Eine Frage der Perspektive

Das neurobiologische Verständnis von Willensfreiheit und Determinismus in soziologischer Bedeutung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1) Einführung

2) Begriffsbestimmung Determinismus

3) Die neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse
3.1) Das Libet-Experiment
3.2) Die Theorien von Wolf Singer und Gerhard Roth

4) Gegenreaktionen
4.1) Erwiderungen der Philosophie
4.2) Erwiderungen der Psychologie

5) Soziologische Konsequenzen
5.1) Gesellschaften und Determination
5.2) Werte, Normen und Schuld

6) Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1) Einführung

Hat der Mensch einen freien Willen oder ist er in seinen Entscheidungen und Verhaltensweisen determiniert? Anders gefragt: Sind wesentliche Grundannahmen über unser menschliches Weltbild eine Illusion? Auf diese - an sich philosophische Frage - glaubt nun seit einigen Jahren die Neurowissenschaft eine Antwort ge- funden zu haben.

Mit seinem Buch „Ein neues Menschenbild?“[1] hat der Neurophysiologe Prof. Wolf Singer eine öffentliche Diskussion entfacht, die weit über die Kreise der Wissen- schaft hinausgeht und auch in den Medien einen breiten Widerhall findet. Zusammen mit dem Biologen Prof. Gerhard Roth behauptet Singer, dass der freie Wille – im traditionellen und alltäglichen Verständnis – nicht existiert. Vielmehr sei alles Wollen, Wissen und Handeln ein Ergebnis der neurobiologischen Disposition[2] und der Mensch damit nicht in der Lage, sein „[…] Verhalten über Einsicht und Willen zu ändern.“[3]

Naturgemäß haben diese - zum Teil bewusst provokativ formulierten - Ausführungen heftige Reaktionen hervorgerufen, insbesondere bei Philosophen und Theologen, die sich mitunter auch über den Vorstoß der Hirnforschung auf ihr ureigenes Terrain überrascht zeigten. Aber auch andere wissenschaftliche Disziplinen, wie die Psychologie, die Rechtswissenschaft und nicht zuletzt die Soziologie sind von den Konsequenzen dieser Diskussion betroffen.

Im folgenden soll nun erläutert werden, welches Weltbild Singer, Roth und andere Vertreter des Determinismus propagieren, wie ihre Gegner - u.a. so prominente Persönlichkeiten wie Jürgen Habermas - darauf reagieren und wie die Diskussion in den Medien möglicherweise verkürzt und verfälscht wiedergegeben wird.

Im Anschluss daran soll geklärt werden, wie die Sozialwissenschaften von dieser Debatte beeinflusst werden, welche Auswirkungen die neurobiologischen Theorien für die Konstitution unserer Gesellschaft hätten. Schlussendlich soll die Frage beleuchtet werden, ob die Ergebnisse der Hirnforschung tatsächlich im absoluten Widerspruch zu unserem menschlichen Selbstverständnis in Geschichte und Gegenwart stehen, oder ob die Aussagen dieser beiden scheinbar unversöhnlichen Lager aus der interdisziplinären Perspektive möglicherweise relativierbar sind.

2) Begriffsbestimmung Determinismus

Der Begriff des Determinismus entstand historisch in der klassischen Mechanik und der Naturphilosophie und beschreibt die Festlegung physikalischer Systeme bei vollständig gegebenen Bedingungen. Ein echter Zufall ist demnach ausgeschlossen. In der Wissenschaftstheorie ist er für die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik und die Wahrscheinlichkeitstheorie relevant. Jenseits der Naturwissenschaften fand das deterministische Modell seit dem 17. Jahrhundert auch in der Anthropologie und der Staatsphilosophie Verwendung. Immanuel Kant beschäftigte sich unter diesen Voraussetzungen mit dem Problem der Willensfreiheit, welches nach ihm nur im Bereich der praktischen Philosophie gelöst werden kann.[4]

Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen einem allgemeinen Determinismus, der sich auf das Weltgeschehen an sich bezieht, und dem persönlichen Determinismus, der die Vorherbestimmtheit des Menschen durch äußere und innere Einflüsse bezeichnet, somit im Gegensatz zur Willensfreiheit steht und im folgenden hier behandelt wird.

3) Die neurowissenschaftlichen Forschungsergebnisse

3.1) Das Libet-Experiment

Am Anfang der Darstellung des aktuellen Stands der Hirnforschung und der daraus gefolgerten neurophilosophischen Thesen, soll ein vieldiskutiertes Experiment aus dem Jahr 1979[5] dienen, welches gewissermaßen eine Art „Startschuss“ für die heutige deterministische Dekonstruktion des freien Willens mit neurologischer Argumentation geliefert hat.

Der amerikanische Neurophysiologie Benjamin Libet verfolgte mit seinem Versuch das Ziel, möglichst exakt festzustellen, in welchem Verhältnis die bewusste Intention - also die Willensentscheidung - zur zerebralen Aktivität (dem sog. Bereitschaftspotential) steht.[6] Dabei ging er folgendermaßen vor: Seine Ver- suchpersonen erhielten die Instruktion, einen Finger ihrer rechten Hand zu einem selbst gewählten Zeitpunkt zu krümmen, während Libet mittels eines Elektroenzephalogramm (EEG) die Hirnströme und durch ein Elektromyogramm (EMG) die Muskelaktivität der Probanden überwachte. Dabei sollten diese sich auf einer mitlaufenden Uhr exakt den Zeitpunkt merken, zu der sie die Entscheidung getroffen, bzw. den Befehl gegeben hatten. Das unerwartete Resultat: Bereits eine halbe Sekunde vor der bewussten Entscheidung registrierte das EEG im entsprechenden motorischen Areal des Gehirns Aktivitäten.[7] „Der Willens- entschluss konnte daher nicht die Ursache der Bewegung sein, die schon zuvor durch das Bereitschaftspotential eingeleitet worden ist.“[8]

Libet allerdings, der durch das Ergebnis des Experiments die Willensfreiheit in Frage gestellt sah - obwohl es sein eigentliches Ziel war, eben diese zu beweisen - sprach in seinen anschließenden Kommentaren dem Bewusstsein eine Art „Vetofunktion“ zu: Seine weiteren Experimente hatten gezeigt, dass ein Bewegungspotential nicht zwangsweise zu einer Handlung führen muss, sondern bis ca. 150 ms vor der Muskelaktivierung abgebrochen werden kann. Dieses Veto selbst erfolgt laut Libet nicht auf unbewusster Ebene, sondern wird vielmehr als Kontrollfunktion durch den bewussten Willen ausgeübt.[9]

Kritik an dem Experiment und Libets Schlussfolgerungen zielen in gegensätzliche Richtungen: Einige - wie Gerhard Roth, auf den im Folgenden noch näher eingegangen wird - betrachten seine Schlussfolgerungen als nicht radikal genug und meinen, Libet stelle seine persönlichen Erwartungen über die Fakten. Andere behaupten, weder das Ziel des Versuches, noch seine Methodik seien dazu geeignet, Aussagen über Willensfreiheit zu treffen. Auf komplexe moralische Handlungen sei das Experiment nicht übertragbar.

Tatsächlich wiesen Libets Experimente methodische Mängel auf, allerdings wurden sie von den Neuropsychologen Haggard und Eimer später unter strenger angelegten Bedingungen wiederholt und dennoch vollständig bestätigt.[10]

3.2) Die Theorien von Wolf Singer und Gerhard Roth

Wolf Singer und Gerhard Roth zählen nicht nur zu den bedeutendsten Neurowissenschaftlern der Welt, sondern haben sich auch klar gegen die Idee des freien Willens im tradierten Verständnis ausgesprochen.

Prof. Wolf Singer ist Mediziner und seit 1981 Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut in Frankfurt am Main. 2004 war er Mitbegründer des Frankfurt Institute for Advanced Studies. Prof. Gerhard Roth ist Biologe, seit 1989 Direktor des Instituts für Hirnforschung an der Universität Bremen und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst. Der Bereich der Neurowissenschaften, den Singer und Roth maßgeblich mit auf den Weg gebracht haben wird als kognitive und emotionale Neurowissenschaften bezeichnet.

Ihre wissenschaftliche Vorgehensweise kann als Weiterentwicklung der Experi- mente von Libet, Haggard und Eimer angesehen werden. Sie kombinieren verschiedene Verfahren, wie EEG, Magnetenzephalographie (MEG) und die funktionelle Kernspintomographie (fMRI), um zu untersuchen „was im Gehirn passiert, bevor eine Versuchsperson ein bestimmtes Wahrnehmungserlebnis hat.“[11]

Durch ihre empirische und experimentelle Forschung am Gehirn stellten sie in einer langen Reihe von Versuchen fest, dass in dem Organ kein Zentrum existiert, in dem Informationen zusammenlaufen, Prozesse ausgewertet oder Entscheidungen getroffen werden. Es handelt sich beim Gehirn vielmehr um ein „extrem dezentral organisiertes System […], in dem an vielen Orten gleichzeitig visuelle, auditorische oder motorische Teilergebnisse erarbeitet werden.“[12] Die parallele kognitive Verarbeitung hat Vorteile für die Geschwindigkeit und die Kapazitätserweiterung bei Entscheidungsprozessen.[13] Das Bewusstsein hat sich mit unserem Gehirn, dabei fortwährend nach optimalen Verhaltensoptionen suchend, evolutionär entwickelt. In dessen Architektur wurden diese Muster genetisch eingeschrieben.[14]

Für Singer gibt es keinen Unterschied zwischen unbewussten und bewussten Entscheidungen, da sie alle auf identischen neuronalen Prozessen in der Großhirnrinde basieren und nur auf unterschiedliche Variablen zurückgreifen. Diese bestehen im zweiten Fall aus Inhalten aktueller oder früherer bewusster Wahrnehmung. Auch wenn das handelnde Subjekt (das Ich) dies glaubt, sind diese Variablen allein aber nicht maßgeblich. Nicht das Empfinden von Freiheit oder Unfreiheit, sondern die Herkunft und die Verhandlung der Variablen sind entscheidend: Genetische Faktoren, Lernvorgänge, Befehle, Wünsche und Argumente wirken stets untrennbar zusammen und bestimmen die dynamischen Zustände der Nervennetze.[15] Die als subjektiv empfundenen Phänomene Wahr-nehmen, Vorstellen, Erinnern, Entscheiden etc. können mit den immer feiner gewordenen neurobiologischen Messverfahren naturwissenschaftlich untersucht und beschrieben und somit objektiviert werden, wobei neuronale Prozesse auf kausale Verursachung zurückgeführt werden.[16] Demnach ist „der subjektiv empfundene Willensakt nicht die Ursache [für unsere Entscheidungen], sondern ein Bewusstseinskorrelat von Willkürhandlungen, die vom Gehirn vorbereitet und gesteuert werden.“[17]

Ein dualistisches Menschenbild, also eine Unterscheidung zwischen einer materiellen und einer immateriellen Welt, kann „mit bekannten Verfahren weder durch Nachdenken noch durch Experimentieren bewiesen oder falsifiziert werden.“[18] Obwohl solche Modelle die gesamte Geistesgeschichte durchziehen, sind sie laut Singer nicht ableitbar, sondern können nur behauptet werden - was sie unbrauchbar macht. Derartige Annahmen rückt er in den Bereich der Parapsychologie, die er lediglich als wenig robuste Füllmenge für Erkenntnislücken ansieht, denn er kennt „kein einziges Experiment zum Nachweis para- psychologischer Phänomene, das überzeugend gewesen wäre.“[19]

[...]


[1] Suhrkamp, Frankfurt 2003, ISBN 3-518-29171-8

[2] Vgl. Kotlorz: Das Gehirn des Menschen kennt keinen Präsidenten. Die Welt

(21.4.01)

[3] Vgl. Zewell: Früchte des Dialogs. Rheinischer Merkur 12/05

[4] Vgl. Mittelstraß (Hrsg.): Enzyklopädie der Philosophie und Wissenschaftstheorie. 2005,

Band 2, S. 167-168

[5] Vorläuferexperimente begannen bereits 1973, die Veröffentlichung des hier

besprochenen Experiments erfolgte 1983

[6] Vgl. Oeser: Das selbstbewusste Gehirn. Darmstadt 2006, S. 158

[7] Vgl. Lakotta: Die Natur der Seele. Der Spiegel 16/05, S. 184; Weber:

Neurophilosophie. Focus 7/04, S. 80

[8] Oeser: Das selbstbewusste Gehirn. Darmstadt 2006, S. 159

[9] Vgl. Ebenda

[10] Vgl. Roth: Wir sind determiniert. Die Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Geyer:

Hirnforschung und Willensfreiheit. Frankfurt 2004, S. 219

[11] Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise? In: Geyer:

Hirnforschung und Willensfreiheit. Frankfurt 2004, S. 71

[12] Singer in Traufetter/Grolle: Unser Wille kann nicht frei sein. Spiegel Special 4/03, S. 22

[13] Vgl. Linden: Neurophysiologische Grundlagen kognitiver Prozesse. In: Linden/Fleissner:

Geist, Seele und Gehirn. Münster 2004, S. 91

[14] Vgl. Singer: Entscheidungsgrundlagen. In: Linden/Fleissner (Hrsg.): Geist, Seele und

Gehirn. Münster 2004, S. 24

[15] Vgl. Ebenda, S. 25-27; Singer: Verschaltungen legen uns fest, in: Geyer Hirnforschung

und Willensfreiheit. Frankfurt 2004, S. 62-63

[16] Vgl. Singer: Verschaltungen legen uns fest, in: Geyer: Hirnforschung und

Willensfreiheit. Frankfurt 2004, S. 35

[17] Roth: Willensfreiheit und Schuldfähigkeit aus Sicht der Hirnforschung. In:

Gestrich/Wabel: Freier oder unfreier Wille? Berlin 2005, S. 47

[18] Singer: Verschaltungen legen uns fest, in: Geyer: Hirnforschung und Willensfreiheit.

Frankfurt 2004, S. 37

[19] Singer in Schulte v. Drach: „Der freie Wille ist nur ein gutes Gefühl“ Süddeutsche

(25.4.06)

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Eine Frage der Perspektive
Untertitel
Das neurobiologische Verständnis von Willensfreiheit und Determinismus in soziologischer Bedeutung
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Soziologie des Hirns
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
24
Katalognummer
V70084
ISBN (eBook)
9783638624190
ISBN (Buch)
9783638674010
Dateigröße
456 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Frage, Perspektive, Soziologie, Hirns
Arbeit zitieren
Christian Hesse (Autor:in), 2007, Eine Frage der Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/70084

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Eine Frage der Perspektive



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden