Der Strukturbegriff von Anthony Giddens


Seminararbeit, 2006

24 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Giddens' Strukturbegriff

3. Struktur und der historische Dualismus zwischen Subjekt und Objekt
3.1 Objektbezogene Ansätze
3.1.1 Karl Marx
3.1.2 Emile Durkheim
3.1.3 Talcott Parsons
3.1.4 Claude Lévi-Strauss
3.2 Subjektbezogene Ansätze am Beispiel George H. Meads
3.3 Giddens' integrativer Ansatz: Dualität von Struktur

4. Resümee: Was leistet Giddens' Strukturbegriff für die Sozialwissenschaften?

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Giddens' Theorie der Strukturierung geht von einem Strukturbegriff aus, der eine starke Erweiterung jenes Begriffsverständnisses von „Struktur“ erfordert, welches den Sprachgebrauch der allgemeinen Soziologie ausmacht. Zunächst möchten wir Giddens' Strukturbegriff darlegen, um ihn daraufhin auf Unterschiede zu oder Gemeinsamkeiten mit ausgewählten Klassikern zu untersuchen. Dieses Vorgehen möchte vor allem jener Tatsache Rechnung tragen, dass ein wirkliches Verständnis nur durch gewahr werden von Giddens’ Theoriebildung möglich wird. Diese beruht auf einer fortwährenden reflexiven Begriffsentwicklung seines Schlüsselbegriffes. An die Stelle statischer Definitionen treten theorieadäquate Begriffsdeutungen. Vordergründig soll es nicht um die Frage nach Eklektizismus oder integrativem Geniestreich gehen, sondern um die Erkenntnis, ob der Strukturbegriff in Giddens' Werk eine fruchtbare Weiterentwicklung soziologischer Theorietraditionen ist. Eine Grundproblematik in Giddens’ Theoriebildungsprogrammatik ist hierbei das chamäleonartige und inkonsistente Verhalten seines Strukturbegriffs. Hiermit ist Giddens' eigene recht inkonsequente Verwendung des Strukturbegriffes gemeint, die er auch in seinem Buch „Die Konstitution der Gesellschaft“ (Giddens, 1997: 70) zugibt. Freilich liefert er eine Begründung für seine Vorgehensweise: Der weiche Strukturbegriff der „orthodoxen“ Sozialwissenschaften (Sozialstruktur, Gesellschaftsstruktur) müsse nicht vollständig aufgegeben werden, solange man auf eine solch doppelte Begriffsdeutung nicht in ein und derselben Argumentationskette zurückgreift. Im Laufe unserer Arbeit wird aber auch deutlich werden, wie verwirrend ein solch „laxer“ Umgang mit Begriffsdefinitionen sein kann. Zunächst handeln wir hierzu Giddens' Strukturbegriff isoliert ab, um ihn später auf vergleichender Basis tiefer ergründen zu können. Am Ende wird ein zusammenfassendes Resümee stehen.

2. Giddens' Strukturbegriff

„Von Struktur kann man ganz allgemein sprechen, wenn eine Mehrzahl von Einheiten in einer nicht zufälligen Weise miteinander verbunden ist, so dass sich Regelmäßigkeiten zeigen.“ (Bahrdt 2000: 108) Die allgemeine Soziologie bezieht daher auch den Strukturbegriff auf die relativ dauerhaften Gebilde und Handlungszusammenhänge (soziale Rollen, Gruppenstrukturen, usw.) eines sozialen Beziehungsgeflechts.

Struktur im speziell giddens'schen Sinne soll verstanden werden als unspezifischer, übergeordneter Begriff, der in der realen Welt nicht erfahrbar ist. Bei Giddens ist Struktur die Eigenschaft sozialer Systeme, die sich in reproduzierten Praktiken vollzieht. Sie bestimmt also welche Art des Verhaltens in einem System wahrscheinlicher ist und welche weniger. Es sind nur die Praktiken eines Systems beobachtbar, nicht die Struktur desselben. Giddens benutzt hier den Systembegriff im herkömmlichen, sozialwissenschaftlichen Sinne: Systeme sind „reproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren oder Kollektiven, organisiert als regelmäßige soziale Praktiken“ (Giddens 1997: 77). Beim Strukturbegriff handelt es sich also um einen abstrakten Oberbegriff, der in verschiedenen Einzelkonzepten von Struktur zum Tragen kommt. Diese Strukturkonzepte sind quasi Teilaspekte von „Struktur“. Giddens betont eine für das Verständnis seiner Theorie äußerst wichtige Unterscheidung:

a) In einem eher technischen Sinne fasst Struktur eine „rekursiv organisierte Menge von Regeln und Ressourcen“ (Giddens 1997: 240). Regeln sollen bei Giddens verstanden werden als Techniken und verallgemeinerbare Verfahren, die in der Ausführung und Reproduktion sozialer Praktiken angewandt werden. Unter Einbeziehung jener, vom Akteur erlernten Regeln, und dem Bewusstsein der Folgen des Nichteinhaltens dieser, entscheidet er über sein Handeln. Unter Ressourcen versteht Giddens alle Mittel, die Akteure zur Generierung von Macht mobilisieren können, wobei Macht im giddens'schen Sinne die Möglichkeit zur Veränderung der Wirklichkeit bedeutet. Er unterscheidet dabei allokative und autoritative Ressourcen. Allokative Ressourcen sind materielle Güter wie Rohmaterialien, Produktionsinstrumente oder deren Erzeugnisse, bei autoritativen Ressourcen handelt es sich um nichtmaterielle, ermöglichende Hilfsmittel wie Bildung oder Informationsstand.
b) Bei einer etwas allgemeineren Auslegung kann man von Struktur in Bezug auf die institutionalisierten Aspekte von Gesellschaft sprechen - den Strukturmomenten (Giddens 1997: 240). Diese Strukturmomente sind dann sowohl Medium als auch Ergebnis rekursiver sozialer Praktiken, die eine kontinuierliche Existenz von sozialen Systemen über Raum und Zeit hinweg sicherstellen.

Neben diesen Strukturmomenten führt Giddens noch die Konzepte der „Strukturen“ und der „Strukturprinzipien“ ein um seine institutionelle Analyse vollständig zu machen. Strukturen sind dabei nicht als Plural von Struktur im obigen Sinne aufzufassen, sondern als eigenes Konzept unter dem Oberbegriff „Struktur“: „Strukturen“ nennt Giddens voneinander isolierbare Regel-Ressourcen-Komplexe, die an der institutionellen Vernetzung sozialer Systeme beteiligt sind. Der Plural soll also verdeutlichen, dass es sich hierbei um Strukturgefüge bzw. -komplexe handelt, die an der Formierung der umfassendsten, d.h. am weitesten in Zeit und Raum ausgreifenden Strukturmomente beteiligt sind. Diese umfassendsten und dauerhaftesten Prinzipien der Organisation gesellschaftlicher Totalitäten nennt Giddens „Strukturprinzipien“ (Giddens 1997: 240). Laut Lars Bo Kaspersen sind Gesellschaften im gidden’schen Sinne nichts anderes als Institutionenbündel, die durch unterschiedliche Strukturprinzipien produziert werden. Giddens benutze also das Konzept der Strukturprinzipien unter anderem, um zwischen verschiedenen Gesellschaftstypen zu differenzieren. Da aber laut Giddens die „Gesellschaft“ ein System im Netzwerk mit vielen anderen sei, werde klar, warum sich Giddens so sehr gegen die oft praktizierte Gleichsetzung von Nationalstaat und Gesellschaft sträubt (Kaspersen 2000: 45f). Giddens Theoriemodell wird durch eine Grafik anschaulicher:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1

Unsere Abbildung 1 basiert auf den Ausführungen Lars Bo Kaspersens zu Struktur und System bei Giddens: Am Beispiel der kapitalistischen Gesellschaft versucht er Giddens' Strukturkonzepte anschaulich zu machen (Kaspersen 2000: 44f). Demnach ist die moderne wirtschaftliche Arbeitsteilung ein Strukturmoment des Systems „Kapitalismus“. Unbestrittenerweise ist nämlich die Arbeitsteilung Medium und Ergebnis der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Wie bereits erwähnt sind giddens'sche „Strukturen“ Regel-Ressourcen-Komplexe, die an der Formierung von gesellschaftlichen Totalitäten beteiligt sind. In unserem Beispiel wäre dieser Komplex die Transformationsbeziehung zwischen Privatbesitz, Geld, Kapital, Arbeitsvertrag und Gewinn. Privatbesitz kann dazu verwendet werden Renteneinkommen zu erzielen, d.h. Geldmittel zu erwerben. Dieses Geld kann als Kapital in Arbeit investiert werden und so Gewinne abwerfen. Nun gestalten Privatbesitz, private Arbeitsverträge und private Profite aber auch die Gesellschaft als Ganzes aus. Sie formieren das Strukturprinzip der Trennung von Politik und Wirtschaft, das charakteristisch für den modernen Kapitalismus ist. Alle drei Konzepte (Strukturmomente, Strukturen und Strukturprinzipien) sind dabei nur Teilaspekte unter den Oberbegriff „Struktur“, der im Beispiel die Eigenheiten des Kapitalismus umfasst. Erkennbar ist auch eine Tendenz zur steigenden Abstraktion von der Mikro-Ebene zur Makro-Ebene, d.h. Strukturprinzipien greifen am weitesten in Raum und Zeit aus, sind aber gerade deshalb für das Individuum am wenigsten greifbar bzw. erfahrbar. Vice versa findet in Richtung der Mikro-Ebene eine Konkretisierung statt, das bedeutet der Einzelne ist sich der Strukturmomente eines Systems (hier: der Arbeitsteilung im Kapitalismus) eher bewusst.

3. Struktur und der historische Dualismus zwischen Subjekt und Objekt

3.1 Objektbezogene Ansätze

3.1.1 Karl Marx

Laut Marx lässt sich eine Gesellschaftsformation durch Vorherrschen einer bestimmten Produktionsweise kennzeichnen. Die Produktionsverhältnisse wiederum entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte, also der Produktionsmittel. Die hierarchische Ordnung in jeder Gesellschaft (nach der Urgesellschaft) ist nach Marx bestimmt durch die Besitzverhältnisse der Produktionsmittel. Jedes Gesellschaftsmitglied nimmt eine bestimmte, von ihrem Willen unabhängige Position in dieser Hierarchie ein, woraus sich entsprechende Handlungschancen und -interessen ergeben. Durch strukturelle Vorgaben werden je nach Position in diesem Strukturgeflecht soziale Orientierungen und Aktivitäten für bestimmte Gesellschaftsgruppen begründet. Was Marx unter Struktur oder genauer ökonomischer Struktur versteht, wird recht einfach deutlich in dem Satz „Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, [d.h.] die reale Basis[...]“ (MEW 1956: 8f). Mit der Basis ist die Produktionsweise, i.e. das bestehende System gemeint. Betrachtet man nun Marx' Werk aus giddens'scher Begriffsperspektive, lassen sich durchaus theoretische Parallelen entdecken: Bei Giddens beschreibt Struktur die Eigenschaft von Systemen. Genau dasselbe meint Marx wenn er in seinem terminologischen Apparat ausführt, dass das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (Struktur) das Wesen der Produktionsweise (System) ausmachen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2

Abbildung 2 geht noch einen Schritt weiter und differenziert Marx' Theorie nach spezifisch gidden'scher Terminologie: Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse mit ihren zugehörigen Elementen sind somit Strukturmomente, weil sie die kontinuierliche Existenz der Basis sicherstellen. Den Komplex, welcher aus der Vernetzung dieser Strukturmomente entsteht, würde Giddens mit „Strukturen“ bezeichnen. Strukturprinzip, weil in die Reproduktion gesellschaftlicher Totalitäten inbegriffen, ist die Produktionsweise.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Der Strukturbegriff von Anthony Giddens
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Veranstaltung
Seminar
Note
1,3
Autoren
Jahr
2006
Seiten
24
Katalognummer
V68552
ISBN (eBook)
9783638610865
Dateigröße
412 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Strukturbegriff, Anthony, Giddens, Seminar
Arbeit zitieren
Simon Schmid (Autor:in)Andreas Bschaden (Autor:in), 2006, Der Strukturbegriff von Anthony Giddens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68552

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