Mutterfiguren und Muttermythen in Michel Houellebecqs Elementarteilchen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einführung

2. Abriß der sozialhistorischen Genese von Mütterlichkeit und Mutterliebe

3. Mutterfiguren in Elementarteilchen
3.1. Die „lieblose“ Mutter
3.2. Die Großmütter als weibliches Ideal
3.3 Annabelle und Christiane: Ersatzmütter auf Zeit
3.3.1 Annabelle
3.3.2 Christiane

4. Fazit

5. Literaturnachweis

1. Einführung

Die Darstellung der menschlichen Geschlechtlichkeit in Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen hat nicht nur europaweit für Aufregung, sondern auch für nicht weniger Verwunderung gesorgt: „Was ist das für eine Zeit, in der ein Typ zum Idol wird, der das Gefühl des männlichen Versagens angesichts »emanzipierter Frauen« in Stärke verkehrt, Drastik kultiviert und seine sexistische Wahrnehmung von Frauen als solche ausstellt“[1], fragt Mirjam Schaub bezüglich der Reduktion der weiblichen Romanfiguren auf ihren Körper und ihren sexuellen Tauschwert - eine Verstörung, welche sich nicht nur durch die immanente Position erklärt, zu welcher Houellebecq die Frauen seines Romans verurteilt, sondern v.a. auch durch die große Verbreitung und die Zustimmung, welche der Roman in seiner Rezeption erhalten hat. Ungeachtet dessen, wie man persönlich zu den Elementarteilchen steht, muß festgehalten werden, daß der Roman somit sowohl Seismograph als auch Teilhaber des aktuellen Geschlechterdiskurses ist.

Die feministische Kritik, wie sie sich in den wenigen, deutschsprachigen Publikationen zu Elementarteilchen präsentiert, konzentriert sich im Wesentlichen auf Houellebecqs vielfältige Darstellung der männlichen Sexualität und der meist impliziten Objektsetzung der Frau als bspw. „Lutschmäulchen“, „Schlampe“ oder, wie im Falle Annicks, Brunos flüchtiger Urlaubsbekanntschaft, als zwar „keine Schönheit“, aber Trägerin einer „anziehenden Möse, einer ebenso anziehenden Möse, wie die jeder Frau“[2]. Einen weiteren großen Bereich der feministischen Literaturkritik jedoch, nämlich die Darstellung von Frauen in ihrer sozialen Funktion als Mutter, sparen diese Veröffentlichungen überraschenderweise aus.

Dieses Versäumnis soll mit vorliegender Arbeit nachgeholt werden. Ausgehend von der These, daß dem Roman hinter der erzählten Handlung und seiner Kapitalismus- und Individualisierungskritik ein Subtext zugrunde liegt, welcher die Männer des Romans als auf permanenter Sehnsucht und Rückkehr zum Mutterschoß zeichnet, soll gezeigt werden, wie das Bild der Mutter bzw. mütterlicher Verhaltensweisen und Prinzipien vom Autor überhöht und als ahistorischer Naturzustand der Frau mythisiert werden.

Bevor im anschließenden Kapitel sozialhistorische Mutterkonzepte in angemessener Kürze dargestellt werden, werden die wesentlichen Frauengestalten des Romans, Janine als leibliche Mutter von Bruno und Michel, die Großmütter der Halbbrüder und Annabelle und Christiane als späten Mutterersatz, in ihrer Funktion als Repräsentanten überkommener Mutterbilder bzw. der Verweigerung derselben nachgezeichnet und analysiert.

2. Abriß der sozialhistorischen Genese von Mütterlichkeit und Mutterliebe

Ein grundlegendes Kennzeichen patriarchalischer Gesellschaften ist, wie Simone de Beauvoir aufgezeigt hat, die Konstitution der Frau als „das Andere“ in Gegenüberstellung zum männlichen Subjekt[3]. Im Zuge der Entstehung der bürgerlichen Kleinfamilie im 18. Jahrhundert und der Trennung von Privat- und Arbeitssphäre, kommt es zu einer arbeitsteiligen Neudefinition dieser Geschlechtertrennung, nach welcher der Mutter die alleinige Zuständigkeit für die Kindeserziehung zufällt. Diese Geschlechterteilung wird abgeleitet aus der weiblichen Gebärfähigkeit, im Sinne einer biologischen Fähigkeit (und somit auch Verpflichtung) zu reproduktiven Tätigkeiten aller Art.

Im Rahmen der aufkommenden Industrialisierung und neuer bürgerlichen Werte erfährt die Mutterrolle eine starke Emotionalisierung: Zum einen ist es Aufgabe der Mutter „Kinder und Ehemann gegen die »kalte, rationale« Außenwelt durch Wärme und Gemütlichkeit im privaten Rahmen abzupuffern“, zum zweiten setzt sich die bürgerliche Idee eines intimen, liebevollen und zeitintensiven Mutter-Kind-Kontakts als Grundlage für eine gesunde, sprich: gesellschaftliche Funktionsfähigkeit garantierende Entwicklung durch. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts „wird Mutterliebe nicht mehr als erlernbar gedacht, sondern ist eine intrapsychische Struktur der Frau“[4], an deren „kindergerechte“ (d.h. v.a. diskurskongruente) Erfüllung in zunehmendem Maße medizinisch-wissenschaftliche Literatur männlicher Autoren appelliert. Das Konzept natürlicher Mütterlichkeit widersprach durchaus nicht den Werten der aufkommenden, frühen Frauenbewegung und findet in der Arbeitsteilung im öffentlichen Sektor seine Fortsetzung, indem Frauen vorrangig Berufe ausübten wie Fürsorgerin, Armenpflegerin und v.a. Lehrerin.

Mit Aufkommen und Ausdifferenzierung der Psychoanalyse wird Mutterliebe zunehmend ersetzt durch die Idee einer Mutterpflicht, im Sinne der totalen Selbstaufopferung der Frau für ihr Kind. Der Mythos der Mutterliebe verschwindet jedoch nicht, so daß sich aus der Mutterpflicht, deren Erfüllung als ein reines Vergnügen und persönliche Bereicherung erlebbar sein mußte, eine stete Quelle für Schuldgefühl und -zuweisung ergab. „Eigeninteressen der Mutter wurden interpretiert als zu starke männliche Identifikation, als verdrängter Penisneid, der für primäre Mütterlichkeit wenig Raum lasse“[5], was der Frau in ihrer Rolle als Mutter ein ausgeprägtes Über-Ich geradezu verordnet und sie in einen Prozeß der permanenten Selbstkontrolle ihrer unbewußten Gefühle zwängt[6].

Die so verinnerlichte Norm der alleinigen Zuständigkeit und bedingungslosen Liebe der Mutter für die Kinder bleibt auch im 20. Jahrhundert, v.a. in Folge einer intensiven Piaget-Rezeption, im Wesentlichen bestehen[7].

3. Mutterfiguren in Elementarteilchen.

Einer der häufigsten Vorwürfe, welcher gegen Elementarteilchen hervorgebracht wurde, ist die „Rücksichtslosigkeit, mit der [...] antimoderne Einwände gegen das moderne Leben“[8] im Roman erhoben werden, was von einigen Autoren und Feuilletonisten als Rückfall in einen kruden Kulturatavismus gesehen wird[9]. Und tatsächlich verwundert dieser Einwand nicht, wenn man betrachtet, wie unter dem Deckmantel der Kulturkritik moderner Individualisierung der Autor permanent versucht, die „verschobenen“ Geschlechterrollen wieder an ihren angestammten Platz zu rücken, welche durch die Verlockungen einer kapitalistischen Warenwelt durcheinander geraten zu sein scheinen. Besonders augenscheinlich wird dies in der Überhöhung der „weiblichen Natur“, als „zärtlicher, liebevoller, mitfühlender [...und...] weniger zu Gewalttätigkeit, Egoismus, Selbstbehauptung, Grausamkeit“[10] neigend. Hier wird unter Rückgriff auf bürgerliche Konnotationen der Frau als ein emotionsbetontes und v.a. die persönliche Entwicklung hinten anstellendes, also selbstaufopferndes Wesen, ein Bild des So-Seins der Frau reproduziert, welches seine Entsprechung im Mythos der Mutter findet. Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist dies nicht der einzige Rückgriff Houellebecqs auf bürgerliche Mutterschaftsideale des 19. Jahrhunderts:

3.1 Die »lieblose« Mutter

„Die emotionale Bindung [zwischen Mutter und Kind; Anm.d.Verf.] fördert die kindliche Entwicklung und wirkt sich stabilisierend auf die Gesellschaft aus, indem sie durch Einübung der erwünschten Affektstrukturen auf das [...] bürgerliche Leben vorbereitet“[11]. So beschreibt Renate Dernedde die erzieherische Mutterrolle der Frau gegenüber ihren Kindern (faktisch v.a. ihren Söhnen) zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Was aber passiert, wenn die Mutter sich der Reproduktion gesellschaftsfähiger Söhne verweigert? Michel Houellebecq gibt hierauf bereits im ersten Absatz seines Romans Antwort. In einer Anspielung an die (seiner Meinung nach wohl verratenen) Ideale der Französischen Revolution, bemerkt er, daß Michel, einer der beiden halbverschwisterten Protagonisten des Romans, in einer Zeit aufwuchs, in welcher „Gefühle wie Liebe, Zärtlichkeit und Brüderlichkeit [...] weitgehend verschwunden“[12] waren. Bedient man sich einer Lesart, in welcher dieser Satz eine Verknappung des Leben Janines, der Mutter von Michel und Bruno, darstellt, so findet sich darin die simple Ursache für das rohe, wilde, als barbarisch und aggressiv beschriebene Verhalten der Männer des Romans in einer Losung, welche Houellebecq im Fortlauf des Romans selbst als Kapitelüberschrift wählt: Die Frauen sind an allem schuld; „Caroline Yessayan ist an allem schuld“[13]. In dem Maße, wie sich die Frauen ihrer Erziehungspflicht entziehen und ihren Kindern „Liebe“ und „Zärtlichkeit“ vorenthalten, verroht die Gesellschaft, entstehen Rivalitäten und wird „ Brüder lichkeit“ unmöglich. Was, positiv gewendet, die Frau in ihrer Rolle als Mutter aufzuwerten scheint, nämlich die Fähigkeit, ihre animalischen Söhne zu zivilisieren, katapultiert die Frau geradewegs in einen Schuldkomplex, welcher sie an Heim und Herd fesselt.

Wie sich dieser Sachverhalt, nämlich das Ablehnen der normativen Mutterrolle oder die Verweigerung der mütterlichen Zuneigung einem Mann gegenüber, in Elementarteilchen manifestiert, soll nun im Folgenden anhand der Gestalt der Janine, dargestellt und analysiert werden.

Janine ist eine „Rabenmutter“[14]. Anstatt sich der fürsorglichen Pflege ihrer, in beiden Fällen ungeplanten Söhne, hinzugeben, sucht sie spirituelle und v.a. sexuelle Selbstverwirklichung in der New Age Bewegung der 1960er und 70er Jahre und überläßt deren Erziehung den jeweiligen Großmüttern bzw. wie im Fall Brunos, staatlichen Institutionen. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß sich Janine im Laufe des Romans in Jane umbenennt. Sie wird somit zur einzigen aktiven weiblichen Kraft, welche selbständig eine kulturelle Umdeutung vornimmt und sich somit als einzige Frau des Romans (zumindest in diesem Punkt) im Beauvoirschen Sinne transzendiert und ihren Objektstatus verläßt[15]. Diese Infragestellung tradierter Rollenbilder scheint Houellebecq nicht dulden zu können und so wird „ihr elterliches Desinteresse [...] in Elementarteilchen zum Ursprung der Liebesunfähigkeit ihrer beiden Söhne“[16] und ihre Darstellung eine konsequent geführte, negative Attribution. Wenngleich allen Figuren des Romans gemein ist, eher formelhafte Fallbeispiele als „wahre“ Charaktere zu sein, so bietet doch keine andere Figur ein so geringes Identifikationsangebot wie Janine. Verbleibt dem Leser für die Großmütter eine distanzierte Sympathie, für Bruno und Michel immerhin noch Mitleid, so beschwört Janines Darstellung allenfalls Verachtung herauf; Janine weigert sich den Weg des Mütterlichen, des Heiligen einzuschlagen und muß deshalb eine Existenz als Hure fristen. Verstärkt wird dieser verächtliche Eindruck, indem Janine zwei Männer als Väter der Halbbrüder an die Seite gestellt werden, welche zumindest phasenweise anrührige Gefühle und Verantwortungsbewußtsein für ihr Kind entwickeln, und somit als „die Guten“ zu gelten haben. Daß sich auch die Väter nicht um ihre Söhne kümmern, ist dem Text zwar implizit, wird aber nie direkt benannt. Der elterliche Mangel Michels und Brunos wird so zu einem mütterlichen Mangel.

[...]


[1] Schaub, Mirjam: „Die Feigheit des Affekts“, S. 45 in: Steinfeld, Thomas (Hrsg.): „Das Phänomen Houellebecq“, Köln 2001, S. 33-53.

[2] Houellebecq, Michel: „Elementarteilchen“, Köln 2003, S. 84.

[3] Vgl.: Beauvoir, Simone de: „Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau“, Hamburg 2000.

[4] Dernedde, Renate: „Mutterschatten – Schattenmütter“, Frankfurt a.M. 1994, S. 37.

[5] Schütze, Yvonne: „Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters »Mutterliebe«“, Bielefeld 1986, S. 30.

[6] Vgl.: Dernedde, Renate: „Mutterschatten – Schattenmütter“, Frankfurt a.M. 1994, S. 40f.

[7] Vgl.: Dernedde, Renate: „Mutterschatten – Schattenmütter“, Frankfurt a.M. 1994, S. 41f.

[8] Steinfeld, Thomas: „Einleitung“, S. 21 in: Steinfeld, Thomas (Hrsg.): „Das Phänomen Houellebecq“, Köln 2001, S. 7-26.

[9] Vgl.: Steinfeld, Thomas (Hrsg.): „Das Phänomen Houellebecq“, Köln 2001.

[10] Houellebecq, Michel: „Elementarteilchen“, Köln 2003, S. 186f.

[11] Dernedde, Renate: „Mutterschatten – Schattenmütter“, Frankfurt a.M. 1994, S. 36.

[12] Houellebecq, Michel: „Elementarteilchen“, Köln 2003, S. 7.

[13] Ebd., S. 57.

[14] Ebd., S. 70.

[15] Vgl.: Beauvoir, Simone de: „Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau“, Hamburg 2000.

[16] Witzel, Tanja: „Frauenbild und Geschlechternivellierung in Elementarteilchen“, Bonn 2002 (unveröffentl. Manuskript), S. 9.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Mutterfiguren und Muttermythen in Michel Houellebecqs Elementarteilchen
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V69709
ISBN (eBook)
9783638621489
Dateigröße
455 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mutterfiguren, Muttermythen, Michel, Houellebecqs, Elementarteilchen
Arbeit zitieren
Magister Artium Markus Weber (Autor:in), 2004, Mutterfiguren und Muttermythen in Michel Houellebecqs Elementarteilchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/69709

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