Der Weg der Kirche in Mecklenburg von 1989 bis 1993


Examensarbeit, 1994

52 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

0. Einführung
Ziel und Aufbau der Arbeit

1. Kirche und Geld - das neue Kirchensteuerabzugsverfahren
1.1. Synodaltagung vom 15.-17.3.90
1.2. Nach der Synodaltagung
1.3. Die Synodaltagung vom 1.-4.11.90
1.4. Weiterer Verlauf
1.5. Thesen über die ekklesiologische Relevanz des Kirchensteuerabzugsverfahrens

2. Kirche und Vergangenheit - die Aufarbeitung der Stasi-Belastung
2.1. Synodaltagung vom 15.-17.3.1990
2.2. Synodaltagung vom 1.- 4.11.1990
2.3. Synodaltagung vom 13.-17.3.1991
2.4. Sondersynode vom 22.6.1991
2.5. Weiterer Verlauf bis zur Synodaltagung vom 17.-20.3.1994
2.6. Thesen zur ekklesiologischen Bedeutung der innerkirchlichen Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit

3. Kirche im Einheitsprozeß - der Abschied vom Bund, die Vereinigung mit der EKD und der Beitritt zur VELKD
3.1. Von der „Loccumer Erklärung“ bis zur Synode vom 15.-17.3.1990
3.2. Synodaltagung vom 1.-4.11.1990
3.3. Die „dramatischen“ Synodaltagungen im März und November 1991
3.4. Die Synodaltagung vom 12.-15.3.1993
3.5. Thesen zur ekklesiologischen Bedeutung der Vereinigung mit der EKD und des Beitritts zur VELKD

4. Kirche und die Diskussion um Frieden, Krieg und „Seelsorge an Soldaten“
4.1. Vorgeschichte
4.2. Die Synoden im Jahr 1990
4.3. Die weitere Entwicklung von 1991 bis 1993
4.4. Thesen zur ekklesiologischen Bedeutung dieser Entwicklung

5. Kirche und geistliches Leben in der Gemeinde - Gemeindeaufbau
5.1. Vor dem „Herbst ´89“
5.2. Nach dem „Herbst ´89“
5.3. Thesen zur ekklesiologischen Relevanz dieser Entwicklung

Literaturverzeichnis

0. Einführung

„Kirche, die bereit ist, den ihr aufgetragenen Ort anzunehmen, hat die Verheißung, mit der ihr aufgetragenen Botschaft und ihrer Lebensart ´Salz der Erde‘ zu sein.“[1]

Die Landeskirche hat in den vergangenen vier Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Durch die politischen, gesellschaftlichen und wirt­schaftlichen Umwälzungen der Wende und der Wiedervereinigung hat sie eine neue Rolle in der pluralistischen Gesellschaft übernehmen müssen. Dabei stand sie oft unter hohem zeitlichem und inhaltlichem Anpassungsdruck und hatte kaum Spielraum, zuerst eine grundsätzli­che, theologische Stand­ortbestimmung zu unternehmen und dann daraus Konsequenzen für ihre Gestalt und Struktur zu ziehen.

Die Landeskirche hat sich sowohl aus pragmatischen als auch aus in­haltlichen Gründen weitgehend dafür entschieden, den Weg der westdeut­schen Landeskirchen mitzugehen. Sie hat deren Modell von „Volkskirche“ übernommen. Da sie die flächendeckende, personalintensive geistliche Versorgung der Bevölkerung nach dem Parochialprinzip beibehalten und gleichzeitig vielfältige neue Aufgabenfelder (Diakonie, Religionsun­terricht, Seelsorge an speziellen Gruppen) übernehmen wollte, mußte sie sich auch für das entsprechend effektive Finanzierungsmodell ent­scheiden. Dazu gehörte die Einführung des neuen Kirchensteuerabzugs­verfahrens (s.u. Kapitel 1) und der Abschluß des Staat-Kirchen-Vertra­ges (u.a. Finanzierung zweier theologischer Fakultäten, jährlicher Zuschuß zu Pfarrerbesoldung von 13 Mio. DM für Mecklenburg-Vorpom­mern). Die Kirche hat sich damit aus der Marginalisierung[2] herausge­löst und ist eine gesellschaftlich relevante Gruppe geworden.

In Spannung dazu steht, daß der zu DDR-Zeiten begonnene Prozeß der Minorisierung weiter fortschreitet: Die Kirche ist zwar nun wieder mit allen rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten ausgestat­tet, die sie sich wünschen kann, aber sie steht vor dem Problem, daß immer weniger Menschen sich zu ihr halten. Weniger als 300.000 Glieder zählt die Landeskirche bei sinkender Tendenz. Immer öfter taucht die Frage auf, ob die Kirche, die Strukturen, die sie sich gegeben hat, überhaupt mit Menschen füllen kann und ob es noch sinnvoll ist, von Volks kirche im Sinne einer Kirche zu sprechen, die die „umfassende Durchchristlichung des Volkes“ oder flächendeckende „pfarramtliche Versorgung“ verfolgt.[3]

Die Kirche hat nun die rechtlichen Möglichkeiten, in Schulen zu unter­richten, Kirchensteuer durch staatliche Stellen einzuziehen und Seel­sorge an Soldaten zu vollziehen (u.a.m.). Dennoch ist nicht entschie­den, ob sie auch in ihrer Verkündigung frei ist bzw. bleibt.

D. Bonhoeffer schreibt über die Freiheit der Kirche: „Freiheit der Kirche ist nicht dort, wo sie Möglichkeiten hat, sondern allein dort, wo das Evangelium sich wirklich und in eigener Kraft Raum auf Erden verschafft, auch und gerade wenn ihr keine solche Möglichkeiten ange­boten sind. Die wesentliche Freiheit der Kirche ist nicht eine Gabe der Welt an die Kirche ... Wo der Dank für die institutionelle Frei­heit durch ein Opfer der Freiheit der Verkündigung abgestattet werden muß, dort ist die Kirche in Ketten, auch wenn sie sich frei glaubt.“[4]

Es zeichnet sich ab, daß sich die Freiheit der Kirche dort beschränkt, wo Erwartungen, die der Staat gegenüber der Kirche hat, von ihr ver­mehrt gehört und aufgenommen werden. Dies geschieht nun seit der Wende: „Wir sollten eben­so darauf achten, die Erwartungen von Staat und Gesellschaft an die Kirche wahrzunehmen. Daß dieser Staat der Kir­che zugesteht, Körper­schaft öffentlichen Rechts zu sein, ist Ausdruck solcher Erwartun­gen.“[5]

So hat die Kirche z. B. ab 1990 erklärt, Seelsorge an Soldaten aus­drücklich zu befürworten, obwohl sie sich gleichzeitig hinter die Aus­sagen von ‘Bekennen in der Friedensfrage’ von 1987 stellt, worin der Dienst mit der Waffe als „Wagnis“ bezeichnet wird, und der Soldat prü­fen soll, „ob seine Entscheidung mit dem Evangelium des Friedens zu vereinbaren ist“ (s.u. Kapitel 4).

Durch die Wende und die politische Vereinigung hat sich die Identität der Kirche mitverändert. Die „Weg- und Arbeitsgemeinschaft des Bun­des“[6] mußte zugunsten einer neuen gesamtdeutschen Kircheneinheit auf­gegeben werden. Die Vereinigung mit der EKD und der Beitritt zu VELKD wurde von der Landeskirche auf unterschiedliche Weise vollzogen (s.u. Kapitel 3).

Die Spannungen, die dabei auftraten, sind in Zusammenhang mit dem Ab­schiednehmen vom Bund zu sehen. Was man zu DDR-Zeiten in der Gemein­schaft des Bundes als wahr und richtig erkannt, an Schönem erlebt und an Schwierigem erlitten hatte, ist mit dem Ende der DDR zwar nicht verloren gegangen, aber es konnte nicht einfach weiter mittrans­portiert werden. In der neuen Situation mußte das Vergangene, ohne es nostalgisch zu verklären, auf seine aktuelle Gültigkeit hin überprüft werden. Dazu gehörte die Einsicht, daß es den Bund-Kirchen nicht ge­lungen war, ein tragfähiges Finanzierungsmodell, das ohne Hilfe von außen funktionierte, zu entwickeln.

In diesen Bereich fällt auch die Aufarbeitung der Stasi-Belastung in der Kirche. Die Kirche hat in einem längeren Prozeß die Tatsache ange­nommen, daß auch sie, wie jeder andere gesellschaftliche Bereich, von der Stasi durchsetzt war. Sie hat sich der Auseinandersetzung mit ih­rer Vergangenheit gestellt und sich um einen Neuanfang bemüht. Dabei hat es auch beträchtliche Spannungen gegeben (s.u. Kapitel 2).

Der Abschied von der ‘Kirche im Sozialismus’ brachte auch die Einsicht und die Erfahrung mit sich, daß die Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft selbst auch dem Pluralismus ausgesetzt ist. Dies wurde bei manchen mit Enttäuschung, bei anderen mit Dank aufgenommen. Das einmütige Reden, der frühere Konsens in gesellschaftspolitischen Fra­gen, wie z.B. in der friedensethischen Diskussion, löste sich in Ein­zelmeinungen und -haltungen auf: Eine Neuformulierung von ‘Bekennen in der Friedensfrage’ konnte nicht mehr als gemeinsamer Beschluß getragen werden (s.u. Kapitel 4).

Die Landeskirche hat in den vergangenen vier Jahren viele ihrer Berei­che neu geordnet. Ein zentraler Bereich wurde jedoch permanent ausge­klammert: Die Frage nach dem Leben der Gemeinde. Es gab zwar Betrach­tungen, die sich an dem statistischen Zahlenmaterial orientierten, aber der Frage, wie eine tragende und lebendige Gemeinschaft in den Gemeinden - immer wieder neu - entstehen kann, wurde zuletzt vor der Wende nachgegangen. Hier besteht ein großer Nachholbedarf (s.u. Kapi­tel 5).

Ziel und Aufbau der Arbeit

1. Die vorliegende Arbeit versucht, den Weg der Evangelisch-Lutheri­schen Landeskirche Mecklenburgs in den vergangenen vier Jahren seit der Wende nachzuzeichnen. Sie untersucht diesen Weg vor allem aus der Perspektive von Landessynode, Landesbischof und Kirchenleitung und stützt sich dabei vorwiegend auf deren Verlautbarungen. Als „Verlautbarungen“ im weiteren Sinn sollen hier aber nicht nur Berich­te, Gesetze, Beschlüsse, und andere Dokumente, sondern auch Diskussi­onsprozesse, die zur Erfassung des Hintergrundes einer wichtigen Ent­scheidung dienen, verstanden werden.
2. Die schriftlichen Quellen bestehen vorwiegend aus den „Drucksachen“ der Landessynode, Eingaben, Briefen, Kurzprotokollen und Zeitschriften einschließlich der Mecklenburger Kirchenzeitung. Die mündlichen Quel­len sind die Tonbänder und Tonbandcassetten der Synode. Der Zugang be­sonders zu diesen Quellen ist beschwerlich. Da es keine Wortprotokol­le, sondern nur Kurzprotokolle gibt, die nur die Namen der Red­ner/innen mit Stichpunkten enthalten, war es erforderlich, die Bänder (pro Tagung meist 20) abzuhören. Diese sind nur mangelhaft beschrif­tet, so daß der Zeitaufwand, das richtige Band und die richtige Stelle zu finden, erheblich war. Angesichts ihres hohen rechtlichen und hi­storischen Wertes bedarf die Dokumentation der Synoden langfri­stig einer anderen Lösung!
3. In der Umbruchszeit seit 1989 sind in und von den Leitungsorganen der Kirche Hunderte von Diskussionen geführt, Berichte entgegengenom­men, Themen behandelt, Entscheidungen gefällt und Regelungen und Ge­setze produziert worden. An fünf ausgewählten Themenkomplexen, die m. E. besonders aussagekräftig für den Weg der Landeskirche waren, soll die Entwicklung im einzelnen nachvollzogen und verstanden werden. Da­her war es nötig, die Prozesse, die zu den Entscheidungen führten, mit in die Betrachtung einzubeziehen. Die Darstellungsteile der einzelnen Kapitel sind bewußt ausführlich gehalten. Am Ende eines jeden Kapitel stehen „ekklesiologische Thesen“, also Betrachtungen, die die jewei­lige Entwicklung bzw. Entscheidung in Bezug auf das Selbstbild und die Gestalt von Kirche zu deuten versuchen.
4. Die Themenkomplexe beschäftigen sich mit dem neuen Kirchensteuerab­zugsverfahren, der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit, der Vereini­gung mit der EKD und dem Beitritt zur VELKD, der friedensethischen Diskussion im Zusammenhang mit der Seelsorge an Soldaten und schließ­lich mit Gemeindeaufbau. Ich bin mir bewußt, daß dies nur ein Aus­schnitt des gesamten Bildes ist. Viele andere wichtige Bereiche mußten ausgeklammert werden: Staats-Kirchen-Vertrag, Christenlehre und Religi­onsun­terricht, Diakonie, kirchliches Bauen u.v.a.m. Dafür hätten weder Zeit noch Platz ausgereicht.
5. Da die Akten und Bänder der Synode z.T. nicht öffentlich sind, habe ich keine Daten in der Arbeit verwertet, die nicht auch öffentlich zu­gänglich sind. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank gegenüber den Mitarbeiter/innen des OKR aussprechen, die mir den Zugang zu den Doku­menten ermöglicht und mir auch sonst weitergeholfen haben, wenn ich etwas brauchte.

Ich bin erst seit 1992 in Mecklenburg und habe die Wende hier nicht miterlebt. Für die Zeit vor 1992 kann ich mich nur auf die im OKR zu­gänglichen Dokumente und Informationen beziehen. Deshalb ist es mög­lich, daß ich bestimmte Dinge zu einseitig wahrnehme und beurteile.

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Kirche und Geld - das neue Kirchensteuerabzugsverfahren

„Wenn es stimmt, daß das Geld das wesentliche Steuerungsmittel der Ge­sellschaft ist und daß im Medium des Geldes das in der Gesell­schaft allein Denkmögliche beschrieben wird, dann entscheidet sich auch am Geld, ob die christliche Gemeinde von dieser oder von jener Welt ist.“[7]

1.1. Synodaltagung vom 15.-17.3.90

Das bisherige Kirchensteuersystem, das faktisch ein Beitragssystem auf Freiwilligkeitsbasis war, soll aus ökonomischen Gründen abgelöst wer­den. Der Oberkirchenrat (OKR) bringt eine Vorlage über das Kirchen­steuerabzugsverfahren ein (Drucksache 64). Darin wird davon ausge­gan­gen, „daß in Zukunft das Recht der Kirchensteuererhebung im Steuer­ab­zugsverfahren durch staatliche Dienststellen wieder möglich wird“. Aufgrund der Vereinigung der bei­den deutschen Staaten und der Wäh­rungsunion würden auch die Kosten in der Kirche (v.a. Personalkosten) stark ansteigen. Das „gegenwärtige Kirchensteuersystem“ sei dem aber „nicht gewachsen“. Daher müsse „unverzüglich“ geprüft und entschieden werden, ob nicht von dem Steu­erabzugsverfahren durch die Finanzämter Gebrauch gemacht werden soll. Die OKR-Vorlage nimmt dabei Bezug auf die KKL-Tagung (Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes) vom 9.-11.3.90, die „diesen Weg für un­ausweichlich“ hält (vgl. KKL-Bericht, Mitteilungsblatt S.49) und gleich­zei­tig zu einem „gemeinschaftlichen Handeln“ der Gliedkirchen aufruft.

Als Argumente für das Abzugsverfahren werden vom OKR die „Erfahrungen der EKD“, fehlende effizientere Alternativen, niedrigere Kosten (3-4% gegenüber 8-10% bisher), monatlicher, direkter Einzug, und Einheit­lich­keit in beiden deutschen Staaten genannt. Abgeschlossen wird die Argumentation mit dem Hinweis, daß die EKD-Überbrückungshilfe in der näheren Zukunft auslaufen werde.

In der Aussprache auf der Synode (15.3. 20.15 Uhr) wurde die Vorlage kontrovers diskutiert. Gegen das Abzugsverfahren wurden u.a. ange­führt: die Gemeindenähe und der Charakter der Freiwilligkeit gingen verlo­ren (Beck), die Trennung von Kirche und Staat sei in Frage ge­stellt (Dr. Hempel), ein „gemeinsames Handeln“ der Gliedkirchen sei wegen der Finanzhoheit der Länder nicht notwendig (Kiesow). Es würde ein Bruch im bisherigen Gemeindeverständnis vollzogen (Zarft). Die Frage nach alternativen Modellen wurde gestellt (Heydenreich).

Für das Abzugsverfahren spreche, daß es die „einzige Alternative“ sei (Labesius), daß es lediglich eine Dienstleistung des Staates sei und daher keine Abhängigkeit schaffe (Jenge).

Trotz der kontroversen Diskussion kommt es im Verlauf der Tagung zu folgendem, von einer deutlichen Mehrheit getragenen (M/4/3 d.h. 4 Ge­genstimmen und 3 Enthaltungen) Beschluß (DS 64-1):

„Die Synode stimmt vorbereitenden Schritten auf ein Kirchensteuerab­zugsverfahren im Grundsatz zu. Dieser Beschluß und seine Hintergründe sind den Kirchgemeinden mitzuteilen, so daß von dort Stellungnahmen ermöglicht werden, die in die Vorbereitung einfließen können. Der OKR wird gebeten, das Erforderliche zu veranlassen.“

1.2. Nach der Synodaltagung

Die Reaktion der Kirchgemeinden erfolgt jedoch erst im Juni, denn es dauert bis zum 22.5., bis der OKR in seinem Brief die Gemeinden zu Stellungnahmen auffordert. Die Evangelische Studentengemeinde Rostock äußert in ihrem Brief vom 5.6. an die Synode dann auch Zweifel, „ob die angeforderten Stellungnahmen aus den Gemeinden überhaupt noch in den Meinungsbildungsprozeß einmünden können“. Propst Schäfer (14.6.) meint ebenfalls, daß die „Vorentscheidungen ohne genügende Beteiligung der Kirchgemeinden getroffen“ wurden. Pastor Martins aus Neubranden­burg (2.8.) hat den Eindruck, „als ob diese Frage längst entschieden sei“ und die Synode „nur noch längst beschlossene Dinge nachträglich bestätigen soll“. Außerdem mache das neue Verfahren „die durch die letzte Finanzierungsreform bewirkte Mündigkeit der Gemeinden und ihrer Eigenverantwortung wieder zunichte“ (Brief 21.6.) Die MKZ (Kirchenzeitung) druckt am 26.6. die Forde­rung der Gemeinde Lütten­klein nach einem „Gemeindeentscheid“ ab. Eini­ge Synodale aus Sachsen (28.6) fordern die Synode sogar auf „den Be­schluß (vom März, Vf.) für ein Jahr auszusetzen und auf breiter Basis Alternativen zu suchen“. Sie hätte Entscheidungen „im Eilverfahren ge­fällt, die den Charakter unserer Kirche verändern und ihre Gestalt für Jahrzehnte prägen“. Der KGR Rödlin (10.9.) äußert sein Befremden dar­über, daß die Gemeinde „keine Information über die Entscheidung bekom­men hat, die ... offen­sichtlich in den vergangenen Monaten und Wochen gefällt worden ist“.

Der LB (Landesbischof) reagiert auf diesen Brief (24.9.): „Die Zeit nach der Ent­scheidung der Landessynode (im Herbst, Vf.) hätte nicht ausgereicht, um alle Dinge ordnungsgemäß zu regeln“. Es war also „notwendig, Vorbe­reitungen zu treffen“ - „unabhängig“ von der Ent­scheidung der Synode. Gleichzeitig teilt er mit: „Der OKR wird dem­nächst ein Informations­blatt herausgeben.“

Das im Oktober erscheinende Faltblatt informiert alle Haushalte in Mecklenburg, daß ab 1991 die Kirchensteuer über die Finanzämter einge­zogen und das Kirchgeld von den Gemeinden erhoben wird. Die Bür­ger/innen möchten ihre Kirchenzugehörigkeit bei den Meldeämtern ein­tragen lassen.

Die MKZ (7.10.) berichtet über die Informationstagung der Synode am 1.10. zu diesem Thema. Darin heißt es, der Bischof sehe in dieser Frage nur noch „wenig Spielraum“. Anfragen, ob alle Möglichkeiten für ein Gespräch auf breiter Ebene“ genutzt worden seien, „blieben seitens des OKR ohne Antwort“.

Auf der Tagung plädiert der Kirchenjurist R. Rausch für die Einführung des sich auf Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs.6 WRV gründen­den neuen Verfahrens, denn der Verzicht auf das Kirchensteuersystem stelle „letztlich die Volkskirche in ihrer heutigen Form in Frage, weil das Finanzaufkommen geringer werden würde und damit nicht mehr alle kirchlichen Aufgaben im bisherigen Umfang beibehalten werden könnten“ (Referat S.29). Er weist darauf hin, daß die „Frage nach der Ausgestaltung des Kirchensteuersystems ... auch eine Frage nach der Ausgestaltung der Kirche“ ist. „Es geht um die Entscheidung zwischen Volkskirche und Freiwilligkeitskirche.“(S.32). Dem kirchli­chen Selbst­verständnis entspreche ein öffentlich-rechtlicher Status eher als ein privat-rechtlicher und zu diesem Status „gehört ein öf­fentlich-recht­liches Finanzierungssystem“(S.31).

Der Synodale Beste faßt die Vorgänge der letzten Monate kri­tisch zu­sammen: „Sollte eine breite Debatte möglichst umgangen werden? Jetzt sind alle nötigen Schritte getan.“ Nun sei die Synode in „Zugzwang“(MKZ 23.9. S.2).

Eine Woche vor der Herbsttagung der Synode spricht sich OKR-Präsident Müller in einem Interview der SVZ (24.10., S.3) für die Übernahme des neuen Verfah­ren aus: „Wenn sich die Synode wirklich alle Konsequenzen vor Augen hält, wird sie sich wohl für diese Form des Kirchensteuer­einzugs entscheiden.“

1.3. Die Synodaltagung vom 1.-4.11.90

Die Vorlagen über die Gesetze zur Kirchenmitgliedschaft (DS 76-b), zur Kirchensteuererhebung (DS 77-b), zur Höhe der Kirchensteuer (DS 78-a) und zum Kirchgeld (79-b) werden disku­tiert. Dabei lassen sich vier Meinungsströme erkennen und zusammenfas­sen:

- Eine generelle Kritik am Verfahren: Man fühle sich „nicht ganz fair“ von EKD und OKR „unter Zugzwang gesetzt“, Präsident Müller hätte eine Entscheidung durch sein Interview vorweggenommen (Beste). Eine sinn­volle Diskussion wäre möglich gewesen, wenn es eine Sondertagung gege­ben hätte (Vogt). Was hindere die Synode an einer anderen Entschei­dung? Er vermutet, daß schon Vorentscheidungen in „anderen Gremien“ getroffen worden seien, möglicherweise auch in denen der westlichen Partnerkirchen (so auch Dr. Kuske). Jetzt aber hätte die Synode keine andere Option mehr und müsse ‘ja’ sagen (Vogt). Besser wäre es, beim alten, auf die Gemeinde bezogenen Finanzierungsgesetz zu bleiben (Vogt, Krug).
- Es fehle eine grundsätzliche geistlich-theologische Auseinanderset­zung, v.a. hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche (Beste). Die „Obrigkeitskirche“ werde befestigt und zwischen Gemeindeglied und Kirche stehe nun die staatliche Institution (Vogt, Krug). Seelsorgerlich sei bedenklich, daß man den Gemeindegliedern zumu­te, sich vor den staatliche Stellen (Volkspolizei) zu offenbaren, die früher repressiv gegen Christen vorgegangen seien (Zarft, Rabe).
- Eingeständnis des Scheiterns des alten Systems: Die Kirche sei mit der Finanzierung nicht klargekommen und konnte sich trotz des neuen Finan­zierungsgesetzes nicht selbst erhalten (Zarft). Es gehe leider nicht anders, als das neue Verfahren zu akzeptieren (Hartig). Das Gemeinde­verständnis von einer freiwillig opfernden Gemeinde sei eine „verkehrte Vorstellung bzw. eine Utopie“(Zarft). Er fragt, ob es nicht auch Alternativen zum staatlichen Abzugsverfahren gebe.
- Uneingeschränktes Begrüßen des neuen Systems: Es sei eine „offene Tür“, durch die wir einzutreten haben (Haack). Die Gemeindeglieder seien nach den Kirchensteuersprechtagen einverstanden und es herrsche „einhellige Zustimmung“. Die Glieder bräuchten sich „nicht mehr zu kümmern“, es sei gerecht und der monatliche Abzug sei „gut“(Dr. Kuske). Die Veranlagung bzw. Staffelung sei gerecht (Hartig, Jengel). Das neue Verfahren sei „zweckmäßig und praktisch“(Schuster) und neue Kräfte würden freigesetzt (Jenge). Nur das Eintreiben des Kirchgelds zusätzlich zur Kirchensteuer sei problematisch (Hartig).

Präsident Müller betont in der Diskussion noch einmal, daß ohne eine erhebliche Reduzierung der Personalkosten und eine Trennung von Kirch­gebäuden das alte System nicht länger „tragfähig“ sei. R. Rausch er­gänzt, daß das neue System die „Beste der vorhandenen Möglichkeiten“ sei. Die Zustimmung dazu sollte dringend vor dem 1.1.91 erfolgen, da der Staat nur bis zu diesem Termin anbiete, das Konfessi­onsmerkmal auf den Lohnsteuerkarten einzutragen. Danach sei dies nur noch über einen Nachweis möglich, was einen erheblichen Mehraufwand bedeute. Außerdem sei die terminliche Übereinstimmung mit der evange­lisch-pommerschen und der katholischen Kirche zu beachten.

Der LB spricht sich in seinem Bericht vom 2.11. (DS 87) ebenfalls für das neue System aus: „... ohne erhebliche Stützungen aus dem Westen wäre die Kirche in den jetzigen Strukturen nicht überle­bensfähig. Die finanzielle Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag, ... die Ausgaben stei­gen ständig, die Einnahmen sinken zunächst.“ (S. 10) Er weist gleich­zeitig darauf hin, daß die Entscheidung für das Abzugsver­fahren „in der Konsequenz die Entscheidung für die Volkskirche“ bedeu­te.

Die Synode beschließt die Vorlagen über die Kirchenmitgliedschaft, die aufgrund der Auskunftspflicht der Mitglieder gegenüber den staatlichen Meldeämtern über ihre Konfessionszugehörigkeit die Voraussetzung für die folgenden Gesetze über die Kirchensteuer bildet, mehrheitlich bei sechs Enthaltungen. Das „eigentliche“Kirchensteuergesetz und das über die Höhe der Kirchensteuer werden jeweils bei zehn und das Gesetz über das Kirchgeld bei dreizehn Gegenstimmen gebilligt. In einem Informati­onsbrief an die Kirchgemeinden (DS 79-1) teilt die Synode ihre Ent­scheidungen mit. Sie stellt dabei besonders die Bedeutung des Kirch­geldes für die Gemeinden heraus. Das Kirchgeld „bewahrt den Ansatz der Eigenverantwortlichkeit der Kirchgemeinden im Hinblick auf ihre Finanzen“.

[...]


[1] Bericht der Kirchenleitung zur Synodaltagung der Landeskirche vom 14.-17.11.91 (DS 127, S. 3).

[2] LB Stier verwendet die Begriffe Marginalisierung und Minorisierung in seinem jüngsten Bericht (Frühjahrssynode 1994, S. 14f.)

[3] Vgl. W. Huber, Kirche, München 1988, S. 170.

[4] Zitiert bei W. Huber, a.a.O., S. 143.

[5] LB Stier, a.a.O., S. 16f.

[6] W. Krusche, Rückblick auf 21 Jahre Weg- und Arbeitsgemeinschaft im Bund, ZDZ 1991/2, S.9

[7] R. Scherer, Die Kirche und das Geld, Vortrag auf der Mitarbeitertagung des Landesjugendpfarr­amtes, MKZ 23.1.94, S.5.

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Der Weg der Kirche in Mecklenburg von 1989 bis 1993
Hochschule
Universität Leipzig  (OKR Schwerin, Ev.-Luth. Kirche Mecklenburg)
Veranstaltung
2. Theol. Examen ist Kirchliches Examen
Note
1
Autor
Jahr
1994
Seiten
52
Katalognummer
V6834
ISBN (eBook)
9783638143196
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kirche, Mecklenburg
Arbeit zitieren
Michael Fricke, Dr. (Autor:in), 1994, Der Weg der Kirche in Mecklenburg von 1989 bis 1993, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6834

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