Die Kategorie Gender in ausgewählten kinderliterarischen Texten. Förderung von Genderkompetenz in der Grundschule


Masterarbeit, 2020

80 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Gender als Thema der Soziologie
1.2 Aktueller Forschungsstand
1.3 Mehrwert und Forschungsthematik
1.4 Aufbau der Arbeit

2. Grundlegende Definitionen
2.1 Gender
2.2 Geschlechterrollen und Stereotype
2.3 Konzept des ,Doing Gender‘
2.4 Konzept des ,Undoing Gender‘

3. Textanalyse aktueller Kinderliteratur
3.1 Die semiotische Textanalyse nach Hans Krah
3.2 „Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat“ - eine genderkritische Analyse
3.2.1 Gender-Trager und Aktionen
3.2.1.1 Die Oma - Der Auslöser
3.2.1.2 Der Opa - Der Pragmatiker
3.2.1.3 Die Mutter - Das Familienoberhaupt
3.2.1.4 Der Vater - Der Passive
3.2.1.5 Luisa - Die Rebellin
3.2.1.6 Max - Der Allwissende
3.2.1.7 Tiffany - Die Unerfahrene
3.2.2 Gender-Zeichen
3.3 „Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika“ - eine genderkritische Analyse
3.3.1 Gender-Trager und Aktionen
3.3.1.1 Marie - die Unwissende
3.3.1.2 Joscha - der vermeintliche Beschützer
3.3.2 Gender-Zeichen
3.4 Zwischenfazit der analysierten Werke

4. Didaktische Handlungsempfehlungen
4.1 Genderbewusster Literaturunterricht nach Schilcher und Müller
4.2 Die elf Aspekte literarischen Lernens nach Kaspar Spinner

5. Ausblick

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Bildliche Darstellung der Figuren I

Tabelle 2: Bildliche Darstellung der Figuren II

Tabelle 3: Auffalligkeiten der analysierten Werke

Tabelle 4: Gegenüberstellung der generationsinternen Geschlechter

Tabelle 5: Marie und Joscha

Tabelle 6: 11 Aspekte literarischen Lernens

1. Einleitung

Es gibt „wissenschaftlich fundierte Unterschiede zwischen Frau und Mann“1 - zumindest laut der Behauptung der Kommunikationstrainer Pease und Pease, die das Werk Warum Manner nicht zuhören und Frauen schlecht einparken, veröffentlichten. Das Ehepaar besta- tigt in der dritten Auflage aus dem Jahr 2019 Vorurteile binarer Geschlechter wie „[...] wa- rum Frauen so viel reden, Manner aber lieber schweigen [...]“ und gibt alltagstaugliche Tipps, wie ein harmonisches Zusammenleben trotz unterschiedlicher Geschlechter ermög- licht werden könne.2 Dieses Beispiel zeigt, dass Geschlechterklischees selbst im 21. Jahr- hundert im alltaglichen Umgang vorzuherrschen scheinen.

Diese werden laut Schaaf bereits im Kindesalter gepragt: Heranwachsende haben bei ihrem Schulranzen beispielsweise die Wahl sich zwischen blau-grün-schwarzen Motorradern, Su­perhelden oder Raumfahrt-Motiven oder rot-pink-orangenen Pferden, Glitzerapplikationen und Feen zu entscheiden.3 An der Supermarktkasse können sie zwischen dem rosafarbenen Ferrero ,Madchen-Ei‘ oder dem klassischen ,Überraschungs-Ei‘ selektieren. Die reine Ka- tegorie ,Kind‘ scheint wenig Prasenz zu finden, stattdessen wird laut Schaaf in der Vermark- tung von Produkten eindeutig zwischen Jungen und Madchen unterschieden.4

Daraus resultiert die Frage, inwieweit determinierte Verhaltensweisen Frauen und Mannern zuzuschreiben sind und ob sich diese Geschlechterklischees auch in der Literatur wiederfin- den. Um diese Thematik naher zu beleuchten, wird in der folgenden Arbeit die Einlösung dieser Geschlechterdifferenzierung in aktueller Kinder- und Jugendliteratur anhand der ju- gendliterarischen Texte von Mark-Uwe Kling: Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat aus dem Jahr 2018 und Oliver Scherz: Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika aus dem Jahr 2019 untersucht. Die Werke werden im Hinblick auf die Darstellung von Geschlecht und Gender analysiert. Unter Anwendung der semiotischen Textanalyse wird erarbeitet, welche Werte und Normen die Texte widerspiegeln und inwie- weit Differenzen zwischen der Oberflachen- und Tiefenstruktur existieren. Im Anschluss daran werden die didaktischen Perspektiven im Rahmen einer unterrichtlichen Behandlung beleuchtet und reflektiert. Der Fokus der Arbeit liegt auf der Erörterung, inwieweit gender- sensibler Literaturunterricht durch Nutzung der o.g. Werke realisiert werden kann. Der Ein- fluss auBerschulischer bzw. auBerunterrichtlicher Faktoren wird in diesem Rahmen nicht thematisiert.

1.1 Gender als Thema der Soziologie

Um zu beantworten, welcher Zusammenhang zwischen literarischen Texten sowie der Dar- stellung von Geschlecht und Gender besteht, werden im Folgenden zunachst die Charakte- ristika literarischer Texte erschlossen.

Allkemper zufolge beinhalten literarische Texte im engeren Sinn neben der Schriftlichkeit und Literarizitat, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen wird, auch die Fiktionalitat sowie die Bedeutungsoffenheit.5 Zunachst wird der Begriff der Fiktionalitat dargelegt. GemaB Hattendorf sind literarische Texte fiktionale Produkte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ambivalente Bedeutungen haben und mit Sprachbildern arbeiten.6 Diese Beobachtung ist für die in dieser Arbeit durchgeführte Analyse literarischer Texte von Bedeutung, da davon ausgegangen werden kann, dass Texten spezifische Werte und Normen zugrunde liegen, deren Konstruktionscharakter im Rahmen einer reflexiven Analyse heraus- zuarbeiten ist. Nach Krah werden durch literarische Texte nicht alltagsreale, mediale Welten konstruiert, denen ein bestimmtes Werte- und Normsystem zugrunde liegt.7 Damit sei ge- meint, dass durch die Rezeption von Texten literarische Weltentwürfe kommuniziert wer­den, welche das kulturelle Selbstverstandnis pragen. Diesbezüglich liegt im Kontext schuli- scher Bildung die Aufgabe der Lehrkraft darin, die Texte insoweit zu rezipieren, dass jene Texte für die Behandlung im Unterricht selektiert werden, die wünschenswerte Werte- und Normsysteme transportieren. Im Hinblick auf die Gleichberechtigung und Diskriminie- rungsfreiheit ware dies im vorliegenden Fall Literatur, die gendergerechte Werte vertritt. GleichermaBen ist zu berücksichtigen, dass durch die Interpretation literarischer Texte Be- deutungsspielraume entstehen, die seitens der Rezipierenden individuell interpretiert werden können. GemaB Hempfer gilt es daher die abgebildete Wirklichkeit des Textes insoweit zu interpretieren, dass die zugrunde liegende Weltordnung erschlossen werden könne.8 Das hat zur Folge, dass die Interpretation eines Textes individuell unterschiedlich ausfallen kann. Diese individuelle Interpretation steht nach Krah im engen Verhaltnis zur Reflexion und Stellung des Individuums zu sich selbst und der Welt.9 Insbesondere der fiktionale Charakter von Texten sowie deren Bedeutungsoffenheit werden daher in den Kapiteln 3.2 und 3.3 schwerpunktmaBig betrachtet.

Viele Medienwelten bieten stereotype Geschlechtsmuster. All diese Muster steuern nach Röhner unser Denken mehr oder weniger unbewusst in Richtung Stereotype und beeinflussen die Selbstsozialisation.10 Im Hinblick auf Gendersensibilitat in Kinder- und Ju- gendliteratur bedeutet das, dass es zu untersuchen gilt, welche Werte und Normen in den beispielhaften Werken vertreten werden und welche konstruierte Weltvorstellung dadurch veranschaulicht wird.

AbschlieBend ist festzuhalten, dass literarische Texte dazu beitragen können, sich mit der eigenen Identitat auseinanderzusetzen und die kommunizierten und konstruierten Wertevor- stellungen zu konsumieren und reflektieren.

1.2 Aktueller Forschungsstand

Eine Studie der Süddeutschen Zeitung in Zusammenarbeit mit der Bibliothek für Jugend- buchforschung an der Universitat Frankfurt am Main hat ergeben, dass es nach wie vor sig- nifikante Unterschiede der Geschlechter in Kinder- und Jugendbüchern gebe.11 Demnach machen u.a. Brunner zufolge mannliche Protagonisten in Büchern tendenziell haufiger au- Bergewöhnliche, spannende sowie gefahrliche Erfahrungen, wohingegen weibliche Figuren oftmalig mit Themen wie Tiere, Schule und Familie konfrontiert werden.12 Das hieraus re- sultierende Problem liege darin, dass die Kinder die Erlebniswelt der Figuren, sofern diese stark auf ein Geschlecht zugeschnitten sind, auf sich selbst projizieren und somit ihr Selbst- bild dementsprechend definieren.13 Diese Ergebnisse zeigen sich auch in der Studie Gender Stereotypying and Under-representation of Female Characters in 200 Popular Children's Picture Books: A Twenty-first Century Update aus dem Jahr 2006.14 In jener wurden 200 Bestseller Bücher hinsichtlich der Darstellung von Geschlechterreprasentationen der Cha- raktere und deren Verhalten, der bildlichen Darstellung sowie der geschlechtsspezifischen Handlungsorte analysiert. In der Studie wurde offengelegt, dass Kinderbücher zum GroBteil noch immer Rollenklischees folgen, ohne dass bedeutsame Entwicklungen im Hinblick auf moderne Frauen- und Mannerbilder aufgezeigt werden.15 In diesem Zusammenhang wird der Begriff ,moderne Frauen- und Mannerbilder‘ anlehnend an Grimm und Neef (u.a.) ver- folgt, welcher besagt, dass Frauen sowohl die fürsorgliche Hausfrau als auch die arbeitende Mutter abbilden sollten.16 Mannerstereotype hingegen seien aus moderner Sicht in nicht- dominanten Rollen verhaftet, welche sich durch Fürsorglichkeit als auch attraktives Selbst- bewusstsein und Beziehungsnahe auszeichnen.17 Dass Rollenklischees bereits im frühen Kindesalter gepragt werden, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2017 von Burghardt und Klenk zu Geschlechterdarstellungen in Bilderbüchern - eine empirische Analyse18 Dazu wurden über 6000 Abbildungen aktuell genutzter Bilderbücher aus 133 Kitas hinsichtlich der Dar- stellungsformen der Figuren analysiert.19 Diesbezüglich galt es zu ermitteln, welche zwei- geschlechtliche Verteilung in den Büchern vorzufinden sei. Zusatzlich wurde ermittelt, in- wieweit geschlechtsstereotypische Darstellungen gefestigt oder aufgebrochen werden und ob die aktuell genutzte Kinderliteratur sich in einem heteronormativen Paradigma befinde. Dazu sind stichprobenartig 33 Kitas im Raum Bamberg angefragt worden, die in den Kita- gruppen verwendeten Bücher zur Verfügung zu stellen.20 Damit es den Kitas nicht möglich war, eine Vorauswahl bezüglich Gender zu treffen, wurden diese nicht über die zugrunde liegende Fragestellung informiert. Für die Studie sind ausschlieBlich Bücher mit menschli- chen Protagonist*innen selektiert worden. Bücher mit Tieren, Fabelwesen o.A. wurden aus- geklammert. Insbesondere weibliche Figuren folgten in den analysierten Werken klaren gen- derstereotypen Mustern der optischen Darstellung und waren haufig in Rottönen gekleidet. Auch angstliches Verhalten und die Beschreibung von Emotionen seien in den ausgewahlten Büchern haufig weiblich konnotiert. Mannliche Figuren hingegen trugen fast immer kurzes Haar und wurden selten in fürsorglichen oder haushaltsnahen Tatigkeiten dargestellt. Von den über 6000 identifizierten Protagonist*innen konnte keine(r) als nicht eindeutig mannlich oder weiblich klassifiziert werden. Darüber hinaus seien ausschlieBlich heterosexuelle Be- ziehungen und keine Abweichungen zu anderen Familienformen als die von Vater, Mutter und Kind gezeigt worden.

Nichtsdestotrotz stellten Burghardt und Klenk in ihrer Studie bereits Brüche mit traditionel- len Mannerbildern in Kinderbüchern fest - Manner bzw. Jungen wurden sowohl angstlich als auch mutig gezeigt.21 Dass diese Darstellung des angstlichen und sensiblen Mannes/Jun- gen jedoch auf wenig Leseanreize stoBe, zeigte Elstner in seinem Artikel „Leset ihr Kna- ben!“.22 Der Grund hierfür liege darin, dass der sensible Junge mit Blick auf Heranwach- sende wenig Identifikationspotential aufweise. Daraus resultiert laut Haug das Problem, dass für Jungen, die ohnehin weniger lesen und bereits in der Grundschule den ersten ,Leseknick‘ erfahren, weniger Leseanreize geschaffen werden.23 Diese Ergebnisse haben sich auch in den PISA-Studien von 2012 und 2015 widergespiegelt, bei denen Jungen im Hinblick auf die Lesekompetenz deutlich schlechter abgeschnitten haben als Madchen.24 Nach Hereth ist jedoch davon auszugehen, dass die Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Madchen und Jungen nicht naturgegeben, sondern konstruiert seien.25

Einerseits ist es daher wichtig, dass die Lehrkraft genderkompetent handelt und den Unter- richt geschlechter- bzw. gendersensibel gestaltet. Andererseits ist geschlechtsunabhangige Lektüre mit Identifikationspotenzial zu fordern, sodass die signifikanten Unterschiede im Lesen zwischen Madchen und Jungen aufgehoben werden. Somit ist es wichtig, gendersen- sible Lektüre im Unterricht zu integrieren, die gleichzeitig geschlechtsunabhangig die Lese- motivation aller Schüler*innen fördert.

1.3 Mehrwert und Forschungsthematik

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass es deutlichen Optimierungsbedarf im Bereich gendersensibler Kinder- und Jugendliteratur gibt. Dennoch existieren einige Werke, die auf den ersten Blick gendersensibel zu sein scheinen. In Bezug auf diese gilt es herauszufinden, inwieweit Charakteristika und Verhaltensweisen der handelnden Figuren in bereits beste- hender und ggf. vermeintlich gendersensibler Literatur gendergerecht umgesetzt werden, die auch in der Tiefenstruktur eingelöst werden. Durch die vertiefte Auseinandersetzung mit ausgewahlten Werken kann ermittelt werden, ob und in welchem Umfang diese für den gen- dersensiblen Unterricht genutzt bzw. als Instrument zur Reflexion von Geschlechterkli- schees thematisiert werden können. Anknüpfend an diese Überlegungen werden daher in der vorliegenden Arbeit die beiden Werke Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat sowie Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika unter Betrachtung der Gendersensibilitat in ihrer Oberflachen- und Tiefenstruktur betrachtet und dargelegt, inwie- weit sich die Werke in einen gendersensiblen Literaturunterricht in der Primarstufe integrie- ren lassen.

Das Werk Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat, wurde zum einen aufgrund einer Empfehlung der örtlichen Buchhandlung zum Einsatz in einer heterogenen Lerngruppe ausgewahlt, zum anderen erfreut sich das Werk zunehmender Beliebtheit bei Kindern und war sowohl Spiegel-Bestseller im September und Oktober 2018 als auch 2018 in der 30. Ausgabe auf der Buchreport Bestsellerliste auf Platz zwei.26 Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika wurde hingegen auf Basis eigener Recherche selek- tiert, da die Abenteuergeschichte nach erster Sichtung die Interessen der Schüler*innen geschlechtsunabhangig anspricht und der Charakter der Geschichte viele Möglichkeiten zum Einsatz im Unterricht bietet.

1.4 Aufbau der Arbeit

Um der vorgestellten Forschungsthematik theoretisch fundiert nachzugehen, werden dazu zunachst einige grundlegende Definitionen in Bezug auf Gender, Geschlechterrollen und Stereotype sowie das Konzept des ,Doing Gender‘ und Konzept des ,Undoing Gender‘ dar- gelegt. Nach einer thematischen Einführung der semiotischen Textanalyse in Anlehnung an das von Titzmann vorgeschlagene gleichnamige Verfahren in Kapitel 3.1, welches von Krah weiterentwickelt wurde, folgt die Anwendung des Analyseinstruments auf die Werke Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht und Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika. AbschlieBend werden in Kapitel 4 didaktische Überlegungen hin- sichtlich der unterrichtlichen Einbindung der Werke, dargelegt. Hier wird insbesondere auf die Aspekte des literarischen Lernens sowie die Hinterfragung der Geschlechterrollen ein- gegangen. Im Ausblick findet die Arbeit ihren Abschluss, in welchem weitergehendes For- schungspotenzial offengelegt wird.

2. Grundlegende Definitionen

Die US-amerikanische Naturwissenschaftlerin Mary Boenke traf in einem Film von Rosa von Praunheim laut Schneider die Aussage ”Sex is between your legs, but gender is between your ears“.27 Inwieweit genau diese Behauptung interpretiert werden kann oder ob es dies- bezüglich bereits neuere Ansatze der Geschlechterforschung gibt, wird im folgenden Kapitel dargelegt.

2.1 Gender

Im Gegensatz zu ,sex‘ ist ,gender‘ gemaB Enders-Dragasser veranderlich und keine geneti­sche Disposition, sondern zeichnet sich durch Erziehung, Bildung, Rollenzuweisungen und Selbstidentifikation des Individuums aus.28 Daraus ergibt sich laut Goffman, dass ,gender‘ im Habitus des Menschen inkorporiert sei und sich durch alltagliches Handeln definiere.29 Dass daher eine einfache Unterscheidung in zwei Geschlechter zu überdenken sei, zeigt Ju­dith Lorber. Ihres Erachtens nach gebe es fünf ,gender‘ Reprasentationen: Weiblich, mann- lich, uneindeutig, als Mann gekleidete Frau und als Frau gekleideter Mann.30 Diese Meinung teilt auch Nieberle, insofern sie feststellt, dass das Geschlecht, genauso wie andere Identi- tatsparameter, nicht binar gedacht werden könne, sondern differenzierter behandelt werden müsse und keinem fixen Konzept folge.31 Diese Ansichten wurden jedoch nicht erst im 21. Jahrhundert diskutiert: Bereits 1990 stoB Judith Butlers Werk Gender Trouble erstmalig eine Debatte bzgl. der heuristischen Unterscheidung zwischen dem biologischen (sex) und dem soziokulturellen (gender) Geschlecht in den 90er Jahren an.32 Noch heute pragen ihre An­sichten die Geschlechterforschung: So argumentieren neuere Ansatze der konstruktivisti- schen Forschung, dass nicht nur ,gender‘ sondern auch ,sex‘ und damit das biologische Ge- schlecht und die relationalen Geschlechterkörper konstruiert seien.33 Eine einheitliche The­orie bzgl. der Geschlechterkonstruktion könne jedoch nicht determiniert werden.34 Festzu- halten ist, dass die Kategorien ,sex‘ sowie ,gender‘ keinen festgelegten natürlichen Ursprung besitzen, sondern im Laufe der Zeit durch soziale, historische und kulturelle Prozesse ge- pragt wurden und künftig auch weiter gepragt werden.35 Demzufolge ist anzumerken, dass Boenkes Aussage zu überdenken ist, da gerade im Hinblick auf die Pragung durch die Zeit, sowohl ,sex‘ als auch ,gender‘ konstruktivistisch nie eindeutig definiert werden können, sondern historisch immer wieder neu zu interpretieren seien.

Unabhangig davon, ob und inwieweit sich Kinder und Jugendliche gangigen Geschlechter- rollen oder konstruierten Geschlechtern zuordnen, ist es laut Bartsch und Wedl als Lehrkraft wichtig, den Schüler*innen keine festgelegten Rollen zuzuschreiben, sondern sie stattdessen unabhangig von ihrer individuellen Empfindung des sozialen Geschlechts in ihrer Entwick­lung zu unterstützen.36 In diesem Zusammenhang ist auf die Aufgabe des Literaturunter- richts anlehnend an Frederking zu verweisen. So könne Literaturunterricht Gelegenheits- strukturen schaffen, um sich mit der eigenen Persönlichkeit und Identitat auseinanderzuset- zen.37 Zu beachten ist, dass Literatur lediglich als Medium fungiere und keine Erziehungs- arbeit leiste, sondern die Möglichkeit biete, die dargestellten Einstellungen zu untersuchen, diese zu reflektieren und zu überdenken. Dies werde gewahrleistet, indem die Beschaffen- heit literarischer Texte und die damit verbundenen Verstehensprozesse der zugrunde liegen­den fiktionalen Weltmodelle die Schüler*innen dazu befahige, literarische Welten in Bezie- hung zur eigenen Identitat zu setzen. Inwieweit sich dadurch Einstellungen und Verhalten verandern, sei abhangig vom individuellen Selbstverstandnis der Identitat der Schüler*in- nen. Identitat in diesem Zusammenhang beschreibt laut Schilcher und Müller den dynami- schen und von inneren Entwicklungen gepragten Prozess, bei dem auBere Einflüsse verar- beitet werden, die das Bewusstsein beeinflussen. Prozessual gesehen sei somit die Identitat, ebenso wie das Geschlecht, generell unabgeschlossen.38 Der daran anknüpfende identitats- orientierte Literaturunterricht sei ein zentraler Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung und ist in den Bildungsstandards des Faches Deutsch verankert.39

2.2 Geschlechterrollen und Stereotype

Schneider zufolge existiert ein gesellschaftlich geteiltes, alltagsweltliches Geschlechterwis- sen, woraus sich nach westlicher Weltauffassung duale Geschlechterkonstrukte ergeben: Zum einen die Polaritat (Mannlichkeit und Weiblichkeit), zum anderen die Hierarchie (Mannlichkeit steht über Weiblichkeit).40 Diese symbolische Geschlechterordnung bewirke, dass automatisch Oppositionen gebildet werden - in Bezug auf das Geschlecht laut Schilcher und Müller die gesellschaftlich konstruierte Assoziation mit Bildern und Skripten für mann- liche und weibliche Zuschreibungen.41 Es existieren viele Objekte, deren konkrete Erscheinung geschlechtlich konnotiert sei, wie z.B. Kleidungsstücke, Behaarung und Schmuck. Auch Bewegungen, Blicke, Mimik und Gestik können als Geschlechterdarstel- lung wahrgenommen werden. Nicht auBer Acht zu lassen seien auch Dinge, die auf den ersten Blick nicht geschlechtlich konnotiert zu sein scheinen z.B. Spielzeuge, Nahrungsmit- tel oder Freizeitaktivitaten, die jedoch im Rahmen der Geschlechterdarstellung ebenfalls se- xuiert werden können und der binaren Geschlechtertrennung zugeordnet werden.42 Unabhangig davon ist jedoch festzuhalten, dass das Geschlecht etwas sei, was eine Person ausdrückt und nicht etwas, was sie innehabe. In diesem Zusammenhang kann erneut auf den Konstruktionscharakter von Geschlecht verwiesen werden.43 Demnach bilde das Geschlecht eine Form des Sozialisationsprozesses ab, welcher sich zum einen kulturell zum anderen aber auch interessengeleitet herausbilde.44 Ware es der Fall, dass Interessen naturgegeben seien und diese klar mannlich oder weiblich konnotiert waren, könnten Interessen weder gefördert noch geweckt werden. Interessen entfalten sich jedoch nach Rendtorff geschlechts- übergreifend und gestalten somit die individuellen Lebenserfahrungen mit, sofern sie nicht grundlegend als ,typisch‘ mannlich oder weiblich etikettiert werden.45 Etikettierung in die- sem Zusammenhang beschreibe die Reduzierung der Merkmale einer Person auf ihr gezeig- tes Verhalten, sodass dieser Person automatisch ein bestimmtes Verhalten zugeschrieben werde.46 Etikettierungen bewirken demnach, dass Geschlechterrollen und somit auch Stig- matisierungen gefördert werden. Stigmatisierungen illustrieren gleichermaBen die automa­tische Zuschreibung von Eigenschaften, die mit den tatsachlich gezeigten Eigenschaften ei- ner Person nicht einhergehen müssen.47 Demzufolge sind Etikettierungen zu vermeiden, da sie die Schüler*innen durch automatische Zuschreibung des ,typischen‘ Verhaltens in mann- lich und weiblich in der Herausbildung ihrer individuellen Persönlichkeit hemmen. Die Ent­faltung von persönlichen Interessen ist somit Bestandteil der Identitatsbildung und ist im Rahmen eines geschlechtergerechten Unterrichts zu fördern.

Durch die bewussten Geschlechterrollenzuschreibungen entstehen Stereotype. Stereotype definieren laut Six-Materna und Six kognitive Schemata, die bewirken, dass bestimmte As- soziationen bzgl. der Merkmale der Mitglieder einer sozialen Gruppe geweckt werden.48 Diese Stereotype, die im Gender-Fachjargon als ,Gender Bias‘ bezeichnet werden, beschrei- ben laut Enders-Dragasser systematische Verzerrungseffekte, die das Wissen und die Wahrnehmung beintrachtigen und somit Benachteiligungen bewirken können.49 Geschlech- terstereotype sind laut Schilcher und Müller erlernte kognitive Schemata, die Wahrschein- lichkeitsaussagen darüber treffen, in welchen Merkmalen Personen sich unterscheiden, so­dass geschlechtstypische Unterschiede und soziale Ungleichheiten durch das Verhalten und die Interaktion mit der medialen Umwelt konstruiert werden.50 Daher gelte es zu erkennen, dass bestimmte Verhaltensweisen oder Zuschreibungen nicht mannlich oder weiblich seien, sondern nur als solche konnotiert werden.51

Auch wenn Mannlichkeitsinszenierungen zunehmend diskutiert werden und auch der sen­sible, krankliche Mann52 in den Vordergrund rücke, ist laut Meuser dennoch das Ideal von Unabhangigkeit, Starke, Aktivitat und Dominanz pragend für die Bewertung von Mannlich- keit und bietet den starksten Identifikationscharakter.53 Zu beobachten sei dabei jedoch, dass insbesondere das mannliche Konstrukt fragil erscheine. Demnach bestehe der Kern jugend- licher Mannlichkeitsinszenierungen darin, sich bewusst von all dem was weiblich konnotiert sei, abzugrenzen, um die Mannlichkeit hervorzuheben.54 Auf diese Weise entsteht eine Wi- dersprüchlichkeit des Mannlichkeitsbildes: Somit findet einerseits eine Abhebung durch Do- minanz über das vermeintlich schwach weiblich Assoziierte statt, andererseits wird so be- wusst das Weibliche in den Vordergrund gerückt, da es augenscheinlich als ,Gefahrdung‘ der Mannlichkeit gesehen wird, von dem es sich abzuheben gilt.

Gegenwartig befindet sich auch das moderne Frauenbild im Zwiespalt der Inszenierungen. Infolgedessen werde die starke, selbstbewusste Frau, die ihre eigenen Ziele und Vorstellun- gen verfolge, mit der rein attraktiven Frau, die sich klar der Rolle des Mannes unterordne, verglichen.55 Obwohl die Eigenstandigkeit der Frau zunehmend in den Vordergrund gerate, sei immer noch die Vorstellung von rein körperlicher Attraktivitat und Schönheit der Frau als determinierendes Merkmal von Weiblichkeit allgegenwartig.56 Aus gesellschaftlicher Sicht seien jedoch Madchen, die sich in konstruierten mannlichen Spharen bewegen, eher akzeptiert, als umgekehrt.57 Dies spiegle sich in unterschiedlichen Facetten der Weiblichkeit wider. So finde auch in Madchengruppen i.d.R. keine bewusste Abgrenzung und Ausschluss gegenüber des Gegengeschlechts statt, sodass die Konstruktion von Weiblichkeit aufgrund ihres Toleranzcharakters stabiler als die des Mannlichen erscheine.58

AbschlieBend sei es im Rahmen einer geschlechterbewussten Padagogik zu fordern, dass Kinder und Jugendliche fahig sind, die Widersprüchlichkeiten der konstruierten Geschlech- terkonzepte zu durchdringen und sie bewusst in ihren individuellen Fahigkeiten und Mög- lichkeiten zu starken.59 Demnach sollten sie langfristig lernen, Stereotype durchschauen zu können, die Vielschichtigkeit von Identitaten zu erkennen und gleichzeitig offen für Ent- wicklungen und Potenziale zu sein, die Persönlichkeit ein Leben lang zu entfalten.60

2.3 Konzept des ,Doing Gender‘

,Gender‘ im Fachjargon ist laut Gildemeister keine Eigenschaft, die Menschen besitzen, sondern wird als soziales und kulturell gepragtes Konstrukt aufgefasst, welches Personen sich selbst und anderen Personen zuschreiben.61

Laut Butler wird dieses Phanomen als ,Doing Gender‘ bezeichnet.62 Durch Körpersprache und bestimmte Interessen werde die Geschlechterzugehörigkeit dar- und hergestellt, sodass die Umwelt klar klassifizieren könne, um welches Geschlecht - dichotomisch gedacht - es sich handle. Judith Butler bezeichnete dies einst als „heterosexuelle Matrix“, sodass z.B. durch Werbung zahlreiche Vorbilder prasentiert werden, wie Frauen und Manner sich zu verhalten haben.63

Gildemeister betont in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen von ,Doing Gender‘ das Geschlecht nicht als Eigenschaft eines Individuums betrachtet werde, sondern das Ergebnis sozialer Prozesse, in denen das Geschlecht als Unterscheidung hervorgebracht und reprodu- ziert werde, sei.64 Geschlechtszugehörigkeit sowie Geschlechtsidentitat seien aufgrund des­sen durch jede menschliche Interaktion als fortlaufender Konstruktionsprozess zu verstehen. Dem zugrunde liege die Annahme, dass nicht der Unterschied zwischen konstruierten Ge- schlechtern die Bedeutung von ,Doing Gender‘ herstelle: Aufgrund der Annahme, dass das Geschlecht als biologisch verankert angesehen werde, trete automatisch der Vorgang der sozialen Konstruktion als unsichtbar auf und werde als selbstverstandlich wahrgenommen.65 Daraus ergebe sich die automatische Annahme der Bipolaritat zwischen mannlich und weib- lich.66

An dieser Stelle sollte der ebenfalls von Judith Butler gepragte Begriff der Performanz er- wahnt werden. Dieser besagt, dass das alltagliche Handeln einen performativen Charakter besaBe. Dies bedeute, dass Menschen einem kulturell gepragten Rollenverstandnis folgen. Die Herstellung von Geschlecht sei somit nicht automatisch existent, sondern werde durch Sprache und Handlungen hergestellt.67 Butler geht diesbezüglich davon aus, dass der ge- samte Körper kulturell durch Performanz hergestellt werde. Dies inkludiere sowohl das so- ziale als auch das biologische Geschlecht.68 Die Geschlechterrollenklischees werden körper- lich sowie sprachlich von früher Kindheit an performativ gepragt. Jedoch wird laut Guse das ,typisch‘ geschlechterdifferente Verhalten in mannlich und weiblich insoweit sozialisiert, dass seitens der Heranwachsenden nicht erkannt werden könne, dass sie die Rolle der kultu- rellen Selbstverstandlichkeit übernehmen, in die sie von der Gesellschaft gedrangt werden.69 Laut Budde ist damit gemeint, dass das alltagliche Verhalten einem kontinuierlichen Bewer- tungsprozess unterliege, auf dem durch menschliche Interaktion Einfluss genommen werde, sodass die soziale Umwelt als auch die individuelle Persönlichkeit standig neu produziert und reproduziert werden.70 Interaktionen zwischen der Person, die das Geschlecht darstelle und der Person, die es anerkenne, stehen somit in wechselseitiger Beziehung zueinander. Das hieran anknüpfende Problem bestehe darin, dass automatische Geschlechterzuordnun- gen als etwas Normales konstruiert werden und nicht als das, was sie tatsachlich seien.71 Durch die Einschatzung und Bewertung einer Person anhand ihres Geschlechts finde auto­matisch eine Dramatisierung des Geschlechts statt. Daraus resultiere, dass der Klassifizie- rung des Geschlechts eine solche Relevanz zugewiesen werde, die das Geschlecht immer wieder in den Vordergrund rücke und daher gezielt auf Differenzen zwischen Gendergrup- pen hingewiesen werde. Jedoch sei zu beachten, dass nicht die biologische oder natürliche Anlage das Verhalten steuere, sondern dass die Interaktion sowie der soziale Kontext defi- nieren, ob eine Person als ,mannlich‘ oder ,weiblich‘ eingeordnet werde72

Hirschauer hat dazu 1994 drei wesentliche „axiomatische Grundannahmen“ definiert, die begründen, dass dem Konzept ,Doing Gender‘ auch biologische Ursachen anstelle mensch- licher Interaktion zugeschrieben werden. Die erste Annahme sei die der Konstanz: Es wird unterstellt, dass lebenslang die Geschlechtszugehörigkeit gültig sei. Die zweite Annahme beschreibe die Naturhaftigkeit. Diese besagt, dass anhand von körperlichen Merkmalen eine Zuordnung des Geschlechts erfolge. Die dritte und letzte Annahme sei die der Dichotomizi- tat. Die Zweigliedrigkeit der westlichen Weltauffassung in z.B. gut gegenüber böse oder klein gegenüber groB bewirke, dass die Menschen von einer polaren Zugehörigkeit ausgehen und somit eine klare Klassifizierung in entweder mannlich oder weiblich erfolge. Insbeson- dere die Annahme der Dichotomizitat stelle daher ein groBes Problem dar. Diese habe den Effekt, dass Interessen nach Geschlecht stigmatisiert werden, die wiederum stereotype Vor- ururteile schüren.73

2.4 Konzept des ,Undoing Gender‘

Nachdem nun ausführlich der Konstruktionscharakter von Geschlecht, Geschlechterrollen und Stereotypen unter Betrachtung des ,Doing Gender‘ thematisiert wurde, ist nachfolgend darzulegen, wie im Umkehrschluss die Konstruktion von Geschlecht im Rahmen einer Ge- schlechtergleichstellung aufgehoben werden kann.

,Undoing Gender‘ beschreibe zunachst die bewusste Dekonstruktion von Geschlechterrol- len, sodass Stereotype aufgebrochen werden. Ziel des Konzeptes sei es, einen kritischen und reflexiven Blick auf die konstruierten Geschlechterrollen zu erlangen.74 Wird das Konzept des ,Undoing Gender‘ im Kontext Schule betrachtet, gelte es zunachst dieses als Lehrkraft zu verinnerlichen, um geschlechtsneutral padagogisch agieren zu können. In diesem Zusam- menhang sei es wichtig, sich über die eigens definierten Genderkonzepte bewusst zu werden, um diesbezüglich fahig zu sein, Literatur und Materialien im Hinblick auf die Gendersensi- bilitat zu bewerten.

Um gendersensibel agieren zu können, empfiehlt Budde den nachfolgenden dreischrittigen Prozess: Zunachst sei hier erneut auf die Dramatisierung des Geschlechts hinzuweisen.75 Auch wenn die Dramatisierung bereits im Kapitel 2.3 kritisch erörtert wurde, kann diese durch die Umsetzung der einzelnen Schritte bewirken, dass stereotype Betrachtungen ver- mieden werden. Der erste Schritt sei es daher, die Bedeutung von Geschlecht in einer kon- kreten Situation zu analysieren.76 Dies auBere sich insoweit vorteilhaft, dass die Frage, ob das Geschlecht in einer bestimmten Situation von Relevanz sei, geklart werden könne. Wird diese Darlegung auf eine bestimmte Unterrichtssituation bezogen, z.B. zur Literaturauswahl im Deutschunterricht, ist infrage zu stellen, ob das ausgewahlte Werk nur eine bestimmte Zielgruppe anspricht oder geschlechtsunabhangig eingesetzt werden kann. Im nachfolgen- den Schritt sei die Reflexion bezüglich der bipolaren Unterscheidung in Jungen und Mad- chen und der Erkenntnis, dass eine Vielzahl heterogener Geschlechter existiere, zu verfol- gen.77 In diesem Zusammenhang ist beispielhaft die Analyse eines Werkes zu nennen, bei dem stereotype Charaktere vorkommen als auch solche, die sich nicht in die dichotomen Geschlechterrollen einordnen lassen. Der reflexive Charakter und das kritische Lesen im Hinblick auf die Herausarbeitung der Geschlechterdifferenzen sind hierbei entscheidend. AbschlieBend ist hervorzuheben, dass starker auf entdramatisierende Aspekte, wie die Selbs- treflexion des eigenen ,Doing Gender‘ Prozesses eingegangen werden solle.78 Damit sei ge- meint, dass hinterfragt werde, inwieweit eigens konstruierte Geschlechtervorstellungen in die Bewertung einer konkreten Situation einflieBen. Auch strukturelle Ungleichheiten sowie institutionelle Gegebenheiten, sollten hierbei Berücksichtigung finden. Dadurch entstehe das sogenannte Genderwissen, welches in konkreten Unterrichtssituationen angewendet werden könne.79

Anlehnend daran sind die vier Kompetenzbereiche Thiessens, die einen genderkompetenten Unterricht gewahrleisten sollen, zu erwahnen.80 Zum einen handle es sich hierbei um das genderkompetente Fachwissen, welches das Grundwissen der gesellschaftlichen Strukturen in Bezug auf die Geschlechterforschung beinhalte. Daran anknüpfend sei die gendersensible Methodenkompetenz zu nennen. Diese beziehe sich auf Wissen und Fertigkeiten zur Selbst- reflexion in Bezug auf die Möglichkeiten zur Förderung von Chancengleichheit. Gefolgt davon sei die genderbezogene Sozialkompetenz zu nennen, die sich mit den Differenzen innerhalb der eigenen Geschlechtergruppe auseinandersetze und die eigene Geschlechtszu- gehörigkeit im privaten und öffentlichen Raum definiere. AbschlieBend sei die Individual- kompetenz zu beleuchten, welche wiederum das eigene Identitatskonzept und die Selbstref- lexion beschreibe. Auch Bartsch und Wedl fassen die Genderkompetenz in drei Schritten zusammen: Dem Fachwissen bezüglich der Gender Studies, der Kompetenz, sensibel rele­vante Geschlechteraspekte zu erkennen und schlussendlich der Fahigkeit mit Instrumenten und Methoden auf diese einzugehen.81

Rendtorff betont in diesem Zusammenhang insbesondere das Geschlechterwissen der Lehr- kraft.82 Sie vertritt die Meinung, dass es nicht wichtig sei, ob das Geschlecht thematisch im Unterricht behandelt werde, sondern auf welche Art und Weise es im Unterricht Beachtung finde. Daher spiele insbesondere das Wissen der Lehrkraft im Hinblick auf die padagogische Phantasie, der Thematisierung von Geschlechterverhaltnissen im Unterricht sowie der Selbstreflexion der Schüler*innen eine entscheidende Rolle für einen gendersensiblen Un- terricht.

Genderrollen und -konzepte können und sollten jedoch auch im Rahmen einer unterrichtli- chen Betrachtung mit den Schüler*innen diskutiert werden. Zur Behandlung von Gender im Unterricht ist laut Schilcher und Müller eine kritische Selbstreflexion nur bedingt in der Pri- marstufe realisierbar.83 Nichtsdestotrotz können beispielsweise anhand von einfachen Rol- lenspielen Perspektivwechsel vorgenommen werden, die bewirken, dass auch jüngere Schü- ler*innen stereotypes Verhalten reflektieren.

In diesem Zusammenhang sei es schlussendlich zu fordern, dass im Rahmen des Literatur- unterrichts die Konstruktion von Genderrollen erkannt werde.84 Dadurch lassen sich Gen- derentwürfe erweitern, was wiederum Diversitat zulasse und dadurch die individuelle Iden- titatsfindung der Heranwachsenden unterstütze.

3. Textanalyse aktueller Kinderliteratur

Im folgenden Kapitel werden die Analyseergebnisse der Werke Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat und Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika auf Basis der semiotischen Textanalyse nach Titzmann und dessen Erweiterung durch Krah dargelegt.

Zunachst wird das Verfahren der Textanalyse kurz erlautert. Einflussfaktoren, die es zu er- örtern gilt, sind u.a. die Bedeutung von Texten, Wissen und Ideologien und gleichzeitig die Einwirkung des Entstehungskontextes im Hinblick auf Historie und Kultur der Zeit. Darüber hinaus wird auf die Konstruktion und den Modellcharakter von Texten eingegangen und dargelegt, inwieweit die semantische Abstraktion in Texten eine Rolle spielt. Der Schwer- punkt der Analysen liegt im Bereich von Gender und dessen Zusammenhang mit der Text- semantik.

Auf die Vorstellung des methodischen Vorgehens folgt die textbezogene Analyse der o.g. Werke. Fokussiert werden hierbei die Gender-Trager, also jene Figuren im Werk, die be- stimmte Merkmalsauspragungen innehaben und den ihnen zugrunde liegendem Verhalten. Darüber hinaus werden die Gender-Zeichen, mit Schwerpunkt auf der bildlichen Darstellung der Kleidung, Wahl der Farben und sonstigen Auffalligkeiten, betrachtet. AbschlieBend wer­den die Ergebnisse in einem Zwischenfazit in 3.4 zusammengefasst und bilden die Basis für die didaktischen Handlungsempfehlungen der unterrichtlichen Einbettung beider Werke in Kapitel 4.

3.1 Die semiotische Textanalyse nach Hans Krah

Der Literaturwissenschaftler und Mediensemiotiker, Hans Krah, legt dar, dass es weitaus mehr bedürfe, als an der Textoberflache das Handeln weiblicher und mannlicher Figuren zu analysieren, um die Genderkonzepte eines Textes erschlieBen zu können.85 Stattdessen for- dert Krah, einen Text hinsichtlich der Tiefenstruktur ganzheitlich zu betrachten und die me­diale Konstruktion der abgebildeten Welt in ihren Konstruktionsprinzipien zu hinterfragen.86 Anders ausgedrückt sei das Ziel der semiotischen Textanalyse, die Bedeutung eines Textes zu rekonstruieren und dabei die intersubjektiven Interpretationen textnah nachzuweisen.87 In Anlehnung an Titzmann stellt Krah vier ineinandergreifende Grundprinzipien zusammen, auf deren Basis Texte zu analysieren sind. Zunachst sei der Fokus auf den Kommunika- tionscharakter von Texten zu setzen. Texte dienen dazu, Inhalte zu kommunizieren und mit dem Lesenden in Kontakt zu treten. Auf diese Weise werde Wissen transportiert, artikuliert oder archiviert. Das transportierte Wissen sei hierbei immer kulturabhangig und in beste- hende Denksysteme der Zeit integriert. Demnach flieBe in die Entstehung von Texten auto­matisch der raumzeitliche Entstehungskontext als Abbild des Denkens der Zeit mit ein. Das bedeute, dass Texte immer hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruches zu untersuchen seien, weil sie die Ideologie sowie Werte- und Normvorstellung der vorgelebten Kultur wiederge- ben.88 Texte seien somit an die Historizitat und Kulturalitat der Umgebung gebunden.89 Da- raus lasse sich schlieBen, dass Texte immer historisch zu verorten seien. Daran anschlieBend müsse die Frage gestellt werden, ob und inwieweit Dinge problematisiert oder favorisiert werden.90 Den Texten liege somit immer eine zu vermittelnde Weltvorstellung zugrunde, die nicht zufallig, sondern bewusst anlehnend an die gesellschaftlichen Einstellungen ge- wahlt wurde. Im Hinblick auf den Genderdiskurs sei hier auf die Vermengung der biologi- schen Natur und den automatisch gesellschaftlichen Zuschreibungen kultureller Art zu ver- weisen.91 Nichtsdestotrotz ist an dieser Stelle anzumerken, dass Geschlechtsstereotype auch teilweise implizit Eingang in die Literatur finden, weil sie durch das kulturelle Denken oft unbewusst transportiert werden und auf diese Weise automatisch in das Denken der Zeit eingebunden sind.

Des Weiteren zeige sich in Texten die Konstruktion und der Modellcharakter der abgebilde- ten Welt.92 Damit sei gemeint, dass Texte Welten entwerfen, die ein eigens kreiertes Modell der Realitat darstellen. Diese literarischen Weltentwürfe kommunizieren Wert- und Normsysteme die im Rahmen der kulturellen Selbstverstandigung angenommen werden. Demnach werde das Bild der Gesellschaft sowie das des Individuums von sich selbst und der Welt gepragt und schlussendlich wieder für wahr gehaltenes Wissen archiviert.93 Dem Konstruktionscharakter liege die semantische Abstraktion von Texten zugrunde, die mit Blick auf die Tiefenstruktur zu analysieren sei. Diese entstehe auf Basis von Zeichen.94 So werden die kommunizierten Werte- und Normvorstellungen nicht oberflachlich kommu- niziert, sondern oft an der Textoberflache verschleiert.95 Die Tiefenstruktur zeichnet sich laut Titzmann auBerdem dadurch aus, dass sie das Bedeutungsgeflecht des Textes wieder- gebe und sich durch Propositions- sowie Merkmalsanalysen von der Oberflache eines Textes unterscheide.96 Durch vorschnelle Analysen, die auf Basis von oberflachlichem Handeln der Figuren durchgeführt werden, werden daher laut Krah oft vorschnelle Merkmalszuweisun- gen getroffen, die diese in ihrer Tiefenstruktur letztlich gar nicht rechtfertigen.97 Demzufolge sei es wichtig, Texte in ihrer Tiefenstruktur zu begreifen.

Im Hinblick auf die Genderthematik gelte es daher zunachst zu erkennen, dass das Bedeu- tungsgeflecht eines Textes nicht dem offensichtlichen Inhalt entsprechen müsse. Daher sei in der Analyse insbesondere der Fokus auf den Konstruktionscharakter zu legen. So sei nichts im Text selbstverstandlich oder natürlich abgebildet, sondern eine bewusste Ausklam- merung möglicher Alternativen. Deren Wahl unter Betrachtung aller Textdimensionen gelte es ganzheitlich zu erschlieBen.98 Des Weiteren sei es wichtig zu erkennen, dass die Zeichen eines Textes nicht gezwungenermaBen in Beziehung zueinander stehen müssen, sondern sich möglicherweise nicht der Zuschreibung semantischer Relation bedienen. Um beispiels- weise Sachverhalte zu ironisieren, können die Zeichen eines Textes auch bewusst einen Wi- derspruch zwischen semantischer Aussage eines Zeichens und der tatsachlichen Bedeutung darstellen. Demnach sei zu determinieren, welche bewusste Aussage zugrunde gelegt wurde.99 Nicht nur die Zeichen, sondern auch die Wahl von Begriffen müssen nicht automa­tisch der normalsprachlichen bzw. lexikalischen Bedeutung entsprechen. Die gezielte Wahl des Sprachgebrauchs bilde letztlich erneut die Funktion ab, oberflachlich die normalsprach- liche Konnotation anzunehmen. Die Aufgabe einer tiefenstrukturalen Analyse liege jedoch darin, die spezifische Semantik zu erschlieBen.100

Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich nun im Folgenden die Werke Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat und Wir sind nachher wieder da, wir müssen kurz nach Afrika analysieren.

3.2 „Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat“ - eine genderkri- tische Analyse

Das fiktionale Kinderbuch mit der Altersempfehlung ab sechs Jahren erzahlt die Geschichte der Oma, die das gesamte Internet an einem Tag kaputt gemacht haben soll. Bis auf die sechsjahrige Protagonistin Tiffany glaubt zunachst niemand in der Familie, dass die Oma dazu fahig sei. Unabhangig davon merkt jedoch die gesamte Familie, wie abhangig ihr all- tagliches Tun vom Internet ist und entdeckt durch die fehlende Internetverbindung ihr Fa- milienleben kollektiv Stück für Stück neu, wahrend sie gemeinsam auf die ,Wiederherstel- lung des Internets‘ warten.101

Im Folgenden werden zunachst die Gender-Trager hinsichtlich ihrer Eigenschaften sowie des zugrunde gelegten Verhaltens betrachtet.

3.2.1 Gender-Trager und Aktionen

Im Hinblick auf die Gender-Trager werden zunachst die einzelnen Figuren sowie deren Sem- antik, angelehnt an das von Krah vorgeschlagene Vorgehen, analysiert.102 Der Fokus wird hierbei insbesondere auf die Beschreibung der einzelnen Charaktere sowie deren Assozia- tion mit einer bestimmten Rolle gesetzt. Auch deren Werte- und Normvorstellung im Hin- blick auf ihr Verhalten wird in diesem Zusammenhang dargelegt. Externe Figuren, wie der Pizzajunge oder IT-Techniker, die im Handlungsverlauf zur Familie hinzustoBen, werden nur erwahnt, jedoch nicht weiter in ihrer figuralen Darstellung analysiert.

3.2.1.1 Die Oma - Der Auslöser

Aus raumlicher Sicht befindet sich die Oma zunachst in dem Haus der Eltern von Tiffany, Luisa und Max und passt auf diese auf, da Ferien sind und die Eltern arbeiten müssen.103 Sie kritisiert u.a. Luisa energisch für ihre Ausdrucksweise104, woraus sich schlieBen lasst, dass die Oma neben der aufpassenden Funktion auch erzieherische Funktionen innehat. Des Wei- teren öffnet sie die Tür sobald es klingelt, wohingegen die Familie lediglich neugierig hinter ihr steht.105 Aufgrund dessen ist herzuleiten, dass die Oma die Familie nach auBen hin re- prasentiert und sie die Rolle übernimmt, über die Belange des Hauses zu wachen.

Sobald die Mutter jedoch von der Arbeit nach Hause zurückkehrt, nimmt die Oma eine pas- sivere Rolle ein und agiert kaum noch aktiv. Dies lasst sich insoweit interpretieren, dass die GroBmutter die Rolle der Mutter vertritt solange diese aus dem Haus ist. Sobald diese jedoch zurückkehrt, nimmt sie sich selbst zurück. Dadurch wird offensichtlich, dass den agierenden Figuren ein implizites Familienbild106 zugrunde gelegt wird, da anscheinend immer eine Frau im Haus anwesend sein muss, die auf die Kinder aufpasst und das Haus verwaltet.

Ferner wird deutlich, dass die Rolle sowie die Handlungen und Aussagen der Oma-Figur ein traditionelles Rollenverstandnis107 im Hinblick auf die Aufgabenaufteilung in der Familie impliziert. Die Oma ist der Meinung, dass ihr Mann immer sein Werkzeug mit dabei haben solle.108 Daher konnotiert sie handwerkliche Tatigkeiten eindeutig mannlich. Sie sieht nicht ein, dem Opa gesagt zu haben, er solle sein Werkzeug nicht mitnehmen, sondern setzt sich mit einem „Na ja. So oder so. Mitgenommen hast du es jedenfalls nicht.“109 über die an ihr geauBerte Kritik hinweg. Daraus ist zu schlussfolgern, dass sie ihrem Mann gegenüber das letzte Wort haben möchte. Auf diese Weise wird zum einen das in den sozialen Netzwerken verbreitete Klischee des ,Rechthaben-Wollens‘ seitens der Frau gefestigt, zum anderen steht die Oma offensichtlich auch nicht zu möglichen Fehlern eigener Aussagen sondern sieht sich unabhangig des zugrunde liegenden Sachverhaltes im Recht.

In Bezug auf das Handeln der Oma ist festzustellen, dass sie das Internet als heutige Technik zwar nutzt110, falschlicherweise jedoch immer doppelt klickt, was zusatzlich auf sprachlicher Ebene durch selbstzuschreibende Kommentare wie „Klick, klick.“111 untermalt wird. Ein erneuter Hinweis auf die mangelnde technische Kompetenz und daran anknüpfende Fehlin- terpretation seitens der Oma wird deutlich, indem auf Textebene dargelegt wird, dass das Internet laut Aussage der Oma nicht mehr ginge. Die Bildebene zeigt jedoch, dass das Inter­net lediglich aufgrund eines Ausnahmefehlers beendet werden müsse.112 Dies deutet darauf hin, dass die Oma unsicher im Umgang mit der Technik ist, was nicht nur durch das Fehl- verhalten im Netz auszudeuten ist, sondern sich auch durch sprachliche Selbstzuschreibun- gen zeigt. Insofern wird auf ironische Art und Weise mit dem fehlerhaften Umgang im In­ternet gespielt. Das Klischee des technisch unsicheren Umgangs im Alter lasst sich durch die durchgeführte Umfrage der Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Marktfor- schungsunternehmen Kantar bestatigen: So schatzen weniger als die Halfte der Befragten ab 60 ihre digitale Kompetenz als sicher ein, mit zunehmendem Alter sogar nur noch ein Drittel der Interviewten.113

Der anschlieBende Erklarungsversuch seitens der Oma, der Enkelin das Internet durch einen Vergleich mit dem Videotext zu demonstrieren, scheitert.114 Einerseits findet hier eine di- daktische Reduktion der Komplexitat des Internets statt. Jedoch ist die Beschreibung zu ver- altet, als dass ein Kind, welches jenseits der Nutzung des Videotextes, die laut einem Inter­view Höpfners mit Gaddum vom ZDF gröBtenteils der alteren Nutzer*innenschaft zuzu- schreiben ist115, aufwachst, diese verstehen könnte.

AbschlieBend ist daher auszudeuten, dass in dem vorliegenden Werk nicht nur genderspezi- fische Aspekte zu analysieren sind, sondern auch auf das Generationenproblem und die da- mit verbundenen Werte, Normen und Verhaltensweisen verwiesen wird.

Darüber hinaus erwidert die Oma auf Max Kommentar, dass nicht alle, die im Internet rum- klieken wirklich schlau sind, erneut „Klick, klick.“.116 Dies lasst sich insoweit interpreteren, dass die Oma in ihren Handlungen ironisiert gezeichnet wird. Die ironische Art und Weise ihres Verhaltens spiegelt sich auch darin wider, dass sie selbst beteuert, das Internet nur aus Versehen kaputt gemacht zu haben, was jedoch bis zuletzt infrage gestellt wird.117 So wird die Oma nach erneuter Funktionalitat des Internets auf Bildebene lesend mit einem Buch über Programmiersprache für Fortgeschrittene gezeigt118, was erneut in karikierender Weise auf die Handlung des Textes verweist. Somit entsteht ein Widerspruch zwischen Textebene, durch die ihr Technikwissen infrage gestellt wird und Bildebene, die vermittelt, dass sie bereits einen Wissensvorrat über das Programmieren innehat, der sie befahigt, sich vertie- fend mit der Technikmaterie auseinanderzusetzen. Betreffend der Einbettung in die Gesamt- szenerie bleibt es daher unklar ob sie, nach offensichtlich kommuniziertem Verhalten, Prob- leme im Umgang mit der Technik hat119 oder ob sie wirklich fahig ist, das Internet auBer Kraft zu setzen. Diese Zweideutigkeit wird bis zuletzt nicht aufgeklart.

Die Fahigkeiten der Oma auf Textebene werden auch in anderen Lebensbereichen hinter- fragt. Bei dem von Tiffany inszenierten Fische-Spiele, wo jede Figur sich selbst eine andere Fischart zuschreibt und auf dem Schlafzimmerboden diese in Form eines Rollenspiels aus- lebt, nimmt die Oma die Rolle einer Qualle an, die bei Berührung ein Brennen auf der Haut verursacht.120 Aus dieser Symbolik lasst sich erschlieBen, dass sie als Figur erscheint, die die Fahigkeit hat bzw. sich zuschreibt, Dinge negativ beeinflussen zu können.

Insofern ist abschlieBend festzuhalten, dass bezüglich der Figur Oma thematisch die Funk- tionalitat bzw. Nicht-Funktionalitat des Internets zentral ist. Es erfolgt eine doppelte Bre- chung des Stereotyps, dass die Oma nicht mit der Technik umgehen kann. Demnach wird dieser zunachst hervorgerufen, indem von Beginn an das Internet nicht mehr funktioniert und sogleich dem Handeln der Oma zugeschrieben wird. Dennoch werden ironische Hin- weise auf eventuelles Technikwissen, z.B. durch Lesen von Büchern über Programmierspra- che121 gegeben, sodass keine Überwindung des Stereotyps erfolgt. Es bleibt daher offen, welches Erklarungsmodell hinsichtlich des Verhaltens der Oma herangezogen wird, sodass sich die Zuschreibungen der Figur nicht klar dem Gender- oder Generationsaspekt zuordnen lassen.

[...]


1 Vgl. Pease und Pease 2019: Vorwort

2 Vgl. ebd.: Vorwort

3 Vgl. Schaaf 2012: Eine Kindheit ganz in Pink (16.01.2020)

4 Vgl. ebd.: Eine Kindheit ganz in Pink (16.01.2020)

5 Vgl. Allkemper 2018: 27

6 Vgl. Hattendorf : Literarische Texte - Lesen literarischer Texte (14.11.2019)

7 Vgl. Krah 2016: 47

8 Vgl. Hempfer 2018: 1

9 Vgl. Krah 2016: 47

10 Vgl. Röhner 1996: 108

11 Vgl. Brunner, Ebitsch (u.a.): Blaue Bücher, rosa Bücher. [...] (02.11.2019)

12 Vgl. ebd.: Blaue Bücher, rosa Bücher. [...] (02.11.2019)

13 Vgl. ebd.: Blaue Bücher, rosa Bücher. [...] (02.11.2019)

14 Vgl. Hamilton (u.a.): 759

15 Vgl. ebd.: 761ff.

16 Vgl. Grimm, Neef (u.a.) 2018: 102

17 Vgl. ebd.: 111

18 Vgl. Burghardt, Klenk 2017: 19

19 Vgl. ebd.: 19

20 Vgl. ebd.: 19

21 Vgl. ebd. : 19ff.

22 Vgl. Elstner 2003: 37

23 Vgl. Haug 2006: Risikogruppe Jungen (12.01.2020)

24 Vgl. Hohn/ u.a. 2013: 238f. u. Reiss/ u.a. (Hrsg.) 2016 : 8

25 Vgl. Hereth 2013: Gendersensibel Unterrichten - Gendersensibel lehren und lernen (02.11.2019)

26 Vgl. Wilking 2019: Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat (09.11.2019)

27 Schneider 2009 :89

28 Vgl. Enders-Dragasser 2009: 21

29 Vgl. Goffman 2001: 50f.

30 Vgl. Bartsch, Wedl 2015: 16

31 Vgl. Nieberle 2016: 19

32 Vgl. Butler 1990: 8ff.

33 Vgl. Reuter 2011: 9

34 Vgl. Wetterer 2010: 129

35 Vgl. Kaufmann 2002: 99

36 Vgl. Bartsch, Wedl 2015: 20

37 Vgl. Frederking 2013: 437

38 Vgl. Schilcher, Müller 2016: 26

39 Vgl. ebd.: 28

40 Vgl. Schneider 2009 :89

41 Vgl. Schilcher, Müller 2016: 27

42 Vgl. Breitenbach 2010: 154

43 Vgl. ebd.: 153

44 Vgl. ebd.: 155

45 Vgl. Rendtorff 2015: 42

46 Vgl. Böhnisch 2017: 51

47 Vgl. ebd.: 52f.

48 Vgl. Six-Materna, Six: Stereotype - Lexikon der Psychologie (14.11.2019)

49 Vgl. Enders-Dragasser 2009: 32

50 Vgl. Schilcher, Müller 2016: 15

51 Vgl. Schneider 2009: 89f.

52 Vgl. Kapitel 1.2: 7

53 Vgl. Meuser 2005: 309

54 Vgl. Budde, Faulstrich-Wieland 2005, S. 41

55 Vgl. Flaake 2006: 38

56 Vgl. ebd.: 36

57 Vgl. Bartsch, Wedl 2015: 14

58 Vgl. Flaake 2006: 37

59 Vgl. ebd.: 38

60 Vgl. Schilcher, Müller 2016: 29

61 Vgl. Gildemeister 2004: 133

62 Vgl. Butler 1991: 22

63 Vgl. ebd.: 23f.

64 Vgl. Gildemeister 2004: 137

65 Vgl. ebd.: 137

66 Vgl. ebd: 140

67 Vgl. Guse 2015: S. 338f.

68 Vgl. Gugutzer 2015: 88f.

69 Vgl. Guse 2015: S. 338f.

70 Vgl. Budde 2006: 46

71 Vgl. ebd.: 46

72 Vgl. ebd.: 47f.

73 Vgl. Hirschauer 1994: 672

74 Vgl. Guse 2015: S. 341

75 Vgl. Budde 2006: 58

76 Vgl. ebd.: 58

77 Vgl. ebd.: 58

78 Vgl. ebd.: 58

79 Vgl. ebd.: 58

80 Vgl. Thiessen 2005: 255

81 Vgl. Bartsch, Wedl 2015: 20

82 Vgl. Rendtorff 2015: 44

83 Vgl. Schilcher, Müller 2016: 30

84 Vgl. ebd.: 29

85 Vgl. Krah 2016: 45

86 Vgl. ebd.: 45

87 Vgl. Titzmann 1991: 399

88 Vgl. Krah 2016: 46

89 Vgl. ebd.: 48f.

90 Vgl. ebd.: 48f.

91 Vgl. ebd.: 46

92 Vgl. ebd.: 47

93 Vgl. ebd.: 47

94 Vgl. ebd.: 47f.

95 Vgl. ebd.: 47f.

96 Vgl. Titzmann 1991: 399

97 Vgl. Krah 2016: 47f.

98 Vgl. ebd.: 53

99 Vgl. ebd.: 54

100 Vgl. ebd.: 54

101 Vgl. Kling 2018: gesamtes Werk

102 Vgl. Krah 2016: 55

103 Vgl. Kling 2018: 9

104 Vgl. ebd.: 37f.

105 Vgl. ebd.: 30

106 Vgl. Maihofer, Böhnisch, Wolf 2001: 15

107 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren und Frauen und Jugend (Hrsg.) 2010: 7

108 Vgl. Kling 2018: 28

109 Vgl. ebd.: 29

110 Vgl. Gaspar, Birner 2013: 38

111 Vgl. Kling 2018: 9

112 Vgl. ebd.: 10f.

113 Vgl. o.V. Bertelsmann-Studie: Altere Menschen fühlen sich online unsicher (01.12.2019)

114 Vgl. Kling 2018: 12

115 Vgl. Höpfner : Teletext: Nicht totzukriegen (25.12.2019)

116 Vgl. Kling 2018: 17

117 Vgl. ebd.: 18

118 Vgl. ebd.: 58

119 Vgl. Dams: Nicht Frauen, sondern Manner sind der Technik-Tod (24.11.2019)

120 Vgl. Kling 2018: 50

121 Vgl. ebd.: 58

Ende der Leseprobe aus 80 Seiten

Details

Titel
Die Kategorie Gender in ausgewählten kinderliterarischen Texten. Förderung von Genderkompetenz in der Grundschule
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig  (Germanistik/Didaktik)
Note
2,7
Autor
Jahr
2020
Seiten
80
Katalognummer
V703448
ISBN (eBook)
9783346223470
ISBN (Buch)
9783346223487
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gender, Genderkompetenz, Doing Gender, Undoing Gender, Stereotype, Stigmatisierung, Gender Zeichen, Gender Träger, Hans Krah, Titzmann, Geschlechterrollen, Genderkritik
Arbeit zitieren
Cindy Herrmann (Autor:in), 2020, Die Kategorie Gender in ausgewählten kinderliterarischen Texten. Förderung von Genderkompetenz in der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/703448

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