Kooperation von Jugendhilfe und Schule


Examensarbeit, 2006

62 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Institution Schule
2.1. Gesetzliche Rahmenbedingungen; Gesellschaftlicher Auftrag
2.2. Einstellungen und Erwartungen von Schule zu Jugendhilfe
2.3. Kritik am System Schule

3. Institution Jugendhilfe
3.1. Gesetzliche Rahmenbedingungen (KJHG); Gesellschaftlicher Auftrag
3.2. Zielvorstellungen
3.3. Einstellungen von Jugendhilfe zu Schule

4. Gemeinsame Zielvorstellungen von Jugendhilfe und Schule
4.1. Kooperationsformen

5. Definitionen und Inhalte von formeller, informeller und nichtformaler Bildung

6. Gesellschaftlicher Wandel
6.1. Wandel der Sozialisationsinstanz Familie – Legitimation für verstärkte Kooperation?

7. Kooperationshemmnisse: Unterschiede von Jugendhilfe und Schule

8. Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule möglich?

9. Überlegungen zum Ganztagsschulkonzept: Anforderungen an die „neue Schule“
9.1. Vorbehalte gegenüber Ganztagsschulen
9.2. Vorteile und Positive Erfahrungen mit Ganztagsschulkonzepten

10. Projektbeispiel für eine gelungene Kooperation

11. Fazit

12. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Neben dieser Schlampe will ich nicht sitzen.“ Lehrer beklagen sich über die ansteigende Verrohung vieler Schüler. Beleidigungen wie die eben angeführte dokumentieren darüber hinaus eine zunehmende Verarmung rhetorischer Fähigkeiten. Offene Aggression von Schülern gegenüber Lehrkräften ist in den letzten Jahren überproportional gestiegen.

Das System Schule in seiner heutigen Gestalt kann diese Probleme nicht im Alleingang lösen, sondern braucht gesellschaftliche und politische Unterstützung.

Auslöser für die außerordentlich lebhafte Diskussion in Bezug auf Änderungen im deutschen Schulsystem ist der PISA-Schock aus dem Jahr 2000. Die deutschen Schüler erbrachten unzureichende Leistungsergebnisse bei der Lesekompetenz. Darüber hinaus fielen die extrem ungleichen Bildungschancen der getesteten Schüler auf.[1] Beispielsweise liegt der Mittelwert in Bezug auf die Lesekompetenz von Kindern aus der oberen Dienstklasse bei 538 Punkten und damit um 100 Punkte höher als die von Kindern aus Haushalten mit Facharbeitern und ungelernten Arbeitern.[2]

Doch wie kann man der Bildungsmisere entgegensteuern und der Bundesrepublik im Bereich der Bildung wieder einen Platz in der Spitzengruppe innerhalb der EU ermöglichen?

Welche gesellschaftlichen und politischen Kräfte müssen zur Erreichung dieses Ziels mobilisiert werden? Welche Institutionen müssen kooperieren?

Die folgende Ausarbeitung gibt einen Überblick über die Kooperation von Jugendhilfe und Schule und versucht dabei folgende Fragen hinreichend zu beantworten: Welches sind die Beweggründe für Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule? Wie kommen umsetzbare Kooperationskonzepte zustande? Mit welchen Mitteln werden sie finanziert? Wer regelt Anstellung und Bezahlung des Personals? Wer kümmert sich um die institutionellen Rahmenbedingungen? Was hindert die beiden Systeme Jugendhilfe und Schule gemeinsame Konzepte zu entwickeln und diese dann auch in die Praxis umzusetzen?

Zunächst wird dabei die Institution Schule mit ihren gesetzlichen Rahmenbedingungen und Zielvorstellungen beleuchtet. In einem weiteren Kapitel. werden die Einstellungen und Erwartungen gegenüber Jugendhilfe von Seiten der Schule dargestellt. Der Überblick der Institution Schule endet mit einer kritischen Betrachtung von Schule in ihrer gegenwärtigen Form. Dabei werden Meinungsäußerungen von Eltern, Lehrern, Politikern und Schülern berücksichtigt.

In einem zweiten Teil wird das Feld der Jugendhilfe ebenfalls hinsichtlich der gesetzlichen Rahmenbedingungen und Zielvorstellungen näher betrachtet. Die Einstellungen von Jugendhilfe gegenüber Schule runden die Vorstellung dieser Institutionen ab.

Um die Frage nach den Beweggründen von Kooperation hinreichend beantworten zu können, werden die gemeinsamen Zielvorstellungen von Jugendhilfe und Schule heraus gearbeitet.

Durch die Beschreibung der schon vorhandenen Kooperationsformen ergibt sich die Möglichkeit, Vor- und Nachteile dieser Konzepte nach Kriterien der Evaluation im Rahmen von Qualitätsentwicklung in neue Entwürfe einfließen zu lassen. Die unterschiedlichen Kooperationsformen werden in Kapitel 9 bezüglich der Überlegungen zu Ganztagsschulkonzepten erneut aufgegriffen.

Sodann wird eine Begriffsdefinition von formeller, informeller und nichtformaler Bildung unternommen. Die Frage nach den Beweggründen für Kooperation wird in Kapitel 6 aufgegriffen, indem der gesellschaftliche Wandel und der damit zusammenhängende Umbruch der Sozialisationsinstanz Familie untersucht wird. Hierbei werden die veränderten Anforderungen von Schule gegenüber den in der heutigen Gesellschaft aufwachsenden Kindern und Jugendlichen deutlich. Darüber hinaus kann so nachvollzogen werden, warum das System Schule in seiner jetzigen Form kaum Mechanismen bereithält, um adäquat auf diese Veränderungen reagieren zu können.

Die Frage nach Kooperationshemmnissen wird in Kapitel 7 an den Beispielen Schule und Jugendhilfe fortgesetzt. Hier wird deutlich werden, dass sich Fronten teilweise über die Jahre hinweg offensichtlich in einer Weise verhärtet haben, die die Überwindung dieser Diskrepanzen nicht von heute auf morgen gelingen lässt.

Wie aber können diese unterschiedlichen Anforderungen und Wertvorstellungen von Seiten der Jugendhilfe und Schule überwunden werden? Welche Konzepte sind notwendig? Welche Kompromisse sind ratsam? Welche Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen und der gesetzlichen Bestimmungen müssen vorangetrieben werden? Welche Veränderung sollte in den Köpfen aller Beteiligten stattfinden? Kapitel 8 versucht diese Fragen zu beantworten und formuliert somit umsetzbare Anforderungen an gelingende Kooperation.

Die bis zu diesem Zeitpunkt erstellte Bestandsaufnahme mündet in Überlegungen zu Ganztagsschulkonzepten. Hierbei werden zunächst die Anforderungen an die neue Schule ausführlich sowie aus dem Blickwinkel aller Beteiligten beschrieben. Die Erarbeitung gemeinsamer Richtlinien wird teilweise durch die Existenz zahlreicher recht unterschiedlicher Konzepte erschwert. Die Einstellungen gegenüber Ganztagsschulen von Seiten der Eltern, Lehrer, Politiker, Pädagogen und Schüler werden sodann ausgeführt.

Positive Erfahrungen mit Ganztagsschulen werden aufgegriffen und an einem kurzen Beispiel aus dem Ausland erläutert. Da Erfahrungswerte bezüglich Ganztagsschulen in der Bundesrepublik Deutschland weitgehend fehlen, sind alle angestellten Überlegungen eher theoretisch begründet.

Nach diesem theoretischen Überblick wird sodann ein Beispiel für eine gelungene Kooperation beleuchtet. An einer hessischen Gesamtschule gibt es zwei vom regionalen Jugendamt finanzierte Tagesgruppen, die durch einen privaten Träger organisiert werden. Kindern aus bildungsfremdem Milieu wird in diesem Projekt eine verzahnte Unterstützung von Jugendhilfe und Schule angeboten. So werden die schulischen Aktivitäten wie Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe mit den pädagogischen Maßnahmen verknüpft, um eine umfassende und bedarfsgerechte Förderung aller Kinder und Jugendlichen unter Einbeziehung der Eltern und Lehrer zu erreichen.

Das Schlusskapitel greift einzelne bereits behandelte Aspekte heraus. Es wird zunächst Position zur Schulkritik bezogen, die dann in der Bewertung der Kooperationshemmnisse mündet. Sodann werden die Überlegungen zum Ganztagschulkonzept und die daraus resultierenden Vor- und Nachteile detailliert diskutiert. Überlegungen zur Kooperation von Jugendhilfe und Schule werden selbstverständlich mit einbezogen.

Um ein flüssigeres Lesen der Arbeit zu ermöglichen, wurde auf die Nennung der weiblichen Endungen bei der Erwähnung von Personen verzichtet.

2. Institution Schule

Im Folgenden werden die institutionellen Rahmenbedingungen von Schule erläutert.

Schulen in der Bundesrepublik sind in der Regel Halbtagsschulen mit verpflichtendem Unterricht am Vormittag. Es liegt im Ermessen der Schule, ob nachmittags AGs angeboten werden, deren Inanspruchnahme Angebotscharakter hat. Gesamtschulen bieten mittlerweile fast durchwegs eine pädagogisch beaufsichtige Mittagsbetreuung an.

Schule hat einen extrem hohen Stellenwert bei der Prägung ihrer Schüler und ist daher nach dem Elternhaus die wichtigste Sozialisationsinstanz. Die Bedeutung der Schule für das Leben der Kinder und Jugendlichen lässt sich mit der hohen Zahl von 15000 besuchten Unterrichtsstunden eindrucksvoll verdeutlichen.

Schule verfügt über eine Verteilungsfunktion, da sie gesellschaftliche Chancen zuordnet und damit maßgeblich die berufliche Zukunft ihrer Schüler prägt. Dadurch sollten die Schüler mit Kompetenzen ausgestattet werden, die sie für die Gestaltung einer zufrieden stellenden gesellschaftlichen und beruflichen Zukunft benötigen.[3]

Um diesem Auftrag gerecht werden zu können hat der Gesetzgeber die Schule mit „Eingriffs- und Kontrollfunktionen gegenüber der Familie“ ausgestattet.[4] Diese Funktionen sind allerdings eingeschränkt, und können nur bei grob fahrlässigen Verhalten der Erziehungsberechtigten angewendet werden, da Erziehung das natürliche Recht der Eltern ist. Dabei ist das Erziehungsrecht von Schule dem der Eltern nicht nach-, sondern gleichgeordnet.

2.1. Gesetzliche Rahmenbedingungen; Gesellschaftlicher Auftrag

Die rechtliche Definition von Schule, wie sie in diesem oder etwas abgewandeltem Wortlaut im Schulgesetz der einzelnen Bundesländer zu finden ist, lautet: Schule ist eine

„auf eine bestimmte Dauer angelegte, unabhängig vom Wechsel der Schüler und Lehrer bestehende Einrichtung, die dazu dient, ihre Schüler im räumlichen Beisammensein von Lehrenden und Lernenden nach einem vom Staat festgesetzten oder genehmigten Bildungsplan zu unterrichten und zu erziehen.“[5]

Durch diese Definition wird der Einfluss des Staates auf die Bildungsinhalte deutlich. Die Unterrichtsinhalte werden von diesem bestimmt, ohne dass Eltern, Schüler und Lehrer eigene Vorstellungen mit einbringen könnten. Dies macht auch die „Wesentlichkeitstheorie“ deutlich, die besagt, dass die wesentlichen Entscheidungen im Schulwesen vom Gesetzgeber selbst zu treffen und nicht der Schulverwaltung zu überlassen sind.[6] Das Schulwesen besteht aus allen allgemein- und berufsbildenden Schulen.

Ein gemeinsames deutsches Schulrecht gibt es wegen der Kulturhoheit der einzelnen Bundesländer nicht. Das Grundgesetz stattet die Länder jedoch mit Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen aus (Artikel 30 und 70 ff. GG). Die Schulgesetze müssen mit dem Grundgesetz, dessen Artikel die oberste Norm unserer Rechtsordnung darstellen, vereinbar sein.[7] So heißt es in Artikel 7 Abs. 1 GG:„Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.“[8] Dabei muss beachtet werden, dass nach Artikel 31 des Grundgesetzes Bundesrecht Landesrecht bricht.

Die Bundesländer regeln Anstellung, Beförderung und Versetzung der Lehrer. Die Kommunen regeln die Organisation, Unterhaltung und Verwaltung der einzelnen Schulen, ganz nach dem Motto: „Die Gemeinde baut als Trägerin der Schule das Haus, Herr im Haus aber ist der Staat“.[9] Daher haben die Kommunen bei der Lehrerzuweisung kein Mitspracherecht.

Die 1948 gegründete Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) versucht, die aus der Kulturhoheit entstehenden Diskrepanzen durch gemeinsame Empfehlungen zur gleichartigen Behandlung und Regelung bestimmter Angelegenheiten zu minimieren. Ziel ist die Angleichung des Schulwesens der einzelnen Bundesländer, um bundeseinheitliche Bildungsstandards zu erreichen. Dies scheitert jedoch oftmals an den unterschiedlichen Prioritäten der Länder, da Entscheidungen in der KMK Einstimmigkeit erfordern.[10] Bei positiver Abstimmung können die Empfehlungen der KMK nach Verabschiedung durch die Länderparlamente bindendes Landesrecht werden.[11]

Neben der KMK ist 1970 die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung (BLK) mit Vertretern von Bund und Ländern zur Koordination von Bildungsfragen errichtet worden (Artikel 91 b GG).[12] Beschlüsse der BLK in die Realität umzusetzen ist wegen der Dreiviertelmehrheit von Seiten der Regierungschefs erheblich einfacher.[13]

Die Institution Schule hat den gesellschaftlichen und staatlichen Auftrag die ihr übergebenen Schüler zu unterrichten und dabei zu erziehen.

Schule hat mündige Bürger zu erziehen, die sich ihrer demokratischen Rechte und Pflichten bewusst sind und diese in ihr tägliches Handeln zu integrieren versuchen. Dabei sollte der Vermittlung eines „Mindestkonsenses ethischer, weltanschaulicher und politischer Grundwerte“ ein besonderer Stellenwert zugeschrieben werden.[14] Mit diesen Grundwerten werden Kinder- und Jugendliche für ihr Leben qualifiziert und das nötige Handwerkzeug für die Bewerkstelligung einer zufrieden stellenden Zukunft vermittelt. In der Schule treffen Kinder auf unterschiedliche Werte, Normen und Wertvorstellungen und müssen ihre mit denen der anderen Kinder in Beziehung setzen.[15]

2.2. Einstellungen und Erwartungen von Schule zu Jugendhilfe

Es besteht offenbar ein großer Bedarf seitens der Lehrer, das Feld der Jugendarbeit auch hinsichtlich der Kompetenzen ihrer unterschiedlichen Bereiche kennen zu lernen. Lehrer sollten wissen, wann und wie schnell einzelne Institutionen des Jugendamtes eingreifen dürfen und mit welchen Problemen das Jugendamt konfrontiert werden kann.[16] Bisher sieht Schule Jugendhilfe eher als einen Hilfsdienst zur Entlastung von den Schulbetrieb störenden Kindern, dabei wird ihr eher die Rolle zur Ausfüllung von Lücken im Arbeitsalltag zugestanden, „ganz nach dem Motto des Pausenclowns.“[17] Schule ist bislang den Möglichkeiten der Jugendhilfe eher mit Gleichgültigkeit begegnet in der Annahme, Jugendhilfe betreibe lediglich Nischenarbeit mit Randgruppen.[18] Lehrer wünschen sich oftmals einen ähnlich freundschaftlichen, ungezwungenen Umgang mit den Schülern wie den der Sozialpädagogen. Umgekehrt empfinden diese Schule oftmals als „umfassende Gegenwelt zum außerschulischen Leben von Kindern und Jugendlichen.“[19]

2.3. Kritik am System Schule

Das „tradierte Bild“ von Schule nur als „Belehrungsanstalt“ ist nicht mehr zeitgemäß.[20][21]

Das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland weist erhebliche Defizite auf, soziale Segregation wird durch den spezifischen Aufbau des Bildungssektors vorangetrieben.[22] Es muss festgehalten werden, dass die hier angedeuteten Mängel am System Schule kein Phänomen der letzten Jahrzehnte sind. Schon im Jahre 1968 hat der deutsche Bildungsrat Kriterien für die Erarbeitung neuer Schulkonzepte gegeben.[23]

Demnach hat das deutsche Schulsystem einen zu hohen Selektionsfaktor, sozial benachteiligte Kinder werden oftmals schon sehr früh, meist an den Gelenkstellen des Systems, ausgegrenzt. Als Gelenkstellen bezeichnet werden dabei die Übergänge zwischen den einzelnen Schulformen, also nach der Grundschule in die Schulformen der Sekundarstufe I sowie nach der 9. und 10. Klasse in die Berufschule oder in die Sekundarstufe II.[24] Einmal getroffene Entscheidungen bezüglich einer Schulform werden in der Praxis bezüglich einer späteren höheren Einstufung meist nicht mehr rückgängig gemacht und bestimmen den zukünftigen Lebensweg der Schüler in einem zu hohen Maße; die vollwertige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wird so erheblich erschwert.

Die institutionellen Rahmenbedingungen von Schule sind den künftigen pädagogischen Aufgaben keineswegs gewachsen.[25]

Befragungen von Grundschullehrern haben ergeben, dass die Empfehlungen für die weitere Schullaufbahn stark vom sozialen Status der Herkunftsfamilie abhängig gemacht werden, was eher unterbewusst geschieht.[26] Diese Empfehlungen haben allerdings keineswegs Rechtscharakter, sie sind nur Richtlinien zur Orientierung, denn die Wahl der Schulform ist Elternsache und im Grundgesetz als Elternrecht verankert.[27]

Der Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II erfolgt bei vielen Schülern wegen des Kosten-Nutzen-Prinzips nicht.[28] Nur zehn bis fünfzehn Prozent der Schüler, die aus Haushalten mit Facharbeitern und ungelernten Arbeitern kommen, besuchen das Gymnasium.[29] Die psychosozialen Auswirkungen dieser Auslese sind enorm und können von dem derzeitigen System Schule nicht aufgefangen werden.[30]

Die Sinnhaftigkeit der Drei- bzw. Viergliedrigkeit des Schulsystem hält der kritischen Überprüfung nicht stand. Das deutsche Bildungssystem läuft Gefahr, im Vergleich zu anderen europäischen Staaten ins Hintertreffen zu geraten, wenn an diesen althergebrachten Konzepten festgehalten wird.

Lerninhalte sind zu wenig an den außerschulischen Bedürfnissen von Schülern orientiert, Schulwissen scheint größtenteils alltagsuntauglich zu sein. Schüler haben kaum Möglichkeiten, auf die Inhalte des Unterrichtgeschehens Einfluss zu nehmen und diese auf ihre Bedürfnisse und Interessen abzustimmen. Schule sei eine „sonderbare Insel, auf der sie [die Schüler] sich jeden Tag einige Stunden zwangsweise aufhalten mußten.“[31] Schulen müssen sich der Tatsache stellen, dass sie nicht losgelöst von den umgebenden sozialen Strukturen agieren können.[32] Die Mitbestimmung bezüglich der Bildungsinhalte und der Rahmenbedingungen verläuft in relativ engen Bahnen.[33]

Der Unterricht ist zu lehrerdominant ausgerichtet, dabei werden die Schüler permanent sozial kontrolliert und können sich nicht frei entfalten.

PISA hat gezeigt, dass die Kompetenz der 15-Jährigen im Bereich der Lesekompetenz unterdurchschnittlich ist. Wichtiger als diese Erkenntnis ist die Tatsache, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsfähigkeit bzw. Bildungserfolg in Deutschland so in keinem der anderen 31 an dem Test teilnehmenden Länder zu finden ist.[34]. Zu diesem Schluss kommt auch das Deutsche Bundesjugendkuratorium in der dritten seiner Leipziger Thesen: „Das deutsche Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit.“[35]

Schulen können immer nur bestimmte Altersjahrgänge erfassen, so bekommen sie oftmals nur einen Ausschnitt aus dem Leben der Schüler mit.[36]

Schule konzentriert sich in den meisten Fällen weitgehend auf die Entwicklung des eigenen Systems und die Gestaltung von Schullaufbahnen und lässt die außerschulische Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen außer Acht. Demzufolge sollte die Verknüpfung von Alltags- mit Expertenwissen schülernah aufbereitet werden.

Das System Schule ist zu starr, zu unflexibel und entspricht keineswegs den unterschiedlichen Bedürfnissen und Entwicklungsvoraussetzungen von jungen Menschen.[37]

Die Aneignung von reflexiven und sozialen Kompetenzen, die ein wohlbegründetes verantwortliches Handeln ermöglichen, wird in der Schule zu wenig gefördert.[38]

Es gibt Mängel in der Lehrerausbildung. Das Studium ist zu wissenschaftsorientiert und praxisfern. Probleme an den einzelnen Schulen werden durch wenige neue Lehrerstellen und damit überaltetes Kollegium hervorgerufen, zusätzlich lässt die Medienkompetenz gerade von Lehrern der älteren Generation zu wünschen übrig. Auf Grund der desolaten öffentlichen Haushaltslage sind die Lehrmittel veraltet. in dörflichen Regionen fehlen ausgebildete Lehrer. Der Mangel an männlichen Lehrern kann zu Identifikationsproblemen von männlichen Schülern führen. Problemschulen, gerade in sozialen Brennpunkten, sind in der Not, überhaupt Lehrer zu finden.[39]

Annähernd neun Prozent der Jugendlichen in Deutschland verlassen die Schule ohne Abschluss.[40] Dies belegt der zwölfte Kinder- und Jugendbericht aus dem Jahre 2005. Schulversäumnisse und unregelmäßiger Schulbesuch sind ein in Deutschland massiv unterschätztes Problem.[41] Lehrer verschleiern dieses Problem oftmals. Schule nimmt ihren Erziehungs- und Bildungsauftrag gegenüber diesen Kindern und Jugendlichen nicht angemessen wahr.[42]

Die Zurückstellung von Kindern bei der Einschulung verstärkt deren Probleme. Durch das längere Verbleiben in einer Familie mit defizitären Lebensverhältnissen wird die anschließende Bildungsaspiration erschwert. Oftmals wiederholen zurückgestellte Kinder die dritte oder vierte Klasse und verlieren damit schnell den Anschluss an ihre Mitschüler. In diesem Alter bedeuten zwei Jahre Altersunterschied eine fast nicht zu überwindende Wissensdiskrepanz.

Im Mittelpunkt der Schule steht die Wissensvermittlung. Schule vergisst allerdings, dass Schüler mit massiven Problemen im Elternhaus die Probleme nicht an der Schulpforte abgeben und sie zu Gunsten des Unterrichtsvormittags aus ihren Köpfen streichen. Man muss sich daher der Tatsache stellen, dass es immer Kinder geben wird, die mit so großen Problemen aus dem Elternhaus in die Schule kommen, dass sie durch das System Schule nicht im Alleingang gelöst werden können.[43] Aufgabe von Schule muss es daher sein zu versuchen, adäquat auf offensichtliche Schwierigkeiten von Kindern einzugehen. Daher müssen den Schülern Schutzmechanismen bzw. Vorschläge zur Lösung ihrer Probleme aufgezeigt werden. Dies kann nicht nur im Rahmen von Gesprächen mit Vertrauenslehrern geschehen, da der zeitliche Rahmen und der Personalschlüssel nicht auf eine Grundversorgung aller Schüler mit mehr oder weniger massiven Problemen ausgerichtet ist.

Schule betont die Vermittlung von Kompetenzen und Wissen für ein zukünftiges Bestehen in der Gesellschaft. Dieses nur auf die Zukunft konzentrierte System greift allerdings zu kurz. Jugendliche denken und handeln gegenwartsbezogen.[44] Daher ist ein starker Gegenwartsbezug von Elementen des im Unterricht vermittelten Wissens notwendig.

Interessant ist die Tatsache, dass Schule maßgeblich für die Ausbildung von Gewaltbereitschaft ihrer Klientel verantwortlich ist. Hier spielt insbesondere das Auftreten des Lehrers eine große Rolle.[45]

Durch die hohe Verrechtlichung und die Überflutung mit Normen ist die Schule zu sehr gefesselt, der Monopol- und Zwangscharakter wird bemängelt, dabei wird die pädagogische Verantwortung überdeckt.[46] Da Vorgaben von Seiten der Länder und vom Bund kommen, haben die Kommunen kaum Einflussmöglichkeiten ihre Bedingungen auf die Verhältnisse vor Ort anzupassen.[47]

Die Schulkritik seitens der Schüler hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Sie beklagen sich über eine lebensweltferne Ausbildung; die zeitliche Verpflichtung von Schule wird von vielen Schülern als zu dominant empfunden.[48] Doch auch die heutige Schülerschaft muss kritisiert werden. Viele arbeiten zu wenig, und verlangen auf der anderen Seite, dass ihnen hochwertige Ausbildungsmöglichkeiten zufliegen.[49]

Die Schulbildung gibt nicht genug Handlungsanweisung, um sich in der immer mehr veränderten Gesellschaft behaupten zu können, die außerschulische Welt der Kinder und Jugendlichen wird außer Acht gelassen, somit kann das System Schule in seiner jetzigen Ausrichtung nicht adäquat auf den Wandel der außerschulischen Lebensbedingungen eingehen.[50][51] Die Bildungsinhalte sind nicht auf das spätere Berufsleben zugeschnitten.[52] Darüber hinaus sind die Schulgebäude nicht auf arbeitsphysiologische und lernpsychologische Erkenntnisse ausgerichtet.[53]

[...]


[1] Vgl.: Hopf, Wulf (2003): Soziale Ungleichheit und Bildungskompetenz, In: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 23. Jg. S.12.

[2] Vgl.: Hopf 2003: S.20.

[3] Vgl.: Wolf, Mechthild (2004): Der außerschulische Bildungsauftrag der Jugendhilfe. Formen sozialen Lernens im öffentlichen Raum. S.3.

[4] Vgl.: Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft: Schule, Jugendhilfe und Sozialarbeit: Leitgedanken zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe. S.13

[5] Siehe: Avenarius, Hermann (2001): Einführung in das Schulrecht, Darmstadt. S.3.

[6] Siehe: Avenarius 2001: S.5.

[7] Vgl.: Böhm, Thomas (1995): Grundriß des Schulrechts in Deutschland, Neuwied. S.3.

[8] Ebd.

[9] Siehe: Avenarius 2001: S.53.

[10] Vgl.: Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (Hg) (1990): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick für Eltern, Lehrer und Schüler, Hamburg. S.58.

[11] Ebd.

[12] Vgl.: Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 1990:S.60.

[13] Vgl.: Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 1990: S.60.

[14] Siehe: Avenarius 2001: S.26.

[15] Vgl.: Avenarius 2001: XIV.

[16] Vgl.: Deinet, Ulrich: Gemeinsame Fortbildung zwischen Jugendhilfe und Schule. S.3.

[17] Siehe: Olk, Thomas, Speck, Karsten (2001): LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen. Institutionelle und berufskulturelle Bedingungen einer „schwierigen“ Zusammenarbeit, Münster. S.68.

[18] Vgl.: Thimm, Karlheinz: Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Bedingungen, Motivlagen, Hindernisse, Perspektiven S.13.

[19] Siehe: Coelen, Thomas (2002): „Ganztagsbildung“- Ausbildung und Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen durch Zusammenarbeit von Schulen und Jugendeinrichtungen. S. 61.

[20] Siehe: Burow, Olaf-Axel: Ganztagsschule als Kreatives Feld S.2.

[21] Ebd.

[22] Vgl.: Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft: Schule, Jugendhilfe und Sozialarbeit: Leitgedanken zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe. S.6.

[23] Vgl.: Holtappels, Heinz Günter (1994): Ganztagsschule und Schulöffnung. Perspektiven für die Schulentwicklung, Weinheim. S.9.

[24] Vgl.: Hopf 2003: S.14.

[25] Vgl.: Holtappels 1994: S.9.

[26] Vgl.: Hopf 2003: S.15.

[27] Vgl.: Hopf 2003: S.22.

[28] Vgl.: Hopf 2003: S.15.

[29] Vgl.: Hopf 2003: S. 17.

[30] Vgl.: Deinet, Ulrich: Gemeinsame Fortbildung zwischen Jugendhilfe und Schule. S.3.

[31] Siehe: Ludwig, Harald (1993): Entstehung und Entwicklung der modernen Ganztagsschule in Deutschland, Köln.S.398.

[32] Vgl.: Avenarius 2001: S.56.

[33] Vgl.: Holtappels 1994: S.27.

[34] Vgl.: Bundesjugendkuratorium (Hg)(2002): Bildung ist mehr als Schule- Leipziger Thesen zur aktuellen bildungspolitischen Debatte. S.1.

[35] Siehe: Katholische Jugendsozialarbeit (Hg)(2002): Leipziger Thesen: „ Bildungsanstrengungen müssen den Bedürfnissen und Interessen junger Menschen Rechnung tragen.“ S.1.

[36] Vgl.:Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft: Schule, Jugendhilfe und Sozialarbeit: Leitgedanken zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe. S.13.

[37] Vgl.: Bundesjugendkuratorium (Hg.): Auf dem Weg zu einer neuen Schule. Jugendhilfe und Schule in gemeinsamer Verantwortung. S.2.

[38] Vgl.: Zusammenfassung des 11. Kinder- und Jugendberichtes. S.5.

[39] Vgl.: Internet 15 S. 3 Wolf, Mechthild (2004): Der außerschulische Bildungsauftrag der Jugendhilfe. Formen sozialen Lernens im öffentlichen Raum. S.3.

[40] Vgl.:Rede der Bundesministerin für Familie , Senioren und Frauen und Jugend am 9. März 2006. S.3.

[41] Vgl.: Rademacker, Hermann (2001): Schulsozialarbeit gegen soziale Ausgrenzung. S.6.

[42] Vgl.: Rademacker, Hermann (2001): Schulsozialarbeit gegen soziale Ausgrenzung. S.7.

[43] Vgl.: Stange, Helmut (1995): Kindheit und Jugend zwischen Chance und Risiken. Gesellschaftliche Vorraussetzungen von Erziehung heute, Weinheim, S.63.

[44] Vgl.: Internet 20 S. 7

[45] Vgl.: Melzer, Wolfgang (2000): Gewaltemergenz – Erscheinungsformen und Ursachen von Gewalt in der Schule, Neuwied. S.94.

[46] Vgl.: Avenarius 2001: S.5.

[47] Vgl.: Avenarius 2001: S.38.

[48] Vgl.: Nörber, Martin (1995): Schulbezogene Jugendarbeit. Zur Situation und zu den Perspektiven einer Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Heidelberg. S.28.

[49] Vgl.: Nörber 1995: S. 65.

[50] Vgl.: Otto, Hans-Uwe / Coelen, Thomas (2004): Auf dem Weg zu einem neuen Bildungsverständnis: Ganztagsschule oder Ganztagsbildung?, Wiesbaden. S.9.

[51] Vgl.: Aden-Grossmann, Wilma (1995): Jugendhilfe und Schule, Weinheim. S.227.

[52] Vgl.: Holtappels 1994: S.26.

[53] Vgl.: Holtappels 1994: S.27.

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Kooperation von Jugendhilfe und Schule
Hochschule
Philipps-Universität Marburg  (Institut für Schulpädagogik)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
62
Katalognummer
V68472
ISBN (eBook)
9783638595773
ISBN (Buch)
9783638844420
Dateigröße
616 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kooperation, Jugendhilfe, Schule
Arbeit zitieren
Natalie Wennekes (Autor:in), 2006, Kooperation von Jugendhilfe und Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/68472

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