Die Kierkegaard-Rezeption in Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein"


Zwischenprüfungsarbeit, 2001

34 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Vorüberlegungen

2. Die Existenzphilosophie Søren Kierkegaards

3. Zur Kierkegaard-Rezeption im Gantenbein

4. Resümee

5. Bibliographie

1. Einleitung und Vorüberlegungen

Max Frischs Mein Name sei Gantenbein entstand in den Jahren zwischen 1960 und 1964. Es ist der dritte große Roman Frischs nach Stiller (1954) und Homo faber (1957) und bildet mit letzteren in dem Sinne eine Trilogie, als dass in diesen Prosawerken Frischs der Identitätsproblematik des Menschen eine dominierende Stellung zukommt, im Stiller und Gantenbein modellhaft thematisiert anhand der Ehe als zwischenmenschliche Beziehung, im Homo faber anhand eines auf eine technisierte und kontrollierte Umwelt Vertrauenden, dem dennoch ein unglaubliches Schicksal widerfährt, nämlich die Liebesbeziehung zu dessen eigener Tochter. Eng verbunden mit dieser Problematik der Selbstwerdung ist auch die oftmalige Widersprüchlichkeit von faktischer und erlebter Wirklichkeit der Figuren, also das Missverhältnis zwischen »innerer« und »äußerer« Realität.

Während im Stiller und Homo faber noch ein Romangeschehen im herkömmlichen Sinne zu verfolgen sind und der Leser – typisch für einen Illusionsroman – eingeladen wird, sich mit einer der Figuren zu identifizieren um so Mitwisser oder gar Mitspieler zu werden, ist davon im Gantenbein nichts mehr vorhanden. Die Ausgangsposition des Romans: ein Mann sitzt von der Ehefrau verlassen in der leeren Wohnung und fragt sich, was geschehen ist. Nun wird nicht das Geschehene faktisch rekonstruiert, sondern anhand von Überlegungen des Ich-Erzählers an fiktiven Figuren gespiegelt:

»Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein andrer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung…« (14)

Das Buch-Ich, dessen eigene Geschichte ungenannt bleibt, entwirft Varianten möglicher Existenzen, probiert »Geschichten an wie Kleider«. Enderlin, Svoboda und Gantenbein sind dabei seine Pseudonyme. Der Roman treibt ein Spiel mit der Fiktion und dieses Spiel wird dem Leser immer wieder offenkundig: »Ich stelle mir vor«, die stetig wiederkehrende Formel nimmt uns jede Möglichkeit, das Geschriebene für ein wirkliches Geschehen zu halten. Zumindest erzähltechnisch hat Frisch sich also von den Romanen Stiller und Homo faber entfernt. Beeinflusst und angeregt von Bertolt Brechts Prinzip der Verfremdung im Drama, versuchte Frisch, diese Idee der Verfremdung auf das Epische, auch auf seinen Gantenbein-Roman, zu übertragen. Frisch ging es dabei um die Verfremdung der Dinge, »damit sie nicht die Illusionswelt darstellen«[1] und er nennt diese Form der Erzählung denn auch das »Offen-Artistische Erzählen«, bei dem der Leser nicht mehr Teil des Geschehens wird, sondern gleichsam »draußen« bleibt und so von außen die Vorgänge erkennen kann.[2] Dies ist zugleich das Reizvolle dieses Romans. Wir erkennen das Leben nicht als die eine gelebte, genau vorgezeichnete Existenz, sondern als Summe aus oftmals zufälligen Handlungen. Verschiedene Entscheidungen lassen ebenso verschiedene Lebensentwürfe zu. Außerhalb des Romans sind Veränderungen der Entscheidungen jedoch nur im Rückblick auf das Geschehene möglich, somit können wir unsere Geschichte nicht durch Rückzug einer Entscheidung im Nachhinein beeinflussen. Diese Problematik greift Frisch später noch einmal in seinem Stück Biografie auf, in dem der Protagonist Kürmann die Chance erhält, sein Leben nochmals zu leben, indem er getroffene Entscheidungen revidieren kann.[3]

Diese zugegeben etwas längere Einführung ist sicherlich notwendig, ist doch Max Frischs Literatur im Allgemeinen und der Roman Mein Name sei Gantenbein im Besonderen nur schwer auf eine Thematik hin zu untersuchen. Die genannten Problemstellungen stehen in einer wechselseitigen Beziehung und können nicht isoliert betrachtet werden. Zielsetzung dieser Arbeit ist es, nach einer kurzen Darstellung der kierkegaardschen Philosophie, den Roman auf das von Hans Mayer[4] angesprochene und später von Anderen aufgegriffene »geheime Kierkegaard-Thema« hin zu untersuchen. Vorwegnehmend kann hier schon festgehalten werden, dass im Roman zwar eine Kierkegaard-Rezeption vorhanden ist, im Gegensatz zum Stiller oder zur Komödie Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie jedoch nur noch in Ansätzen.

Bei der Untersuchung der einzelnen Figuren werde ich mich allerdings auf Gantenbein und Enderlin beschränken, da die Figur des Frantisek Svoboda kaum mit kierkegaardschen Strukturen in Verbindung zu setzen ist. Hier würde eine Interpretation zu unverbindlich bleiben.

2. Die Existenzphilosophie Søren Kierkegaards

Kierkegaards Philosophie war gegen die systematische Philosophie Hegels gerichtet, welche die Widersprüche des Lebens, Thesen und Antithesen, aufhebt und auf eine höhere Einheit, die der Synthese, zurückführt. Für Kierkegaard war die Einbeziehung und vor allem die Bindung des Individuums in seiner Philosophie vorrangig. So wäre es sicherlich legitim, weniger von einer Philosophie im herkömmlichen Sinne zu sprechen, die zumeist bloße Theorie bleibt, sondern von einer auf persönlicher Erfahrung beruhender Anschauung eines lebendigen Christentums. Denn der Kern kierkegaardschen Denkens bildet die Beziehung des Menschen »vor Gott« und alles richtet sich auf die Frage, wie man Christ wird. Ein vom Menschen selbst geschaffenes Gesetz ist nicht bindend, seine Wahrheit kann immer angezweifelt und angefochten werden. Folglich hilft es dem Individuum nicht bei existenziellen Entscheidungen, so dass wir ein äußeres Gesetz, nämlich den Glauben, als Verbindlichkeit anerkennen müssen. Doch genau hier liegt die Schwierigkeit, denn der religiöse Glaube ist rational nicht fassbar und fordert vom Individuum somit den Sprung vom Bekannten ins Unbekannte. Bevor ein Mensch jedoch diesen Schritt hin zum Glauben vollziehen kann, muss er zunächst sich Selbst annehmen. Diese Selbstwahl bedeutet nichts anderes, als dass der Mensch danach strebt, er selbst zu werden.

Was aber bedeutet dieses Selbst bei Kierkegaard? Zunächst gilt festzuhalten, dass die Person gleichgesetzt wird mit selbst, weiter: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.«[5] Person wird also nicht durch sich selbst bedingt, ist also keine in sich ruhende Existenz, sondern ein Verhalten, und zwar eines zu sich selbst. Dieses Verhalten ist ein Akt, eine Stellungnahme und Person ist, soweit dieser Akt ist. Dabei ist jedoch nicht nur von Bedeutung, dass dieser Akt getan wird, sondern dass er richtig getan wird. Zudem hat das Verhältnis sich nicht selbst gesetzt, ist nicht eigenseiend – dies ist nur Gott – und muss demnach durch ein Anderes gesetzt sein. Das Selbst steht somit noch in Relation zu einem Weiteren, nämlich Gott.

Kierkegaard nennt uns drei Stadien der menschlichen Existenz, das ästhetische, das ethische und zuletzt das religiöse Stadium. Der ästhetische Mensch, in den Schriften Kierkegaards ist es immer wieder der Romantiker, bindet sich niemals an zurückliegende Entscheidungen, er lebt sozusagen ohne selbstgesteuerte Entwicklung auf ein bestimmtes Ziel.

Im Gegensatz dazu verpflichtet sich der ethische Mensch durch die verbindliche Annahme seiner früheren Entscheidungen und will somit seine eigene Entwicklung.

Zum religiösen Stadium gelangt das Individuum schließlich, wenn es bei sich selbst angekommen ist, also absolute Innerlichkeit erreicht hat. Dazu muss es resignieren, gewollt der äußeren Wirklichkeit entsagen und sein Denken und Handeln auf ein höheres Ziel ausrichten. Von dort gelangt der Mensch zur wahren Wiederholung. Indem er die Vergangenheit als seine erkennt und bewusst zu einem Teil seines Selbst macht, kann er diese Geschichte zu seiner Gegenwart und Zukunft machen. Er ist also im Begriff, sich selbst zu wählen, um danach den Sprung in den Glauben zu wagen.

3. Zur Kierkegaard-Rezeption im Gantenbein

Die mit Abstand wichtigsten Arbeiten zur Kierkegaard-Rezeption im Gantenbein[6] sind die Dissertation von Wolfgang Stemmler[7] und ein Aufsatz von Heinz Gockel[8]. Andere Abhandlungen thematisieren zwar kierkegaardsches Gedankengut in Max Frischs Werken, beachten dabei aber meist nur den Stiller-Roman.[9]

Hans Mayers bereits erwähnte Rezension von 1964 spricht von einem »geheimen Kierkegaard-Thema« im Roman und dieses habe »mit der Frage zu tun, ob Leben als eine rein ästhetische Existenz möglich sei«. Mayer charakterisiert die Figur Gantenbein als »parasitäre Existenz«, als »ausgehaltener armer Blinder«, und macht dies an deren »arbeitslosen, rein genießenden Existenz« fest. Gantenbeins Rollenspiel sei nur möglich dank einer von finanziellen Sorgen befreiten, vom Erzähler gesetzten Romanwelt. Einerseits darf man hier nicht verkennen, dass es sich lediglich um eine Rezension handelt und eine ausführliche Beschäftigung mit der Thematik nicht Zielsetzung war. Andererseits verkennt Mayer, so die Kritik Gockels, die Bedeutung der Bemerkung Gantenbeins »Ich lasse mich von Lila aushalten« (135), die eben nicht eine parasitäre Existenz kennzeichne, sondern im Wesentlichen Voraussetzung für das perfekte Täuschungsmanöver Gantenbeins sei. So konstatiert Gockel denn auch: »Die materielle Komponente ist nicht Symptom einer ästhetischen Existenz, sondern ein im Romanzusammenhang funktionell verankertes Strukturelement.«[10] Er sieht die Bestimmung des ästhetischen Daseins Gantenbeins in der Beziehung zu Lila und vergleicht diese Konstellation mit dem Tagebuch schreibenden Johannes aus dem ersten Teil Kierkegaards Entweder - Oder. Hier finden wir eine ähnliche Abhängigkeit der Liebenden:

[...]


[1] Vgl. hierzu Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Max Frisch, in: Ders.: Gespräche mit Schriftstellern, München 1975, S. 27.

[2] Max Frisch schreibt 1948 eine Reminiszenz zu Brechts programmatischen Äußerungen in dessen Manuskript Kleines Organon für das Theater und sieht den Verfremdungseffekt als Verlockung für den erzählenden Schriftsteller, eben weil das Offen-Artistische »die Einfühlung verhindert, das Hingerissensein nicht herstellt, die Illusion zerstört, nämlich die Illusion, daß die erzählte Geschichte wirklich passiert sei usw.«. Siehe Max Frisch: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt a. Main 1950, S. 293 f. Zur Erzählstruktur im Roman vgl. Heinz Gockel: Das »Offen-Artistische«, in: Ders.: Max Frisch. Gantenbein – Das Offen-Artistische Erzählen, Bonn 1976 (=Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 211), S. 38-53. Siehe auch Doris Fulda Merrifield: Max Frischs »Mein Name sei Gantenbein«: Versuch einer Strukturanalyse, in: MfdU 60 (1968), S. 155-166.

[3] Max Frisch: Biografie: Ein Spiel, Frankfurt a. Main 1967. Dem Stück ist einleitend ein Zitat aus Anton Tschechows Drei Schwestern als Motto vorangestellt: »Ich denke häufig; wie, wenn man das Leben noch einmal beginnen könnte, und zwar bei voller Erkenntnis? Wie, wenn das eine Leben, das man schon durchlebt hat, sozusagen ein erster Entwurf war, zu dem das zweite die Reinschrift bilden wird! Ein jeder von uns würde dann […] bemüht sein, vor allem sich nicht selber zu wiederholen […].«

[4] Hans Mayer: Mögliche Ansichten über Herrn Gantenbein. Anmerkungen zu Max Frischs neuem Roman, in: Die Zeit v. 18. September 1964. Mayers Rezension spricht erstmals das Kierkegaard-Thema in Mein Name sei Gantenbein an und bildet Diskussionsgrundlage einiger Aufsätze zum Thema.

[5] Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, übers. v. Emanuel Hirsch, Düsseldorf 1954, S. 8.

[6] Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein, Frankfurt a. Main 1964. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.

[7] Wolfgang Stemmler: Max Frisch, Heinrich Böll und Sören Kierkegaard, Diss. München 1972, darin: Problematik und Gestaltung der Geschichtlichkeit in »Mein Name sei Gantenbein«, S. 77-106.

[8] Heinz Gockel: Ein geheimes Kierkegaard-Thema, in: Ders.: Max Frisch. Gantenbein – Das offen-artistische Erzählen, a.a.O., S. 122-140.

[9] Zu nennen sind hier Holger Stig Holmgren: Kierkegaard und Max Frischs Roman »Stiller«. Kommentar zu einer Diskussion, in: Orbis Litterarum 36 (1981), S. 53-75, Josef Imbach: Entfremdung als Identitäts- und Transzendenzverlust. Kierkegaard als Schlüssel für eine theologische Interpretation von Max Frischs Roman »Stiller«, in: Geist und Leben 52 (1979), S. 133-146 und Philip Manger: Kierkegaard in Max Frisch's Novel »Stiller«, in German Life & Letters 20 (1966), S. 119-131.

[10] Heinz Gockel: Ein geheimes Kierkegaard-Thema, a.a.O., S. 123.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Die Kierkegaard-Rezeption in Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein"
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Veranstaltung
Thematisches Proseminar "Max Frischs Spätwerk: 'Mein Name sei Gantenbein'"
Note
1,3
Autor
Jahr
2001
Seiten
34
Katalognummer
V69749
ISBN (eBook)
9783638622370
ISBN (Buch)
9783638673730
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Arbeit mit breitem Rand (Anm. der Red.)
Schlagworte
Kierkegaard-Rezeption, Frischs, Mein, Name, Gantenbein, Thematisches, Proseminar, Frischs, Spätwerk, Mein, Name, Gantenbein
Arbeit zitieren
Dirk Bessell (Autor:in), 2001, Die Kierkegaard-Rezeption in Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69749

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