Leibphänomenologisch orientierte Beiträge sozialer Arbeit in der Psychiatrie - Am Beispiel des St. Marien-Hospitals Herne


Diplomarbeit, 2006

61 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Die Herner Psychiatrie St. Marien-Hospital
2.1. Subjektorientierung unter Einbezug der Lebenswelt
2.2. Ressourcenorientierung unter Einbezug der Öffentlichkeit

3. Die Umsetzung im klinischen Alltag
3.1. Die Morgenrunde
3.2. Das festliche Kaffeetrinken
3.3. Stationsübergreifende Angebote
3.4. Die Delegierten
3.5. Die Ateliers
3.5.1. Die Ateliers als Medium der Öffentlichkeitsarbeit
3.6. Das Jakobus-Pilgerweg-Projekt
3.7. >Die Zeitung<

4. Begriffsbestimmungen
4.1. Der Leib
4.1.1. Zwischenleiblichkeit
4.2. Atmosphären
4.3. Ausdruckscharaktere
4.3.1. Physiognomische Ausdruckscharaktere
4.3.2. Synästhetische Ausdruckscharaktere
4.3.3. Bewegungsanmutungen

5. Krankheit
5.1. Krankheit und Eigenverantwortung
5.2. Leibbewusstsein in der Krankheit
5.3. Leibbewusstsein im Schmerz
5.4. Leibbewusstsein in der psychischen Erkrankung
5.4.1. Person

6. Professionelle Arbeit mit psychisch Kranken unter leibphänomenologischen Gesichtspunkten
6.1. Intuitives Spüren im Zwischenleiblichen Kontakt
6.1.1. Intuitives Spüren durch Erfahrung
6.2. Leibphänomenologie und der ästhetische Teilbereich
’Kunst’
6.2.1. Atelier: Zum 80. Geburtstag von Bernhard Heisig
6.2.1.1. Regentag im Havelland
6.2.1.2. Allee im Lande Brandenburg
6.2.1.3. Artikel in >Die Zeitung<
6.2.2. Atelier: Edward Hopper – Kunstausstellung im Kölner
Museum Ludwig
6.2.2.1. Nighthawks
6.2.2.2 Artikel in >Die Zeitung<

7. Schlussbetrachtung

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Im Laufe meines Studiums und im Zuge meiner Tätigkeit in der Gemeindepsychiatrie St. Marien-Hospital wuchs mein Interesse an der Leibphänomenologie stetig. Mir wurde bald bewusst, dass ich in der verbalen Interaktion schnell an meine Grenzen stieß. Ebenso musste ich feststellen, dass erlernte medizinische und psychologische Fakten und Checklisten in der Arbeit mit psychisch Kranken, den oft verlernten Fähigkeiten des intuitiven Spürens vorgezogen werden.

Die Leibphänomenologie steht im Verruf der Unwissenschaftlichkeit und unter dem Verdacht des reinen Subjektivismus[1], läuft deshalb ständig Gefahr mit der Naturwissenschaft zu kollidieren. Aus diesem Grund ist es mir ein besonderes Anliegen, mich diesem Thema zu widmen.

Zunächst möchte ich das besondere Konzept der Klinik und dessen Umsetzung herausarbeiten und begründen. Hier stellt sich die Überlegung, ob in diesem Konzept neben dem Einbezug der Lebenswelten, den Ressourcen etc. auch noch leibphänomenologische Aspekte in die Arbeit mit psychisch kranken Menschen integriert werden können und sollten. Außerdem möchte ich das Thema Krankheit, vor allem psychische Erkrankung, unter leibphänomenologischen Gesichtspunkten beleuchten. Am Ende stellen sich die Fragen, wie und warum man nun die Leibphänomenologie professionell ausüben kann/sollte? Wie kann man sie in die Arbeit mit psychisch Kranken einfließen lassen, und zu was befähigt sie den Professionellen und den Patienten?

In diesem Sinne werfe ich auch ein besonderes Augenmerk auf die Atelier-Aktivitäten im Bereich der Kunst unter dem Gesichtspunkt der leibphänomenologischen und ästhetischen Theorie. Hierfür habe ich zwei Beispiele gewählt: Das Atelier „Zum 80. Geburtstag von Bernhard Heisig“, einem Künstler der ehemaligen DDR, und das Atelier „Edward Hopper – Besuch der Kunstausstellung im Kölner Museum Ludwig“, woran ich selber teilnahm.

2. Die Herner Psychiatrie St. Marien-Hospital

Von den Chinesen können wir derzeit viel lernen: Sie haben für Krise und Chance das gleiche Schriftzeichen.

(Carl Friedrich von Weizsäcker)

Dr. Matthias Krisor ist seit 1979 leitender Arzt des St. Marien-Hospital in Herne, welches bis 1977 ein Allgemeinkrankenhaus war und erst danach zur psychiatrischen Klinik umfunktioniert wurde.

Matthias Krisor entwickelte das Herner-Modell einer gemeindepsychiatrischen Klinik, die sich in erster Linie durch den Verzicht von Aufnahmestationen, die heterogene Durchmischung der Stationen, sowie offenen Türen auszeichnet.[2]

In Anlehnung an die französische Reformklinik ’La Borde’ und dem Konzept der französischen institutionellen Psychotherapie entstand eine psychiatrische Institution, die sich an ethischen Prinzipien (Anerkennung der Würde der Person sowie deren Autonomie und Bedürfnisse) und allgemeinen Normen des menschlichen miteinander Umgehens orientiert. Der Patient soll im Mittelpunkt stehen, jedoch nicht nur seine Krankheit, sondern auch seine Fähigkeiten. Durch die tägliche Übernahme von Aufgaben im Krankenhausalltag wird der Patient zugleich in seiner Persönlichkeit bestärkt, gefördert und mit in die Verantwortung genommen.[3]

Den alltäglichen Umgang mit psychisch kranken Menschen setzt der Arzt und Psychologe den vielerorts existierenden geschlossenen Anstalten entgegen und plädiert für ein konstruktives Miteinander.[4]

Anstelle von geschlossenen Türen und abgesperrten Stationen wird, wenn erforderlich, auf Flurwachen[5] zurückgegriffen, oder in besonderen Fällen 1:1 Betreuung[6] geleistet.

Die stationäre Behandlung der Patienten liegt im Durchschnitt bei ca. 26 Tagen, wobei aber von Fall zu Fall individuell entschieden wird und der Aufenthalt um einige Tage bis hin zu Monaten verlängert werden kann.

Heutzutage leidet die Hälfte der Patienten unter Drogen-, Tabletten- oder Alkoholsucht. Die Anzahl derer, die unter schweren Psychosen leiden ist dank rechtzeitiger Früherkennung zurückgegangen.[7]

Die erste psychiatrische Station wurde im St. Marien-Hospital 1977 eröffnet, danach folgten weitere. Ab Anfang 1981 übernahm die Klinik die stationäre Pflichtversorgung für die Hälfte des Stadtgebietes Wanne-Eickel, ab 1984 für das gesamte Stadtgebiet Hernes. Davor war das Landeskrankenhaus Eickelborn zuständig (ca. 100 km von Herne entfernt).

Mittlerweile verfügt das Krankenhaus über acht Stationen, eine Tagesklinik[8] mit 15 Plätzen, ein multiprofessionelles Ambulanzteam[9], vier therapeutische Wohngemeinschaften, einen Krisendienst (nach Dienstschluss) und ein Übergangswohnhaus mit 16 Plätzen für jüngere psychisch Kranke, die zu einer eigenständigen Lebensführung noch nicht in der Lage sind. Da eine enge Zusammenarbeit mit dem St. Marien-Hospital stattfindet und Klinik und Übergangswohnheim durch gleiche Trägerschaft (kath. Kirchengemeinde St. Marien, Eickel), mögliche ärztliche Betreuung, Krisenintervention und, wenn nötig, durch eine schnelle stationäre Aufnahme eng miteinander verbunden sind, können Menschen aufgenommen werden, die unter anderen Umständen noch nicht in einem Überganswohnheim leben könnten.[10]

Für ältere psychisch Kranke gibt es die Möglichkeit zur Aufnahme in ein Seniorenwohnheim, eventuell mit gleichzeitiger Betreuung durch das Ambulanzteam.

Von Bedeutung ist auch die organisierte Nachbarschaftshilfe „Nachbarn e.V.“. Hier kann man regelmäßig für wenig Geld Mahlzeiten einnehmen und seine Freizeit mit anderen Hilfebedürftigen gestalten. Ehrenamtliche Mitarbeiter organisieren den Tagesablauf und sind jederzeit Ansprechpartner.[11]

Das Klima in der offenen Psychiatrie ist wesentlich entspannter als in der geschlossen, daher sind Zwang und Gewalt immer die Ausnahme.

2.1. Subjektorientierung unter Einbezug der Lebenswelt

Das Konzept des St. Marien-Hospitals bezieht die subjektiven Erfahrungen der Patienten ein und in diesem Zusammenhang wird die Krise im lebensweltlichen Zusammenhang als Chance, oder auch als allgemeinmenschliche Möglichkeit gesehen.[12]

Der Klient soll nicht nur auf seine Rolle als Patient beschränkt werden, sondern durch verschiedene Angebote und Therapien den individuellen Lebensalltag gestalten lernen.[13] Ziel hierbei ist es also, den Patienten in die Lage zu versetzen, sein Leben außerhalb der Klinik zu gestalten und zu bewältigen. Die Frage nach dem sozialen Umfeld, nach Angehörigen, Freunden, Nachbarn, Arbeitgebern und den wirtschaftlichen Verhältnissen darf hier nicht unberücksichtigt bleiben.

Laut Dr. Matthias Krisor ist „jede Form des Wissens über menschliche Erlebnisse, Erfahrungen, Bedürfnisse, Hoffnungen, Formen der Kommunikation und des Zusammenlebens von Bedeutung.“[14]

Der Subjektbegriff meint also die Betrachtungsweise des Menschen als Individuum und somit die Einmaligkeit einer jeden Person, ihres sozialen Kontextes, ihrer Biographie und Bedürfnisse.[15]

Eine besondere Bedeutung bekommt nach dieser Betrachtungsweise des Menschen die Gestaltung des Alltages. Der Alltag, das Alltägliche, die Routine, das immer Wiederkehrende und sich Wiederholende bietet Sicherheit und gibt dem Leben einen verlässlichen Rahmen. Durch Umstände wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Schicksalsschläge jeglicher Art, ist die Sicherheit des Alltäglichen nicht mehr gewährleistet und der Mensch selbst ist gefordert, seinen individuellen, persönlichen Alltag bedürfnisorientiert zu gestalten oder zu verändern, was für psychisch Kranke teilweise nur mit professioneller Hilfe umsetzbar ist, da oft ein stabiles soziales Netz fehlt. In diesem Zusammenhang ist die Autonomie des Menschen nur unter Betrachtung der Subjektivität zu sehen, da Freiheit und Autonomie durch innerpsychische (Ängste, Neid, Resignation, Krisen u.s.w.) und äußere (gesellschaftliche und soziale) Bedingungen beeinflusst sind.

Geht man davon aus, dass Krankheit und Krise der derzeit einzig mögliche Lösungsversuch eines Menschen ist mit persönlichen Schwierigkeiten umzugehen, die oftmals ihre Ursache im sozialen Umfeld haben, ist es gerade bei Patienten der Psychiatrie oft von Nöten, über eine neue Gestaltung des Alltags nachzudenken und die Subjektorientierung gewinnt besondere Bedeutung.

Es wird schnell klar, dass man mit gut gemeinten Ratschlägen nicht weit kommt, da diese in der Lebenswirklichkeit des Ratsuchenden nicht umsetzbar sind. Alltäglichkeit, so Hans Thiersch, ist „geprägt durch die Lebensgeschichte der Menschen, durch ihre Erfahrungen, ihre in ihnen gesicherten Kompetenzen, ihre Erwartungen, Hoffnungen und Traumatisierungen [...] Alltäglichkeit ist ebenso bestimmt durch die Vorgaben der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der Pluralisierung und Individualisierung und der ungleichen Verteilung von Lebensressourcen...“[16]

In Rücksichtnahme auf die persönlichen Verhältnisse des Patienten, seiner Lebenswelt und seines individuell gestalteten Alltages muss es Ziel sein, konstruktive Zugänge zu schaffen um Veränderungen herbei zu führen, ein soziales Netz aufzubauen oder wenn nötig, ungesunde soziale Geflechte zu lösen und die Möglichkeit einer Neuorientierung zu geben. Die Soziale Arbeit muss hier für psychisch Kranke ein Hilfeangebot sein als Kunst der Hilfe zur Kunst des Lebens. Sie muss also lebensweltorientierte Hilfe zur Lebensbewältigung sein. Soziale Arbeit mit psychisch Kranken in der Sozialpsychiatrie beinhaltet Bewältigung von Normalität und Alltag. Sie ist bemüht, einen jeden Patienten individuell auf ein möglichst selbständiges Leben mit gewöhnlichem Alltag in einer bestimmten, bestehenden und gewohnten Lebenswelt vorzubereiten oder schafft einen neuen Alltag, eine veränderte Lebenswelt, wenn eine Rückkehr in die alte und gewohnte Umgebung nicht mehr möglich ist.

2.2. Ressourcenorientierung unter Einbezug der Öffentlichkeit

Ist ein Mensch in die Lage gekommen psychisch krank zu werden, oder lässt sein Verhalten Abweichungen erkennen bedeutet das nicht gleichzeitig, dass bei dieser Person das Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Bildung, Kultur und sportlicher Aktivität ausbleibt. Deshalb bietet das St. Marien-Hospital Mittel und Wege des Zusammenkommens zwischen Gemeinde und der Institution. Es geht nicht mehr nur um die Verringerung eines Defizits, sondern auch um das Anknüpfen an verbleibende Fähigkeiten und Ressourcen. Verschüttete und verloren geglaubte Fähigkeiten sollen ausgegraben, vorhandene ausgeweitet werden. Der Blick in der Sozialpsychiatrie fällt heute auf das Subjekt in seinem sozialen Umfeld.

Auch um den Patienten nicht nur auf seine Patientenrolle zu reduzieren, werden vielfältige Aktivitäten auch innerhalb des Hauses, oder organisiert durch das Haus, angeboten. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist das Einbeziehen anderer Gemeindemitglieder. Der psychisch Kranke, als Teil dieser Gesellschaft, soll aus dieser nicht ausgegrenzt werden, sowie auch die Öffentlichkeit die Möglichkeit haben soll, psychisch Kranken im handlungsentlasteten Raum zu begegnen. So wird eine Gettoisierung psychisch Kranker vermieden und im Gegenzug das Miteinander gefördert.

Hauptthema beim klinischen Aufenthalt sollen also nicht Krankheit und Leiden sein, vielmehr sollen die persönlichen Fähigkeiten und Ressourcen des Patienten in den Vordergrund gestellt werden. Das Erleben des Patienten ist demnach nicht auf seine Defizite beschränkt, wodurch der Selbstwert in der ressourcenorientierten Arbeit gestärkt wird.[17]

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient. Der Tagesablauf im St. Marien-Hospital und die zusätzlichen öffentlichen Aktivitäten, verhindern ein Ungleichgewicht der Parteien, wobei der Patient selbst wichtige Aufgaben und Verantwortung übernimmt. Beide bewegen sich auf einem gemeinsamen Nenner. Der Fachmann und Experte ist nunmehr nicht ausschließlich der Therapeut. Auf vielfältigen Gebieten übernimmt diese Rolle der Patient selbst. Durch das in den Vordergrund stellen eigener Fähigkeiten und Interessen bekommt der Patient die Chance, auf seinem Gebiet Respekt und Anerkennung zu erhalten und gleichzeitig über ein bestimmtes Thema in Kontakt mit anderen Teilnehmern zu treten. Letzteres ist von Bedeutung wenn man in Betracht zieht, dass der Patient durch seine psychische Verfassung ohnehin oft Schwierigkeiten hat auf andere Menschen zuzugehen. Zusätzlich gibt es eine Reihe von Patienten, die beispielsweise durch Alkohol-, Tabletten- oder Drogensucht Interessen, Hobbys und soziale Kontakte verloren haben, oder sich in einem für sie ungesunden sozialen Umfeld bewegen und hier Möglichkeiten der Neuorientierung finden.

Die Arbeit im St. Marien-Hospital zeigt also jedem Einzelnen grundsätzlich neue Perspektiven auf, die im späteren Alltag umgesetzt werden können. Dabei ist allerdings die Bereitschaft jedes Einzelnen vorausgesetzt, selbst aktiv Veränderungen im eigenen Lebensbereich vorzunehmen. Durch Motivationsarbeit und professionelle Unterstützung stehen alle Türen und Tore offen und es liegt letztendlich am Patienten selbst, Gelegenheiten wahrzunehmen und sinnvolle Veränderungen zu tätigen.

3. Die Umsetzung im klinischen Alltag

Während eines umfassenden Aufnahmegespräches, was in entspannter Atmosphäre stattfinden soll, werden möglichst viele Informationen über den Patienten, wie z.B. des sozialen Umfeldes, der Alltagsgestaltung, seiner psychischen Erkrankung, aber auch seiner Vorlieben, Hobbys und Fähigkeiten zusammengetragen. Schon hier wird darauf Wert gelegt, dass positive Bereiche im gesamten Umfeld des Patienten Thema werden und eigene Ressourcen Beachtung und Aufmerksamkeit finden.[18]

Der Patient wird nun in den Klinikalltag integriert und nimmt so bald wie möglich am strukturierten Tagesablauf teil, wobei er auch selbständig verschiedene Aufgaben übernimmt. Neben einem individuell gestalteten Therapieplan stellt die Klinik verschiedene Angebote, die als fester Bestandteil in die Wochengestaltung mit eingebunden sind.

3.1. Die Morgenrunde

Die Morgenrunde findet täglich, außer an den Wochenenden, um 8:15 Uhr statt und dient unter anderem dazu, aktuelle Themen zu diskutieren, auf verschiedene Ausflüge und Aktivitäten hinzuweisen, Erfahrungen vergangener Veranstaltungen auszutauschen. Moderator ist der Patient selbst - jeweils im wöchentlichen Wechsel, d.h. ein Patient übernimmt für eine Woche die gesamte Moderation der Morgenrunde. Mitarbeiter der Station bieten nur eine unterstützende Funktion an.[19]

So versammeln sich täglich nach dem Frühstück alle Patienten der Station, die dazu in der Lage sind, und einige Mitarbeiter im Aufenthaltsraum. Sie werden vom jeweiligen Moderator begrüßt, der dann Wortmeldungen entgegen nimmt, neue Patienten vorstellt und willkommen heißt, Prospekte für anstehende Aktivitäten zeigt, neue Ideen für Ausflüge und Unternehmen entgegennimmt und Ämter für unterschiedliche Aufgaben verteilt. Mit dem Vorlesen aus der Tageszeitung und eventuell anschließender Diskussion über gesellschaftliche Vorkommnisse und Politik endet die Morgenrunde, und die Patienten gehen ihrem jeweiligen Therapieplan nach.[20]

Jeden ersten Dienstag im Monat findet die Morgenrunde in der Hauskapelle statt, in der Patienten und Mitarbeiter aller Stationen zusammenkommen. Insbesondere wird dort auf stationsübergreifende[21] Aktivitäten und Atelierveranstaltungen des laufenden Monats hingewiesen.[22]

Patienten und Mitarbeiter bewegen sich hier auf gleicher Ebene und der Patient füllt nun nicht mehr nur die Rolle des Kranken aus. Er berichtet beispielsweise von seinen Erfahrungen als Ziervogelzüchter, der Therapeut wird zum Pferdenarren und die Krankenschwester zur Kunstliebhaberin. Gemeinsame Interessen und das Miteinander bieten hier Chancen zur Kontaktaufnahme und alle Teilnehmer begegnen sich auf gleichwertiger, rein menschlicher Ebene. In den Vordergrund gestellte Talente und Hobbys und die Übertragung verschiedener Aufgabenbereiche auf die einzelnen Personen fördern das Selbstwertgefühl und das Selbstverständnis jedes Einzelnen - hier bekommen sie Gewicht.[23]

3.2. Das festliche Kaffeetrinken

Das festliche Kaffeetrinken beginnt jeden Freitag um 15:00 Uhr. Die Patienten organisieren in der täglichen Morgenrunde schon im Vorfeld den Nachmittag. Rezepte für Kuchen und Gebäck werden ausgewählt, eine Einkaufsliste für Zutaten und Dekoration des Speiseraumes wird zusammengestellt, Einkäufe werden erledigt und der Kuchen von den Patienten selbst gebacken. Die verschiedenen Aufgaben werden in der Morgenrunde verteilt, die dann meist paarweise erledigt werden. So finden sich regelmäßig Freitag nachmittags in einem mit Blumen, Kerzen, bunten Servietten und Tischdecken dekorierten Raum alle Patienten und verschiedene Mitarbeiter der Station zusammen und begegnen sich, frei von Status, auf rein menschlicher Basis.

Gesang und instrumentale Begleitung tragen zur festlichen Atmosphäre bei und leiten das Wochenende ein. Das festliche Kaffeetrinken ist mit den Jahren zum Ritual geworden und gehört als fester Bestandteil zum Wochenablauf.[24] Auch hier wird deutlich, dass größter Wert auf das gemeinsame, gleichwertige Miteinander in entspannter Atmosphäre gelegt wird. Fernab vom üblichen Krankenhausalltag wird es den Patienten ermöglicht, ihren Tag sinnvoll zu gestalten und wichtige Aufgaben möglichst eigenverantwortlich zu übernehmen. Betrachtet man Sucht und psychische Erkrankung auch als den Verlust von eigener Verantwortung, von nicht mehr Herr im eigenen Haus sein, so erreicht das schrittweise Heranführen und das Wiedererleben der eigenen verantwortlichen Handlungsmöglichkeiten enormen Stellenwert.

3.3. Stationsübergreifende Angebote

Zusätzlich zu den stationsinternen Angeboten besteht die Möglichkeit, an verschiedensten Gruppenveranstaltungen und Therapien teilzunehmen, wobei sich hier der Focus auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Patienten richtet. Beim ’freien Gestalten’ und/oder der ’Werktherapie’ betätigen sich die Patienten kreativ, wobei bereits vorhandene Ressourcen aufgegriffen und neue Interessen geweckt werden können. Vom selbst gestalteten Seidentuch bis zu anspruchsvollen Holzarbeiten sind der Phantasie, dank ausreichender Materialien, keine Grenzen gesetzt. Bei diesen Gestaltungsprozessen nehmen oft ältere und erfahrenere Patienten eine beratende, unterstützende Funktion ein. Die im Laufe des Lebens angeeigneten Fähig- und Fertigkeiten können an andere Patienten vermittelt und weitergegeben werden. Durch die Förderung bereits vorhandener Ressourcen füllt der Patient eine für ihn wichtige soziale Rolle aus, in der die Krankheit nicht im Mittelpunkt steht. Eine weitere therapeutisch ausgerichtete Gruppenveranstaltung ist die Integrative Bewegungstherapie. Motorik, Körperwahrnehmung und die kognitiven Fähigkeiten werden ohne Druck und Leistungszwang trainiert und die individuellen Fähigkeiten jedes einzelnen hervorgehoben.[25]

Speziell für ältere Patienten besteht eine Reihe von verschiedenen Angeboten, angefangen vom Senioren-Filmabend, über die Frohe Runde, bis hin zum Seniorenausflug etc. Alle Angebote richten sich nach den Fähigkeiten und Interessen der Senioren. So werden beim Senioren-Filmabend vorwiegend Filme aus den 30er bis 60er Jahren gezeigt, die Frohe Runde bietet Raum für Erfahrungsberichte, Erzählungen längst vergangener Zeiten und Gesang. Der Seniorenausflug berücksichtigt nicht nur das Interesse der Patienten, er ist auch abgestimmt auf die körperliche Konstitution älterer Menschen.[26]

3.4. Die Delegierten

Mitte der 90er Jahre entwickelte sich im St. Marien-Hospital die Konferenz der Delegierten, die sich ausschließlich aus Patienten der Psychiatrie zusammensetzt. Die Konferenz entstand aus einer Idee der Mitarbeiter heraus, dem Respekt und der Achtung gegenüber der Patienten und deren Engagement im Klinikalltag Rechnung zu tragen. Es zeigte sich, dass wichtige Aufgaben und Verantwortung von den Patienten selbst übernommen werden konnten, die mit ihrer Psychiatrieerfahrung wertvolle Beiträge zur Mitgestaltung der Klinik leisten. Zu Beginn beschränkte sich der Aufgabenbereich der Delegierten auf die Betreuung von Besuchergruppen des Hauses. Von großem Interesse für die Besucher, teils auch Gruppen aus dem Ausland, war und ist hier das persönliche Erleben der Patienten in Bezug auf den Klinikaufenthalt im St. Marien-Hospital mit seinem besonderen Konzept. Ein geschätzter Ansprechpartner zu sein, trägt zum positiven Selbstbild und zur Steigerung des Selbstwertgefühles bei. In einem Artikel in >Die Zeitung< wird durch die gewählten Begrifflichkeiten wie unsere Klinik oder unser Besuch deutlich, wie stark die Patienten sich mit der Institution identifizieren und somit bekommt das deren Miteinbeziehen besonderes Gewicht.[27] Die Delegierten, die sich mittlerweile aus gewählten Vertretern der Stationen, der Tagesklinik, der Ambulanz und Ehrenamtlichen zusammensetzt, übernehmen ein breites Spektrum an Aufgaben wie z.B. die Planung, Vorbereitung und Durchführung des Empfangs von Besuchergruppen, das Vertreten von Patienteninteressen, das Gestalten von Ausflügen, Festen und sonstigen Aktivitäten, das Mitwirken an den Herner gemeindepsychiatrischen Gesprächen und Seminaren, kommunalpolitischen und psychiatriepolitischen Fragen u.v.m.[28] Hier sei wieder darauf hingewiesen, dass Professionelle und Patienten eine gemeinsame Ebene erreichen und sich das Augenmerk durch das Ausüben wichtiger Aufgaben auf persönliche Erfolge, Anerkennung und Bestätigung richtet.

3.5. Die Ateliers

Schnitze dein Leben aus dem Holz, das du hast

(russisch)

Anhand der Herner Ateliers wird das integrative Konzept des St. Marien-Hospitals besonders deutlich. Patienten sowie Mitarbeiter des Hauses und Bürger der Stadt finden hier die Möglichkeit der Begegnung, des Kontaktes, des Austausches und der Selbsterfahrung. Um den Begriff Atelier nicht miss zu verstehen sei hier erwähnt, dass das Atelier (aus dem Französischen: Kunstwerkstatt) nicht dazu dient selbständig Kunstwerke zu erstellen und zu gestalten, sondern vielmehr inner- oder außerhäusliche Veranstaltungen auf kultureller, gesellschaftlicher oder auch politischer Basis meint.

3.5.1. Die Ateliers als Medium der Öffentlichkeitsarbeit

Das Atelier steht als Gegenpol zur totalen Institution.

Patienten sollen eine für sie wichtige soziale Rolle ausüben. Die Atelier-Veranstaltung ist ein therapeutisch rehabilitativer Prozess und schafft die Möglichkeit der Darstellung, der Begegnung und des Austausches mit anderen.[29] Der Patient ist nicht mehr nur Patient und begibt sich für eine Weile aus der Krankenrolle. Kräfte und Fähigkeiten werden sichtbar und sollen mobilisiert und das Positive gefördert werden. Das Atelier bietet auch über den Klinikaufenthalt hinaus die Möglichkeit den Lebensalltag zu gestalten. Es stellt einen Übergangsbereich zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit, als auch zwischen Klinik und sozialer Realität der Außenwelt durch kulturelles Erleben dar.[30] Es besteht eine Chance der Kommunikation und des Kontaktes untereinander und des Weckens von Interessen an verschiedenen Themen. Für Menschen mit Kontaktschwierigkeiten ist es unter Umständen einfacher, über ein eingegrenztes Thema und gemeinsame Interessen ins Gespräch zu kommen und in Kontakt zu treten. Somit werden durch diese Veranstaltungen zwischenmenschliche Beziehungen gefördert.[31]

[...]


[1] Vgl. Fuchs o.J.: Spürsinn, Intuition Erfahrung, S. 1

[2] Vgl. Krisor 1992, S. 44

[3] Vgl. Gesundheit aus einer Hand 2005, S. 34

[4] Vgl. Krisor 1992, S. 12

[5] Befinden sich auf der Station Patienten, die aufgrund ihres Krankheitsbildes die Station nicht verlassen dürfen, hält sich ein Mitarbeiter der Station grundsätzlich auf dem Flur auf, um zu verhindern, dass diese die Klinik verlassen.

[6] In besonderen Fällen, z.B. bei Suizidpatienten, übernimmt ein Mitarbeiter der Station die Betreuung für einen Patienten

[7] Vgl. Gesundheit aus einer Hand 2005, S. 40

[8] Die Tagesklinik befindet sich gegenüber des Klinikgebäudes und bietet den Patienten tägliche Betreuung, sofern die ambulante Behandlung als nicht ausreichend beurteilt wird. Die Patienten sind tagsüber in der Klinik und schlafen nachts zu Hause.

[9] Das multiprofessionelle Ambulanzteam setzt sich zusammen aus Ärzten, Psychologen, Krankenschwestern und Sozialarbeitern, die die ambulante Betreuung der Patienten in verschiedenster Art und Weise übernehmen.

[10] Vgl. Krisor 1992, S. 120

[11] Vgl. Krisor 1992, S. 144f

[12] Krisor 2005, S. 13

[13] Vgl. Krisor 1992, S. 59

[14] Krisor 2005, S. 81

[15] Vgl. Krisor 2005, S. 81f

[16] Thiersch 1992, S. 47

[17] Vgl. Hermer 2001, S. 53ff

[18] Vgl. Krisor 2005, S. 138

[19] Vgl. Krisor 2005, S. 146f

[20] Vgl. Krisor 2005, S. 147

[21] Angebote und Aktivitäten werden zum Teil nur stationsintern aber auch stationsübergreifend, sowie inner- als auch außerhäuslich konzipiert und angeboten.

[22] Vgl. Krisor 2005, S. 147

[23] Ebd.

[24] Vgl. Krisor 2005, S. 145f

[25] Vgl. Krisor 2005, S. 153

[26] Vgl. Krisor 2005, S. 154

[27] Vgl. Krisor 2005, S. 195

[28] Vgl. Krisor 2005, S. 196

[29] Vgl. Krisor 1992, S. 131

[30] Vgl. Krisor 1992, S. 132

[31] Vgl. Krisor 1992, S. 133

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Leibphänomenologisch orientierte Beiträge sozialer Arbeit in der Psychiatrie - Am Beispiel des St. Marien-Hospitals Herne
Hochschule
International Business School Lippstadt
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
61
Katalognummer
V68553
ISBN (eBook)
9783638600248
Dateigröße
717 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leibphänomenologisch, Beiträge, Arbeit, Psychiatrie, Beispiel, Marien-Hospitals, Herne
Arbeit zitieren
Dipl.-Sozialpädagogin/Dipl.-Sozialarbeiterin Carmen Frey (Autor:in), 2006, Leibphänomenologisch orientierte Beiträge sozialer Arbeit in der Psychiatrie - Am Beispiel des St. Marien-Hospitals Herne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68553

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