Peter Rühmkorfs Märchen - Anders als die der ART-Genossen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

22 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1. Märchen in Peter Rühmkorfs Werk
1.1 Auf Wiedersehen in Kenilworth
1.2 Der Hüter des Misthaufens
1.3 Märchenfragmente in „TaBu“

2. Märchen von Zeitgenossen
2.1 Märchensammlungen
2.1.1 Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen, neu erzählt von Autoren unserer Zeit
2.1.2 Iring Fetscher: Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Das Märchen-Verwirrbuch
2.2 Binnenmärchen in Günter Grass’ „Der Butt“ und Ingeborg Bachmanns „Malina“

3. Vergleich von zwei Märchen aus „Der Hüter des Misthaufens“ mit Märchen anderer Autoren
3.1 Peter Rühmkorf „Rotkäppchen und der Wolfspelz“ und Iring Fetcher „Rotschöpfchen und der Wolf“
3.2 Peter Rühmkorf „Blaubarts letzte Reise“ und Heinz von Cramer „Ritter Blaubart“

4. Eine Gattung für die Märchen Rühmkorfs
4.1 Peter Rühmkorfs Parodie Konzept
4.2 Peter Rühmkorfs Märchen: Antimärchen oder Parodie?

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Anfang der 80´er Jahre veröffentlichte Peter Rühmkorf mit „Auf Wiedersehen in Kenilworth“ und der Sammlung „Der Hüter des Misthaufens - Aufgeklärte Märchen“ zahlreiche Märchen. Damit wagt er den Sprung in ein neues Terrain, denn zuvor war noch keine fiktive Prosa von ihm erschienen. Was ihn dazu veranlaßte, was den Dichter zu den Märchen brachte, soll hier aber nicht untersucht werden, weil die Beschäftigung mit den Märchen keine Besonderheit darstellt, sondern eher ein Trend der Zeit war.

In den 70’er Jahren zog das Märchen wieder in die Literatur ein. Es wurden viele Neufassungen bekannter Volksmärchen geschrieben, die meist in Sammlungen von Märchen mehrer Autoren, wie „Das Große Deutsche Märchenbuch“ oder „Märchen, Sagen und Abenteuergeschichten auf alten Bilderbogen, neu erzählt von Autoren unserer Zeit“ erschienen. Daneben stehen Sammlungen eines einzigen Autors wie „Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Das Märchen-Verwirrbuch“ von Iring Fetscher oder „JANOSCH erzählt Grimm´s Märchen“[1] von Horst Eckert (Janosch). Die Gattung Märchen zog aber auch in den Roman ein, hier wurden sie als Erzählung auf der Ebene der Erzählung integriert, erscheinen also als Binnenmärchen.

Außerdem wurde auf theoretischer Ebene über das Erziehungsziel der Märchen diskutiert. In dieser kontroversen Diskussion wurde dem Märchen einerseits ein repressiver Charakter unterstellt, andererseits wurde im Märchen „etwas durchaus Subversives“ ausgemacht[2]. Von dem repressiven Geist sollte das Märchen wohl durch die neuen Versionen befreit werden.

Beschäftigt man sich mit Märchen, führt dies unumgänglich zur Diskussion über den Gattungsbegriff und dessen Definition, dieser soll hier aus dem Weg gegangen werden.[3] Märchen deren Autor nicht bekannt ist, wie die aus der Sammlung der Gebrüder Grimm, sollen als Volksmärchen, solche von namentlich bekannten Autoren als Kunstmärchen oder, wenn es sich um Neufassungen von Volksmärchen handelt, als Neufassung bezeichnet werden[4].

In dieser Arbeit soll gezeigt werden, wie Rühmkorf durch seine Märchen an der Diskussion über das Erziehungsziel teilnahm. Ob sich seine Märchen in eine Reihe mit Märchen anderer Autoren stellen lassen, oder ob sie sich von ihnen unterscheiden. Am Ende gilt es schließlich die Frage zu beantworten, ob Rühmkorfs Märchen in sein Parodiekonzept passen, oder ob er mit ihnen eher in der Tradition des Antimärchen steht.

Um diese Fragen beantworten zu können, wird wie folgend vorgegangen:

Im ersten Kapitel sollen alle Märchenveröffentlichungen Rühmkorfs kurz vorgestellt werden. Hier geht es nicht um die genauere Analyse aller Märchen, sondern nur der beiden Neufassungen, die in den Kapiteln drei und vier behandelt werden. Die Neufassungen wurden gewählt, weil es bei der Diskussion vor allem um die alten Volksmärchen ging und, dank der vielen anderen Neufassungen, Texte zum direkten vergleich vorliegen.

Im zweiten Kapitel sollen die Sammlungen vorgestellt werden, in denen die Neufassungen erschienen, die in Kapitel drei mit den Neufassungen Peter Rühmkorfs verglichen werden sollen. Ferner wird von zwei Romanen, Günter Grass „Der Butt“ und Ingeborg Bachmann „Malina“, die Rede sein, in denen Märchen als Binnenerzählung vorkommen.

In Kapitel drei folgt der schon angesprochene Vergleich der Neufassungen. Abschließend soll in Kapitel vier Rühmkorfs Parodiekonzept aus dem Essay „Beim Abdecker oder Mit Vorsatzpapieren“ vorgestellt und dabei untersucht werden, ob seine neuverfaßten Märchen in dieses passen. Außerdem soll den Gedanken Walter Seiferts folgend beantwortet werden, ob Rühmkorfs Märchen in der Tradition des Antimärchen stehen.

1. Märchen in Peter Rühmkorfs Werk

1.1 Auf Wiedersehen in Kenilworth

Rühmkorfs erstes Märchen „Auf Wiedersehen in Kenilworth“[5] erschien als Einzelveröffentlichung. Der Text scheint ungewöhnlich lang für ein Märchen zu sein. Die Handlung ist aber schnell wiedergeben: Der Aufseher eines Schlosses wird eines Nachts in eine Katze verwandelt, seine Katze in derselben Nacht in einen Menschen. Der Handlungsraum verschiebt sich für den ehemaligen Menschen nach Rom, für die zum Mädchen gewordene Katze nach Indien. Im weiteren Verlauf werden die Probleme der beiden Verwandelten abwechselnd, in einzelnen Kapiteln geschildert. Zum Ende hin begegnen sich die beiden wieder und kehren nach Kenilworth zurück. Auf diese Rückkehr weißt schon der Titel hin und sie wird am Anfang des Märchens bereits angedeutet. Eine Rückverwandlung bleibt allerdings aus.

Durch die wundersame Verwandlung, die ein tragendes Element der Handlung ist, hat der Text eindeutig märchenhaften Charakter und kann somit als Märchen bezeichnet werden.

1.2 Der Hüter des Misthaufens

Drei Jahre nach „Auf Wiedersehen in Kenilworth“ erschien Rühmkorfs Märchenband „Der Hüter des Misthaufens – Aufgeklärte Märchen“. Hier finden sich 13 Märchen, elf eigene und zwei Neufassungen bekannter Volksmärchen. Mit den Neufassungen bringt Rühmkorf nichts Neues, vielmehr liegt er im Trend, denn in den 70’ er Jahren wurden viele neue Versionen von Volksmärchen veröffentlicht. Von diesen Märchen setzt sich Rühmkorf ab, da sein Band neben den neuen Versionen vor allem eigene Märchen enthält. Hier soll nur auf die Neufassungen von „Ritter Blaubart“ und „Rotkäppchen“ eingegangen werden.

Das Volksmärchen „Rotkäppchen“ ist bei Rühmkorf zu „Rotkäppchen und der Wolfspelz“ geworden. Die Rahmenhandlung des Märchens wurde von Rühmkorf nicht grundlegend verändert, Rotkäppchen geht bepackt mit Kuchen und Wein durch den Wald zur Großmutter und trifft den Wolf. Über die Rahmenhandlung hinaus wurde aber einiges abgeändert.

Der Zeitpunkt ist zwar nicht festgelegt, was typisch für ein Märchen ist, liegt aber klar in der Gegenwart, zumindest in nicht sehr ferner Vergangenheit, da gleich am Beginn vom Erzähler darauf hingewiesen wird, daß die rote Kappe das Mädchen vor den Gefahren des Straßenverkehrs bewahrte: „[...] daß das Mädchen schon auf tausend Meter und mehr zu erkennen war und die Autofahrer augenblicklich den Gasfuß lockerten und auf die Bremse traten“[6].

Der Ort der Handlung wird ebenfalls untypisch für Märchen klar definiert. Es spielt in Norddeutschland, denn die Großmutter lebt in Niederwolfsbruchermoor / über Stade-Elbe, und Rotkäppchen geht in Stade zur Schule.

Außer dem Grundgerüst der Handlung - Mädchen geht in den Wald und trifft auf Wolf - bleibt nicht mehr viel übrig. Rotkäppchen wird wegen seiner roten Kappe geärgert und bekommt von seinen Mitschülern weitaus gemeinere Namen, scheint sich aber nicht daran zu stören, da es die Kappe lange Zeit weiter trägt, selbst als es „[...] in die Jahre kam [...]“[7]. Rotkäppchen ist nicht das brave, gehorsame Mädchen aus dem Volksmärchen, sondern trägt die Kappe aus Trotz, was Vater und Mutter ratlos macht: „Woher das Kind das nur hat?!“[8]. Sie ist eine Außenseiterin mit rebellischen Tendenzen, denn sie „[...] scherte sie nur wenig um das ganze Ordnugsgewese [...]“[9] und antwortet auf die Warnung bei ihren Radausflügen auf Triebtäter achtzugeben mit den eher unbeeindruckten Worten „Jojo, klarklar.“[10]. Als Rotkäppchen von den Eltern mit Wein und Kuchen zur Großmutter, die nicht alt und gebrechlich, sonder eine rüstige Maßschneiderin ist, geschickt wird, geht sie auch keinesfalls brav dorthin, sondern treibt sich im Wald herum, ißt vom schon etwas angeschmolzenen Kuchen und betrinkt sich: „ [...] bis das Rotkäppchen – wie sollen wir sagen? – auf eine seltsame Weise unternehmungslustig wurde und ganz tolle Schlangenlinien fuhr [...]“[11]. Das Rotkäppchen ist kein naives kleines Mädchen, denn als sie dem Wolf begegnet, ist sie gerade dabei den Wein mit Wasser aufzufüllen, um ihre Schlücke zu vertuschen, und versucht den Wolf gleich in die Weinpanscherei mit hineinzuziehen, „denn:“, so denkt sie sich, „mitgestohlen [...] heißt wohl auch: mitverhohlen.“[12]. Außerdem setzt sie den Wolf darauf als Boten ein, der den Wein und den Kuchen zur Großmutter bringen soll, weil sie noch Blumen pflücken möchte. Sie wird also vom Wolf nicht überredet, sondern handelt aus eigenem Antrieb heraus.

Der Wolf ist nicht der listige Mörder aus dem Volksmärchen, sondern etwas geistesarm, erkennt er nicht einmal, daß es sich bei der von ihm vermeintlich verschlungenen Großmutter um ihre Schneiderpuppe handelte und macht sich keine Gedanken aus dem Hinweiszettel „Ich komme gleich wieder“. Etwas schlauer stellt er sich schon bei seiner Forderung noch Wein an, als er Rotkäppchen an ihren unerlaubten Weingenuß erinnert. So kommt es das Rotkäppchen und der Wolf gemeinsam Wein trinken, der Wolf dabei immer melancholischer und keineswegs bösartig wird und „ [...] lange Gespräche über einsame Wölfe führen [...]“[13] möchte. Rotkäppchen dagegen wird immer alberner und tanzt herum.

Nach dieser Trinkrunde will der Wolf mit Rotkäppchen ins Bett. Was er mit Rotkäppchen vorhat, ob er sie auch fressen möchte wie die Schneiderpuppe, oder ob er sie vergewaltigen möchte, kann nur indirekt aus der Äußerung des Mädchens: „ [...] daß zu Bett noch lange nicht schlafen heiße [...]“[14], was das Bett als möglichen Ort eines sexuellen Aktes kennzeichnet, entnommen werden. Es kann aber auch nur ausdrücken, daß das Mädchen noch nicht ins Bett möchte, da es den Abstand zu seinen Eltern ausnützen und noch wach bleiben möchte, was naheliegt, da sie es im Gedanken an die Eltern ausspricht. Das Mädchen scheint aber den Wolf schon enttarnt zu haben, denn es stellt Bedingungen für den gemeinsamen Gang ins Bett. Nach der Aufforderung an den Wolf es ihr gleichzutun und sich zu waschen, verlangt sie von ihm, daß er sich seines Pelzes entledigt. Möglich sind nun zwei Deutungen, die aber beide zum gleichen Resultat führen. Nimmt man an, das Mädchen glaubt tatsächlich, es habe einen Wolf vor sich, möchte sie ihn durch ihren Wunsch dazu bringen sich selbst zu verstümmeln. Möglich ist auch, sie hat schon erkannt, wer sich hinter dem Wolf verbirgt und zwingt ihn durch ihren Wunsch sich zu enttarnen. Wie dem auch sei, das Mädchen verunsichert den Wolf durch ihren Wunsch sehr geschickt, er ist ratlos und bittet Rotkäppchen ihm beim Ablegen des Pelzes zu helfen. Sie hilft ihm und unter dem Wolfspelz kommt „[...] ein bleicher nackter Jüngling [...]“[15] zum Vorschein. Nun schält sich der Erzähler in die Handlung ein und entschuldigt den Nackten, der keine Zeit hat dieses Wunder zu erklären, weil er kurz nach seiner Enttarnung die verschluckte Schneiderpuppe erbricht. Diese Entschuldigung zeigt, daß es sich von Anfang an um einen jungen Mann im Wolfspelz handelt und nicht um einen Wolf der auf wundersame Weise zu einem jungen Mann wird. Wäre dies der Fall, so könnte er das Wunder auch ohne den durch die verschluckte Puppe hervorgerufenen Brechreiz nicht erklären. Auch der Titel der Neufassung „Rotkäppchen und der Wolfspelz“ weist darauf hin, daß es sich nicht um einen Wolf, sondern nur um einen Pelz, mit was auch immer darunter handelt.

[...]


[1] Horst Eckert: JANOSCH erzählt Grimm’s Märchen. Weinheim 1972.

[2] Walter Filz: Es war einmal?. Elemente des Märchens in der deutschen Literatur der siebziger Jahre. Frankfurt am Main 1989. S. 24.

[3] Zur Definition und zum Gattungsbegriffe vgl: Kapitel Kunstmärchen, Märchen, Märchenelemente – Einige Vorüberlegungen in: Filz: Es war einmal? S. 12-21.

[4] Zur Definition vgl: Günther Schweikle: Artikel Märchen. in: Metzler Literatur Lexikon. Hg. v. Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990. S. 292-93.

[5] Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth. Frankfurt am Main 1986.

[6] Peter Rühmkorf: Der Hüter des Misthaufens. Aufgeklärte Märchen. Hamburg 1996. S. 229.

[7] Ebd. S. 230.

[8] Ebd.

[9] Rühmkorf: Der Hüter des Misthaufens. S. 230.

[10] Ebd.

[11] Ebd. S. 232.

[12] Ebd. S. 233.

[13] Ebd. S. 235.

[14] Rühmkorf: Der Hüter des Misthaufens. S. 236.

[15] Ebd. S. 238.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Peter Rühmkorfs Märchen - Anders als die der ART-Genossen
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Deutsches Seminar)
Note
2
Autor
Jahr
2001
Seiten
22
Katalognummer
V6851
ISBN (eBook)
9783638143295
Dateigröße
391 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Peter, Rühmkorfs, Märchen, Anders, ART-Genossen
Arbeit zitieren
Michael Kossack (Autor:in), 2001, Peter Rühmkorfs Märchen - Anders als die der ART-Genossen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6851

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