Von Wagner kommend, zu Wagner kehrend - Verismo als theatraler Akt


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2002

13 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Zur Entwicklungsgeschichte

2. Richard und Ruggiero

3.Wirklichkeit und Spiel

4. Drastische Wahrheit

5. Veristisches Künstlerdrama

6. Deutscher Verismo nach Wagner

1. Zur Entwicklungsgeschichte

Die Geschichte der Oper ist eine Geschichte ihrer Reformen, ihrer Wellen, ihrer zyklischen und antizyklischen Verknüpfungen.

Folgt man der lexikalischen Erklärung des Begriffes Verismo, so ist dieser zunächst ein Synonym für den italienischen Naturalismus in Drama, Literatur und bildender Kunst seit den 1880er Jahren bis zu Beginn des 20.Jahrhunderts.

Der neuen Kunstform des Verismo vorausgegangen war die Romantik, die ihrerseits die Klassik abgelöst hatte, mit ihren realen Situationen und realem Umfeld, gemessen am humanistischen Ideal nach dem Vorbild der Antike. Die Romantik war die künstlerische Antwort auf die Folgen der französischen Revolution, Ausdruck einer Realitätskrise. Das Bürgertums war enttäuscht über den gescheiterten Emanzipationsprozess, bei dem die Utopie verlorenging. Da die bürgerlichen Ideale aufgebraucht waren, setze eine emotionale und geistige Fluchtbewegung aus der Realität ein. Die Verzweiflung an der Realität gebar die Welt der Märchen und Sagen neu, in der die Wirklichkeit nicht mehr realistisch wiedergegeben wird. Das Bewußtsein des Scheiterns der bürgerlichen Werte evozierte ein erneuertes feudales Prinzip der Lustbarkeit, das sich der bürgerlichen Tätigkeit verweigerte.

Wie fast immer, so hinkte das Musiktheater auch beim Verismo den Entwicklungen der Literatur und Malerei hinterher. Verismo als eine Stilrichtung der Musikbühne, die in ihren Opern ein wirklichkeitsgetreues Abbild des menschlichen Lebens geben wollte, setzte ab 1890 ein. Folglich verstand sich der Verismo als "Reaktion (...) vor allem auf den symbolistischen Mystizismus der Wagnerschen und nachwagnerschen Götter- und Heldenoper"[1].

Nachträglich lassen sich Bizets Oper "Carmen", mit ihrem ausgesprochen realistischen Sujet, und Verdis "La Traviata", als ein gesellschaftliches Gegenwartsdrama, als Frühformen des Verismo auf der Opernbühne deuten. Die unübertroffenen Säulen des Verismo bilden jedoch die bei Aufführungen bis heute häufig gekoppelten Opern "Cavalleria rusticana" (1890) und "Pagliacci" (1892).

2. Richard und Ruggiero

Der zwanzigjährige Ruggiero Leoncavallo hatte bei einer Begegnung in Bologna Richard Wagner, dem Meister der damals gerade uraufgeführten "Nibelungen"- Trilogie[2], seine Pläne zu seiner groß angelegten historischen Trilogie"Crepusculum" dargelegt, umfassend "I Medici", "Girolamo Savarola" und "Cesare Borgia". Dieses Vorhaben blieb bis auf Teil I unausgeführt, denn erst 1893 wurden die "Medici" uraufgeführt, ein Jahr nach den viel moderneren, später komponierten "Pagliazzi". Und seit der Uraufführung der "Pagliazzi", am 21.Mai 1892 im Mailänder Teatro dal Verme gehörte Leoncavallo neben Amilcare Mascagni mit seiner Oper "Cavalleria rusticana" zu den Protagonisten einer neuen Richtung auf den Musikbühnen, des Verismo.

Leoncavallo aber war ein überzeugter Anhänger Richard Wagners. Und der hielt seinem Idol die Treue.[3] Wie Wagner, so schrieb Leoncavallo seine Libretti selbst .Von den Techniken des Bayreuther Meisters übernahm er in seine Partituren die Leitmotivik, setzte - wie Wagner im "Ring" - Orchesterzwischenspiele bei offener Bühne ein und entwickelte den Vokalstil von der Lyrik des Belcanto hin zu einem Gesangsstil der dramatischen Effekte.

Breite Chorszenen als ausführliche Genrebilder, wie in I,1 und II,1 der "Pagliacci", waren ohnehin kein Novum, denkt man etwa an den Doppelchor "In Frühn versammelt uns der Ruf" in Wagners "Lohengrin" (II,3).

Leoncavallos Handlung spielt unter Bauern und fahrenden Komödianten, also einfachem Volk. Bereits Wagners "Fliegender Holländer" mit Seeleuten und einem Jäger, ist auf niederem sozialen Niveau angesiedelt.

Am 15.August 1865, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, soll in einem kleinen Ort bei Montalto in Kalabrien der eifersüchtige Bajazzo einer italienischen Komödiantentruppe seine Gattin und den Diener der Familie Leoncavallo erstochen haben, als er die beiden hinter der Szene in flagranti ertappte. Nach eigener Aussage will der siebenjährige Ruggiero Leoncavallo dies erlebt haben. Aber was den Prototyp des Verismo auf der Opernbühne als veristisches Prinzip, also wahrhaftig untermauern sollte, hat sich als Falsifikation erwiesen. Die Behauptung des Dichterkomponisten Leoncavallo, die Handlung seiner "Pagliazzi" als Siebenjähriger selbst erlebt zu haben, wurde von der Wissenschaft des Musiktheaters als eine Mystifikation entlarvt.[4]

Mit seiner Verklärung der eigenen Inspiration stand Leoncavallo keineswegs allein. Auch andere Komponisten liebten es, die Entstehung ihrer Werke dichterisch zu überhöhen, allen voran Leoncavallos Vorbild Richard Wagner, etwa mit seiner unhaltbaren Legende der Karfreitags-Inspiration zu "Parsifal".

Dabei sind Vorbildsituationen eher dort zu suchen, wo ein Dichterkomponist sie nicht eingesteht.

3.Wirklichkeit und Spiel

Richard Wagners erste komische Oper, "Das Liebesverbot", erlebte bei der Uraufführungsproduktion selbst eine Verismo-Situation á la "Pagliacci". Das Eifersuchtsdrama der beteiligten Protagonisten hatte, noch vor Beginn der zweiten Aufführung, über die Bühnenhandlung dominiert und die Komödie beendet, bevor deren Spiel einsetzen konnte:

"ungefähr eine Viertelstunde vor dem beabsichtigten Beginn sah ich nur Frau Gottschalk mit ihrem Gemahl und sehr auffallenderweise einen polnischen Juden im vollen Kostüm in den vollen Sperrsitzen des Parterres. Dem ohngeachtet hoffte ich noch auf Zuwachs, als plötzlich die unerhörtesten Szenen hinter den Kulissen sich ereigneten. Dort stieß nämlich der Gemahl meiner ersten Sängerin (der Darstellerin der 'Isabella'), Herr Pollert, auf den zweiten Tenoristen, Schreiber, einen sehr jungen hübschen Menschen, den Sänger meines 'Claudio', gegen welchen der gekränkte Gatte seit längerer Zeit einen im Verborgenen genährten eifersüchtigen Groll hegte. Es schien, daß der Mann der Sängerin, der mit mir am Bühnenvorhange sich von der Beschaffenheit des Publikums überzeugt hatte, die längst ersehnte Stunde für gekommen hielt, wo er, ohne Schaden für die Theaterunternehmung herbeizuführen, an dem Liebhaber seiner Frau Rache zu üben habe. Claudio ward stark von ihm geschlagen und gestoßen, so daß der Unglückliche mit blutendem Gesicht in die Garderobe entweichen mußte. Isabella erhielt hiervon Kunde, stürzte verzweiflungsvoll ihrem tobenden Gemahl entgegen und erhielt von diesem so starke Püffe, daß sie darüber in Krämpfe verfiel. Die Verwirrung im Personal kannte bald keine Grenze mehr: für und wider ward Partei genommen, und wenig fehlte, daß es zu einer allgemeinen Schlägerei gekommen wäre, da es schien, daß dieser unglückselige Abend allen geeignet dünkte, schließlich Abrechnung für vermeintliche gegenseitige Beleidigungen zu nehmen. Soviel stellte sich heraus, daß das unter dem Liebesverbot Herrn Pollerts leidende Paar unfähig geworden war, heute aufzutreten. Der Regisseur ward vor den Bühnenvorhang gesandt, um der sonderbar gewählten kleinen Gesellschaft, welche sich im Theatersaale befand, anzukündigen, daß 'eingetretener Hindernisse' wegen die Aufführung der Oper nicht stattfinden könnte.-"[5]

Bewußt oder unbewußt spielen diese Erfahrungen in Wagners zweite und letzte komische Oper hinein. Am Ende des Mittelaktes der "Meistersinger von Nürnberg" kommt es zu einer großen Prügelei, angefacht von den nur vermeintlichen Nebenbuhlern, dem Stadtschreiber Beckmesser und dem Lehrbuben David. Frauen schütten den Inhalt ihrer Nachttöpfe auf die streitenden Männer, und in der Kontrapunktik der Singstimmen geht deren konkreter, verbaler Inhalt für den Rezipienten verloren. Die Gattung Oper, in der - im Unterschied zum Schauspiel - stets mehrere zugleich ihre Meinung äußern können, ohne Rücksicht auf verbale Kommunikation, war nie zuvor so weit gegangen und damit in ihrer Radikalität dem Verismo so nahe wie in diesem bis zu siebzehnstimmigen Ensemble.[6]

Das Entwirren der Fäden eines solchen 'Wahns' erlaubt erst die Philosophie des Schuster-Poeten Hans Sachs. Die Ausübung seines Broterwerbs, das Anfertigen von Schuhen für seinen Rivalen, vereint in dieser Oper die konkreten handwerklichen Vorgänge - hörbar auch in den vom Komponisten rhythmisch notierten, wahrhaftigen Hammerschlägen - mit der Interpretation eines doppeldeutigen Liedes, das seinerseits biblische und aktuelle Vorgänge in Kollision setzt.

Die Blessuren der nächtlichen Nürnberger Prügeleien scheinen jedoch, sieht man von drastischen Übertreibungen in der Beckmesser-Pantomime des dritten Aufzugs ab, nicht so gewichtig zu sein. Nur die schon im ersten Aufzug konstatierte Krankheit des 13.Meisters Nikolaus Vogel muß gravierender zu sein, denn sonst hätte sich auch dieser Meister, der bei der Singschul fehlte, den Aufzug auf der Festwiese nicht entgehen lassen, wovon jedoch in Wagners Partitur nichts vermerkt ist. Gleichwohl ist Vogels Kranksein nicht vergleichbar den psychosomatischen, nur durch Aufhebung der Polarität zu heilenden Krankheiten von Tristan und Amfortas.

Jenes Leiden, das der Verismo auf die Opernbühne bringt, ist in der vergleichsweise heilen, wenn auch durch Wahn bereits aus den Fugen geratenen Welt der Nürnberger Meistersinger nicht zu konstatieren, denn es ist das soziale Elend.

Ansätze zu solchem sozialen Elend gibt es allerdings in Wagners erster komischer Oper, bei dem zum Tode verurteilten Claudio und dem Schicksal seiner - szenisch nicht in Erscheinung tretenden - schwangeren Julia, und auch - was die Arbeits- und daraus folgende Orientierungslosigkeit betrifft - bei jenen Figuren, die durch das Verdikt der freien Liebe um ihr Geschäft gebracht wurden, Dorella und Pontio Pilato.

Nun ist die komische Oper, auch die Opera buffa, naturgegeben spielbetonter als die seriöse Schwesterngattung. Sie suchte seit je Topoi des einfachen Lebens und Handwerks, und war somit a priori 'veristischer'.

Die veristischen Opern sind jedoch nur in Ansätzen komisch, so wie das Leben in tragischen Situationen komischer Momente nicht entbehrt.[7] Ihre stringente, die Affekte steigernde Handlungsführung zielt auf einen krassen, gar drastischen Schluß.

Elementare Triebsituationen sind Handlungsmotivationen der veristischen Oper. Ehebruch, Eifersucht, Wahnsinn und Mord, in realistischer, unreflektierter Darstellung, sind an der Tagesordnung.

4. Drastische Wahrheit

Auch die im Folgenden skizzierte Handlung scheint allen Anforderungen des Verismo zu entsprechen: Unter dem Zwang seiner Ehefrau mordet der Vater seinen Sohn, der zuvor seine Zwillingsschwester geschwängert hat. Die Halbschwester, die dem Sohn zuhilfe kommen sollte, will der rasende Vater mit aufgezwungener Prostitution bestrafen.

Im besagten leidenschaftlichen Inzest- und Ehebruchs-Drama kommen so konkrete Alltags-Vorgänge wie das Reichen von Getränken und Speisen und der Verzehr eines Mahls, realistisch breit zum Tragen.

Fortgesetzt wird diese Realismus-Schiene, mitsamt plakathafter Wirkung der Musik, noch in einem die Handlung dieser Oper fortführenden Werk, in dessen erstem Akt das Schweißen eines Schwertes ebenso minutiös vorgeführt wird, wie der Vorgang des Brauens eines giftigen Eiertrunks.

[...]


[1] Riemann Musiklexikon, Sachteil , Mainz 1967, S. 1022

[2] Den heute gern als Tetralogie eingestuften "Ring des Nibelungen" nennt der Komponist ein "Bühnenfestspiel für drei Tage und einen Vorabend".

[3] Bei seinem Bayreuth-Besuch im Juli 1894 schloß Ruggiero Leoncavallo Freundschaft mit dem Bayreuther musikalischen Assistenten, dem inzwischen mit der Oper "Hänsel und Gretel" erfolgreichen Engelbert Humperdinck.

[4] Teresa Lorario, Ruggiero Loencavallo e il soggetto dei "Pagliazzi", in: Chigiana 26/27 1971

und Marco Vallora, Plagi, sipiari, pagliazzi, in: G.Aulenti, M.Vallora, Quartetto della Maledizione, Mailand 1985, S.71-92

[5] Richard Wagner, Mein Leben, München 1963, S.144 f.

[6] Richard Wagner, "Die Meistersinger von Nürnberg", in: Sämtliche Werke, Bd.9,II, Mainz 1983, S.154 ff

[7] Vgl. den Umbruch von Komik zu Tragik in Leoncavallos "La Bohème" (1897): mit ihrem dritten Akt schlägt die Komödie abrupt in die Tragödie um, während vorher zwei Akte lang textlich und musikalisch der äußere Schein einer musikalischen Komödie erzielt wird.

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Details

Titel
Von Wagner kommend, zu Wagner kehrend - Verismo als theatraler Akt
Veranstaltung
-
Autor
Jahr
2002
Seiten
13
Katalognummer
V68932
ISBN (eBook)
9783638612159
ISBN (Buch)
9783640858095
Dateigröße
412 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ein ungewöhnlicher, aber zwingender Ansatz zur Verismo-Theorie
Schlagworte
Wagner, Verismo
Arbeit zitieren
Prof. Dr. Peter P. Pachl (Autor:in), 2002, Von Wagner kommend, zu Wagner kehrend - Verismo als theatraler Akt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68932

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