Rationalismus vs. Konstruktivismus? Eine theoretische Debatte anhand des Fallbeispiels der Sowjetunion


Hausarbeit, 2005

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Historischer Hintergrund

3 Rationalismus
3.1 Herkunft und Definition
3.2 Das Verhältnis von Akteuren und Struktur
3.3 Akteure und die „Logik der Konsequenzen“
3.4 Die Bedeutung von Normen und Ideen

4 Konstruktivismus
4.1 Herkunft und Definition
4.2 Das Verhältnis von Akteuren und Struktur
4.3 Akteure und die „Logik der Angemessenheit“
4.4 Die Bedeutung von Normen und Ideen

5 Erklärungsgewinn beider Theorien am empirischen Beispiel

6 Rationalismus vs. Konstruktivismus? Eine Bestandsaufnahme

7 Quellenverzeichnis

Abstract

Gorbatschows Reformen leiteten, zuerst ökonomisch, dann politisch, das Ende des Kalten Krieges ein. Seine Reformen, Kernstücke seines „Neuen Denkens“, trafen Grundpfeiler sowjetischer Ideologie und sind Ausdruck einer neuen Wirklichkeitskonstruktion. Rationalistische Theorien, die die Internationalen Beziehungen bis zu diesem Zeitpunkt dominierten, konnten diese Art außenpolitischen Wandels nicht erklären und vorhersagen. Der Konstruktivismus, der Normen und Ideen als Determinanten in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen, stellt springt erfolgreich in diese „Wissenslücke“ und ist in der Lage, Erklärungen für den Wandel außenpolitischer Interessen zu liefern. Er betont, dass Interessen durch normative Strukturen veränderbar, und nicht, wie dies von rationalistischer Seite behauptet wird, fixiert sind.

Der Konstruktivismus ist nicht fehlerfrei, auch wenn er im präsentierten Fallbeispiel überlegen ist. Dennoch gehe ich nicht davon aus, dass beide Ansätze gegensätzliche Aussagen beinhalten. Vielmehr teilen sie mehrere Prämissen, die jedoch unterschiedlich akzentuiert werden. Daher halte ich eine „Fusion“ beider Ansätze und eine weitere konstruktive wissenschaftliche Diskussion für die beste Lösung, um auch weiterhin die Internationalen Beziehungen fruchtbar und erfolgreich analysieren zu können.

1 Einleitung

In meiner schriftlichen Ausarbeitung werde ich mich den Fragen widmen, welche theoretischen Konzepte, Rationalismus oder Konstruktivismus, besser geeignet sind, um Wandel in den Internationalen Beziehungen zu erklären. Empirischen Bezug werde ich durch das Fallbeispiel der Umformulierung und Neugestaltung der sowjetischen Politik in der Ära Gorbatschows herstellen.

Ich konzentriere mich dabei ausschließlich auf die Zeit nach dem Amtsantritt Gorbatschows 1985. Ich werde die aus einer völlig neuen Weltanschauung hervorgegangen Reformen in drei Kategorien unterteilen, und zwar erstens in wirtschaftliche, zweitens innenpolitische und drittens die außenpolitische Neuorientierung. Der Zusammenfall der sowjetischen Systems führte anschließend zu einer Neuformulierung der „Blockidentitäten“ nach der Ära des Kalten Krieges.

Danach werde ich Rationalismus und Konstruktivismus anhand ihrer Kernpunkte vorstellen. Auch werde ich die für die Internationalen Beziehungen wichtigen Ausarbeitungen rationalistischer Theorien, Neorealismus und Neoliberaler Institutionalismus kurz vorstellen.

Auf diesen Grundlagen basierend folgt eine theoretische Bewertung der genannten Ansätze. Die Frage, die sich danach stellt, lautet: Welcher Theorieansatz kann welche Erklärungsleistungen der geschilderten Vorgänge geben?

Am Beispiel der totalen Veränderung sowjetischer Außenpolitik unter Gorbatschow und deren weltpolitischen Konsequenzen im Innern und Äußeren werde ich die Erklärungspotentiale und Grenzen des Rationalismus und des Konstruktivismus herausarbeiten.

Anschließend werde ich aus diesem Grund mit einer Vorstellung der Kernpunkte des Rationalismus fortfahren und die die internationalen Beziehungen speziell betreffenden Theorien Neorealismus und Neoliberaler Institutionalismus erläutern. Mit dem Konstruktivismus werde ich ähnlich verfahren.

Aber welcher Ansatz liefert bessere Ergebnisse? Um darauf eine Antwort geben zu können, widme ich mich der Frage nach dem Gehalt der Ergebnisse mit einer kritischen Beurteilung beider Ansätze bezüglich der ideologisch motivierten völlig neuen Umgestaltung der Sowjetunion.

Es folgt ein Fazit sowie eine grundsätzliche Diskussion über das generelle Verhältnis von rationalistischen und konstruktivistischen Theorieansätzen.

2 Historische Hintergründe

Michail Gorbatschow wurde im März 1985 Generalsekretär der KPdSU (vgl. Creuzberger 2002: 189) und leitete mit seiner Administration grundlegende Reformen des sowjetischen Systems ein, das sich in einer Krise der Stagnation befand. Wirtschaftliche Unproduktivität und außenpolitische Isolation waren die Hauptgründe für diese Krise, die zu einer ernsten Gefährdung der sowjetischen Produktionskapazität führte. (vgl. Wallander, Prokop 1993: 65). Ich unterteile das „Neue Denken“ Gorbatschows, die ideologische Neupositionierung und deren Umsetzung in drei Reformbereiche:

1. Erstens sollten die wirtschaftlichen Reformen von oben, die auch als Perestrojka (Umbau) bezeichnet werden, die Systemmodernisierung bei gleichzeitiger Erhaltung bewirken. Gorbatschow sah in der Perestrojka einerseits eine Intensivierung der Produktionen auf der Basis wissenschaftlich technologischen Fortschritts, andererseits als strukturelle Reorganisation durch verbessertes Management und Anreize für Arbeiter. (vgl. Sakwa 1989: 77). Die Wirtschaft sollte angekurbelt werden um das gravierende Haushaltsdefizit zu senken. Die Administration Gorbatschow setzte dabei Motivationssteigerung der Arbeiter durch Konkurrenzdenken und auf Elemente des Marktes, die schrittweise eingeführt wurden. Und dies mit weit reichenden Konsequenzen.
2. Zweitens ist die anschließende Entwicklungsphase Glasnost (Transparenz, Offenheit) nach 1986 bis Mitte 1988 hervorzuheben. Neue „westliche“ Werte wie das Gewicht der öffentlichen Meinung und deren Legitimation, eine pluralistische Presse, eröffneten eine völlig neue Dimension bislang unbekannter Neuerungen. In Richtung politischer Pluralismus beschränkte Gorbatschow die Macht und strich das Herrschaftsmonopol der KPdSU durch Durchführung halbwegs fairer Wahlen.
3. Drittens hatte die neue Rhetorik und Denkweise vor allem in der Außenpolitik einen entscheidenden Beitrag zum Ende des Kalten Krieges geliefert. „Seit dem Frühjahr 1985 war in der sowjetischen Sicherheitspolitik Bewegung erkennbar, die sich nicht nur in einem Wandel der Rhetorik, sondern auch in verändertem Verhalten gegenüber USA und Nato niederschlug. (Schröder 1992: 71). Seit Ende 1987 initiierte Gorbatschow eine konstruktive militärische Abrüstung und internationale Zusammenarbeit. Der Abzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan und die Abkehr der Breschnew-Doktrin Mitte 1989 waren Meilensteine sowjetischer Außenpolitik.

Festzuhalten ist, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt von Gorbatschows Administration intendiert wurde. Man war nach wie vor auf Machtausgleich zu den USA konzentriert; aus diesem Grund wurden Reformen vorangetrieben. Gorbatschow startete mit ökonomischen, gefolgt von politischen Reformen. Diese Reformen hatten dramatische Auswirkungen auf das sowjetische System (z.B. Partei, Ideologie, Militär, und den KGB). (vgl. Shlapentokh 2001: 200). Seine Politik wurde jedoch unterschiedlich interpretiert. Einige sahen ihn als Zerstörer der sowjetischen Macht, andere, darunter vor allem der Westen Europas, sah in ihm einen demokratischen Friedensbringer.

Die Auswirkungen des Zusammenbruchs der UdSSR und die anschließende politische Neuordnung der Identitäten der Staaten frei von einem Ost- West- Dogma ließen Fragen aufkommen, wie solch solche Entwicklungen durch zu diesem Zeitpunkt bestimmende rationalistische Theorien erklärt werden können. Waren politische Tatsachen wie der Wandel der sowjetischen Außenpolitik und die Kontinuität der deutschen Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges so erklärbar?

3 Rationalismus

Der Beantwortung dieser Frage werde ich mich schrittweise nähern. Ich beginne mit der Erklärung des Rationalismus.

3.1 Herkunft und Definition

Der „Rationalismus“ hat seinen Ursprung zum einen aus der Soziologie, hier wäre Max Weber mit seiner erklärenden und verstehenden Soziologie zu nennen, zum anderen aus der klassischen Ökonomie (siehe u.a. Adam Smith).

„Soziologische Theorien rationalen Handelns orientieren sich gegenwärtig vorwiegend an jenem Paradigma von Rationalität, das ökonomischen Theorien rationaler Wahlhandlungen und strategischen Entscheidens („rational choice“) zugrunde liegt.“(Reinhold 1991: 465)

Den Rational Choice Ansatz halte ich, genau wie den Konstruktivismus, für eine Metatheorie, da sich viele Theorien auf der Basis rationalistischer Annahmen gründen. Wendt und Fearon bezeichnen den Rationalismus als „a method, that is, as a cookbook or recipe for how to explain action (and especially actions taken in a strategic or multi-actor context).”(Fearon, Wendt 2002: 52). Snidal spricht hierbei von einer Methodologie, die generelle theoretische Annahmen enthält. (vgl. Snidal 2002: 74). Grundlegend kann man sagen, dass sich dieser Ansatz auf zwei Säulen stützt: Erstens eine Annahme über unsichere zukünftige Konsequenzen und zweitens eine Annahme über unsichere zukünftige Präferenzen. (vgl. March 1986: 142).

Der Rational Choice Ansatz geht davon aus, dass sich soziale Strukturen ausschließlich über individuelle Handlungen erklären lassen. Dabei handeln die Akteure rational, das heißt, dass sich der Akteur kosten-nutzenorientiert in einer bestimmten Situation eine Handlung aus Alternativen auswählt, mit dem Ziel, einen Erwartungsgewinn möglichst hoch zu halten. (Vgl. Schmidt 2000: 22). Der Rational Choice Ansatz ist ein methodologischer Ansatz, der „both individual and collective (social) outcomes in terms of individual goal-seeking under contraints” erklärt. (Snidal 2002: 73). Dabei fokussiert er seine Beobachtungen auf zielorientieres Handeln und der Identifizierung von wichtigen Akteuren. Anschließend steht die Suche nach Zielen und deren Durchsetzung im Mittelpunkt. (vgl. ebd. 75).

3.2 Das Verhältnis von Akteuren und Struktur

Dabei hat der Rationalismus einen Hang zur Abstraktion und zur Simplifikation (Fearon, Wendt 2002: 54). Demnach sind, was die Internationalen Beziehungen betrifft, die Akteure die Staaten. Eine Abstraktion ist hier nützlich, um generelle Aussagen treffen zu können. Deshalb wird von einer individuellen Betrachtung eines jeden Staates abgesehen.

Die Akteure handeln in einem auf materiellen Strukturen basierenden anarchischen, dezentralen System, das durch die Verteilung von Kapazitäten definiert (vgl. Kowert, Legro 1996: 460). Das Verhalten der Akteure ist demnach an materiellen Tatsachen orientiert. „Materialism is the view that the structure that constrains behaviors is defined by factors such as the distribution of power, technology, and geography.” (Barnett 2005: 253). Verhaltenswandel ist demnach nur auf Veränderungen in der materiellen Struktur zurückzuführen. Interessen und Erwartungen werden als festgelegte, unveränderliche Variablen angesehen. Dies bedeutet, dass Interessen nicht aufgrund von Überzeugungen oder Interpretationen der Welt gründen, sondern materieller Natur sind. (Wendt 1999: 115).

In den bestimmenden rationalistischen Theorien des Kalten Krieges wie der des Neorealismus´ und der des neoliberalen Institutionalismus´ ist das Ziel der Staaten das nationale Interesse das Anwachsen der Macht und Selbsterhaltung. Dieses Ziel gilt es zweckrational zu erreichen, wie es in der Veröffentlichung von Kenneth Walz´s „ Theory of International Politics“ suggeriert wird (vgl. Fearon, Wendt 2002: 59).

Über den Verursacher der Anarchie gibt es unter den rationalistischen Ausarbeiten wie der Realismus von Morgenthau oder der Neorealismus von Kenneth Waltz unterschiedliche Meinungen; sie sollen hier aber nicht zu Sprache kommen.

3.3 Akteure und die „Logik der Konsequenzen“

Im Gegensatz zum Konstruktivismus ist der Rationalismus von der Auffassung eines „Homo oeconomicus“ überzeugt und geht von einem sehr materialistischen Menschenbild aus.

Der Mensch „sortiert“ demnach seine Handlungen nach einem Kosten-Nutzen-Schema. Er wählt in einer bestimmten Situation diejenige Handlungsoption, die verspricht, am effizientesten zu sein um seine Ziele zu erreichen.

[...]

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Details

Titel
Rationalismus vs. Konstruktivismus? Eine theoretische Debatte anhand des Fallbeispiels der Sowjetunion
Hochschule
Universität Bielefeld
Veranstaltung
Einführung in die Internationalen Beziehungen
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V68895
ISBN (eBook)
9783638611923
ISBN (Buch)
9783638673075
Dateigröße
446 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rationalismus, Konstruktivismus, Eine, Debatte, Fallbeispiels, Sowjetunion, Einführung, Internationalen, Beziehungen
Arbeit zitieren
Thilo Schneider (Autor:in), 2005, Rationalismus vs. Konstruktivismus? Eine theoretische Debatte anhand des Fallbeispiels der Sowjetunion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68895

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