedankengut nicht entsprechend zu kennzeichnen.

[14] Mehr als 30 Jahre später wird das Gedicht von den Nibelungen eines der Beispiele sein, mit denen Bodmer diese These bekräftigt (Schwierigkeiten den Homer zu verdeutschen. In: Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern. Zürich 1779, S. 62)

[15] Zu Bodmers Theoriebildung anhand der Blackwellschen Thesen vgl. Pfalzgraf, S. 68-84.

[16] In Bodmers Tagebuch heißt es dazu: In Sanktgallen waren für mich aus der Hohenemsischen Bibliothek angekommen zween Codices auf Pergament, die Nibelungen und Josaphat (Bächthold, S. 194).

[17] FN 13 (1756), S. 90-94. Bodmer verschweigt allerdings Obereits Namen und suggeriert damit, die Handschrift selbst entdeckt zu haben.

[18] Zwischen März und Juni 1757 erscheint ein dreiteiliger Artikel, in dem sich Bodmer kritisch mit Batteux auseinandersetzt und ansonsten die geplante Edition eines Teils der Handschrift erklärt und beschreibt (FN 14 (1757), S. 74-76, S. 83-85, S. 94-96, S. 106-107 und S. 190-192.) Vgl. dazu auch Wehrli, S. 101f.

[19] Hohenems-Laßbergische/Donaueschinger Handschrift (aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Diese Handschrift wird seit 2001 in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufbewahrt und ist inzwischen vollständig digitalisitert (www.blb-karlsruhe.de/blb/blbhtml/nib/uebersicht.html). Bodmers eigene Abschrift des zweiten Teils und der Klage befindet sich in seinem Nachlass in der ZB Zürich (MSB 29, 1a und 1b).

[20] Bodmer/Breitinger: Chriemhilden Rache und die Klage; zwey Helden Gedichte Aus dem schwaebischen Zeitpuncte. 1757, S. X.

[21] Diese Ansicht vertritt er übrigens auch noch zwanzig Jahre später in seinem Aufsatz Von der Epopöe des altschwäbischen Zeitpunktes (In: Literarische Denkmale von verschiedenen Verfassern. Zürich 1779)

[22] Chriemhilden Rache und die Klage; zwey Helden Gedichte Aus dem schwaebischen Zeitpuncte. Samt Fragmenten aus dem Gedichte von den Nibelungen und aus dem Josaphat. Darzu kommt ein Glossarium. Zürich 1757, S. X (Vorrede).

[23] Zur Interpretation von Bodmers kodikologischer Beschreibung vgl. Pfalzgraf, S. 105-107.

[24] Nymphen des Berges Helikon und der dortigen Quelle Aganippe.

[25] Vgl. dazu vor allem Pfalzgraf, S. 100-108.

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
Die Rezeption mittelalterlicher Texte bei Johann Jacob Bodmer am Beispiel des Nibelungenliedes
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,75
Autor
Jahr
2006
Seiten
55
Katalognummer
V70491
ISBN (eBook)
9783638619196
ISBN (Buch)
9783638689021
Dateigröße
1690 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ausführliche Arbeit zu Bodmers Beschäftigung mit dem Nibelungenlied. Die Arbeit gibt zunächst einen Überblick über den historischen Kontext des Bodmerschen Schaffens und schließt dann an das Buch von Annegret Pfalzgraf an, indem sie die die Gegenüberstellung von Urtext und den Bodmerschen Editionen (Balladen und Fragmente) vervollständigt. Abgerundet wird die Arbeit durch eine umfangreiche Zeittafel zu Leben und Werk Bodmers, die mit einigen der wesentlichen Zitate illustriert wird.
Schlagworte
Rezeption, Texte, Johann, Jacob, Bodmer, Beispiel, Nibelungenliedes, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Magister Artium Clarissa Höschel (Autor:in), 2006, Die Rezeption mittelalterlicher Texte bei Johann Jacob Bodmer am Beispiel des Nibelungenliedes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70491

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