Werbung in Theorien globaler Kommunikation. Von den 70er Jahren bis heute


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

63 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

0 Das empirische Fallbeispiel

1 Exkurs und Klärung: Werbung, Kultur und Soziologie
1.1 Werbung als Massenmedium
1.2 Der zugrundeliegende Kulturbegriff
1.3 Kultur und Gesellschaft oder: Wer hat Kultur?
1.4 Werbung als Teil der Kultur

2 Rolle der Werbung in älteren Theorien internationaler Kommunikation
2.1 Back to the 70s! Die Theorien im Überblick
2.2 Rolle der Werbung
2.3 Abschließende Bewertung der Rolle der Werbung in den älteren Theorien

3 Rolle der Werbung in neueren Theorien globaler Kommunikation
3.1 Globalisierung als Thema der 90er Jahre
3.2 Rolle der Werbung
3.3 Kurzes Fazit zur Rolle der Werbung

4 Vergleich, Ausblick und weitere Fragen
4.1 Vergleich der Rolle der Werbung – Reflektion
4.2 Wie könnte eine empirische Untersuchung aussehen, was wären ihre Folgen?

Literatur

Werbung in Theorien globaler Kommunikation. Von den 70er Jahren bis heute

0 Das empirische Fallbeispiel

Auslöser für die Beschäftigung mit der Fragestellung, wie Werbung und kulturelle Globalisierung zusammenhängen, war ein Artikel in der Desktop-Publishing-Zeitschrift PAGE (1999), in dem über die Diplomarbeit der Designstudentin Irma Schick berichtet wurde. Diese hatte in Indien all­täg­li­che Gegenstände und Verpackungen genauso wie religiöse Postkarten und Abbildungen hand­ge­malter Werbeposter an Häuserwänden gesammelt, um damit zu Aussagen über spezifisches indisches visuelles Design zu kommen. Auf besonderes Interesse stieß bei mir dabei der Teil dieses Artikels, der näher auf handgemalte Plakatwerbung einging. Im Westen[1] werden Werbe­plakate längst mit Desktop-Publishing (also computerunterstütztem Layout) gefertigt und dann auf für den Werbedruck spezialisierten Druckmaschinen ausgedruckt. Der hierfür zuständige Teil der Kulturindustrie ist hochgradig spezialisiert und professionalisiert. Den Ergebnissen dieses Prozesses begegnen wir täglich an Plakatwänden und auf Bahnhöfen.

Im Gegensatz dazu warben die in dem Artikel gezeigten Plakatwände zwar auch für moderne Produkte – sowohl im High-Tech-Bereich, als auch im Consumer-Bereich, sprich Waschmittel –, wurden aber auf sehr viel traditionellere Weise hergestellt, nämlich einzeln von Hand gemalt; ebenfalls ein hochgradig professionalisiertes und spezialisiertes Tätigkeitsfeld, aber doch offensichtlich anders als im Westen. Anscheinend ist es sogar so, dass die Vorlagen für die Plakatwände – ebenso wie Anzeigen­vor­lagen für Werbung in Zeitungen und Zeitschriften – durchaus mit »westlichen« Methoden wie Desktop-Publishing hergestellt wurden, dass diese dann aber für die Verwendung in der Plakat­werbung eben nicht gedruckt, sondern an Werbemaler übergeben wurden, die nach diesen Vorlagen die Plakatwände gestalteten. Das führt dazu, dass die Produkte und Markenzeichen der globalisierten Moderne – z.B. das Logo von IBM – auch in Indien im öffentlichen Raum in Erscheinung treten, im Gegensatz zum Westen aber in einer traditioneller Machart, die jedem einzelnen Plakat etwas Individuelles gibt – und die an eine lange Tradition der Plakatmalerei anschließt.

Dieses Fallbeispiel kann genauso wie seine beiden Gegenstücke[2] als ein Beleg dafür genommen werden, dass kulturelle Globalisierung – sofern es sich hier um solche handelt – alles andere als ein geradliniger Prozess ist, und dass es vor allem auch alles andere als ein nur in eine Richtung verlaufender Prozess ist. Der Artikel eröffnet nun ein vielfältiges Feld an Reflexionsmög­lich­keiten. Da sind zum einen Fragestellungen eher empirischer Art: Stimmt es wirklich, dass in Indien High-Tech-Produkte handgemalt beworben werden? An wen wendet sich diese Werbung? Was sind die Ursachen dafür, dass hier zwar westliche Produkte und westliche Vertriebswege, aber anscheinend nicht westliche Werbeformen übernommen wurden? Hat das was mit der lokalen Einbettung von Globalisierungstendenzen zu tun oder ist es eher aus der Not heraus geboren? Wie sehen die Entwicklungstrends aus? Auf Fragen dieser Art lassen sich hier, tausende von Kilometern und mehrere Zeitzonen vom indischen Subkontinent entfernt, nur schwer Antworten finden.

Aber auch auf einer allgemeineren Ebene regt der Artikel Fragen an, grundsätzliche wie die danach, was eigentlich unter Kultur zu verstehen ist, welche Aussagen Werbung über eine Kultur bzw. über eine Gesellschaft machen kann, aber auch danach, wie verschiedene Theorien der Globalisierung mit einem derartigem Phänomen umgehen. Weiterhin lässt sich natürlich auch die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, derartige Phänomene als Belege für die empirische Relevanz von Globalisierung heranzuziehen – und wenn ja, dann muss unweigerlich gefragt werden, wodurch sich diese Phänomene von älteren, vergleichbaren unterscheiden. Es scheint also einiges davon abzuhängen, welche Rahmung für die Auseinandersetzung gewählt wird, um zu Aussagen über Werbung im Kontext kultureller Globalisierung zu kommen.

So schien mir die anfängliche Eingrenzung auf »Kulturelle Globalisierung und westliche Werbung in Indien« bald nicht mehr sinnvoll, da hier für eine Hausarbeit doch zu viele teils heftig brodelnde, teils nur noch sanft köchelnde Diskurse zusammenkommen. Alleine die drei hervorstechendsten Aspekte, die hier zusammen­kom­men, bringen schon jeweils einen Rattenschwanz an Diskussionen mit sich: Die kulturelle Globalisierung wirft im Gefolge Fragen danach auf, was Kultur ist und was nicht Kultur ist. Die medientheoretische bzw. medien­sozio­lo­gi­sche Debatte interessiert sich dafür, wie unter anderem Werbung im Westen als Massen­medium wirkt, und bringt alle paar Jahre eine neue Medientheorie hervor. Und auch das Verhältnis zwischen Westen und Nicht-Westen hat seine eigene lange (nicht nur) Theoriegeschichte und bringt unter anderem reich­lich Mo­der­ni­sierungs- und Entwicklungs­theorien ins Spiel, die auch alle um Rechtfertigung, Betrachtung und gefälligste Verwendung bitten und betteln. Ganz außen vor gelassen sind hierbei noch irgendwelche speziellen, auf die indische Gesellschaft oder Kultur bezogenen Abhandlungen.

Die Komplexität vervielfältigt sich, wenn diese Aspekte nicht für sich alleine genommen werden, sondern vernetzt werden. In einer Matrix angeordnet ergeben sich so gleich drei weitere Thematiken, nämlich die Frage nach der Globalisierung der Massenmedien und der Werbung, die Frage nach dem Zusammen­hang zwischen Moderni­sierungs-/Entwicklungs- und Globa­li­sie­rungs­theorien, und die Frage nach der Rolle der Werbung bzw. der Massen­medien im Ent­wick­lungs­diskurs. In das Schnittfeld zwischen Mediensoziologie und kultureller Globalisierung als space of flows drängt sich der Kulturalismus, etwa in Form der cultural studies, herein, und mit ihm möchten am liebsten auch die Ethnologie, die kulturelle Anthropologie und die symbolische Beschreibung von Alltagsgegenständen dazukommen.

Es muss also darum gehen, mit einer geeigneten Rahmung die Fragestellung in irgend einer Weise enger zuzuschneiden und genauer zu definieren, so dass bestimmte Themen in den Hintergrund gedrängt werden, und das Augenmerk vielleicht eher auf einer Grundlage für die weitere Arbeit als auf einer vollständigen Behandlung liegt. Da es, wie bereits erwähnt, nicht einfach ist, hier die indische Wirklichkeit mit zu berücksichtigen, habe ich mich dafür entschieden, im Rahmen dieser Hausarbeit nur einen Teilbereich abzudecken.

Ergeben hat sich dabei eine Gliederung, die die Medien in den Mittelpunkt und damit zugleich – abgesehen von Exkursen – in den blinden Fleck stellt. Es soll verglichen werden, welche Rolle Werbung als exemplarisches Massenmedium im Rahmen von modernisierungs- bzw. dependenztheoretischen Entwicklungstheorien der 70er und 80er Jahre und in heutigen Globalisierungstheorien einnimmt. Im Bezug auf Massenmedien habe ich beides als Theorien globaler Kommunikation in der Überschrift der Arbeit zusammengefasst. Als Ausblick stellt sich die Arbeit die Frage, wie die dabei gefunden Ergebnisse auf ein empirisches Projekt anwendbar wären.

1 Exkurs und Klärung: Werbung, Kultur und Soziologie

1.1 Werbung als Massenmedium

»Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.« Niklas Luhmann (1996: 9) bezieht seinen viel zitierten Satz auch auf die Werbung. Diese kann zwar nicht bestimmen, »was ihre Adressaten denken, fühlen, begehren« (1996: 92), ist aber sehr wohl dazu in der Lage, eine Ordnung der bloßen Oberflächendifferenzierung durchzusetzen, zu erhalten, zu erneuern und vor allem bekannt zu machen. Mit anderen Worten: Werbung arbeitet darauf hin, das Verhältnis von Redundanz und Varietät in der Alltagskultur zu stabilisieren (1996: 94), festzulegen, was fest ist und wo gewählt werden kann.

Allerdings sind nicht alle MedientheoretikerInnen – selbst in einer systemtheoretischen Rahmung – sich mit Luhmann darin einig, Werbung überhaupt als Massenmedium anzusehen. Das beste Beispiel für eine Gegenposition stellt Siegfried J. Schmidt (1995) dar, der Werbung eher als Teil des Wirtschaftssystems konzipiert. (Vgl. auch Westermayer 1999). Diese Unterscheidung spielt dann keine Rolle mehr, wenn in den Theorien Medien und Wirtschaft zusammenfallen und mit Horkheimer und Ador­no (1988) bloß von der Kulturindustrie gesprochen wird.

Es stellt sich also die Frage, warum Werbung auch für SoziologInnen von Interesse sein soll – und nicht nur für die Manager von Marketingagenturen oder -abteilungen, für Designstudent­Innen oder für KulturkritikerInnen. Hat Werbung überhaupt einen anderen Sinn, als nur auf den Verfall einer Kultur hinzudeuten? Ich meine ja, und stehe damit nicht alleine. Gerade neuere Ansätze in der Medientheorie – das prominenteste Beispiel hierfür sind die cultural studies – nehmen Werbung, genauso wie Massenmedien allgemein ernst als einen wichtigen Bestandteil der Alltagskultur. Wenn Kultur in Anlehnung an diese Denkrichtungen als Menge der bedeutungstragenden, symbolischen Repräsentationen einer Gruppe von Menschen angesehen wird – ich gehe darauf gleich noch näher ein –, dann gehören Massenmedien – und seien sie noch so trivial – und Werbung unzweifelhaft zur Kultur, werden von Menschen täglich auf unterschiedlichste Art kulturell gelesen und genutzt und sind damit auch Bestandteil der genannten symbolischen Sphäre. Wer Werbung aus diesem Kulturbegriff hinausdrängen wollte, müsste zeigen, dass jede Anzeige und jedes Plakat für jede LeserIn im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos ist.

Damit ist natürlich noch keine Aussage darüber getroffen, ob Werbung »wertvoll« ist – dass scheint mir allerdings aus soziologischer Sicht auch erst einmal zweitrangig zu sein. Viel wichtiger erscheint mir die Tatsache, dass Werbung – gerade in dieser engen Kopplung zwischen Wirt­schafts- und Mediensystem – in ihrer Verwendung Aufschlüsse darüber zuläßt, wie die Alltagskultur im Sinne einer Ordnung oder eines Systems der Dinge (Baudrillard 1991) in einer kapitalistischen Gesellschaft aussieht[3]. In gewisser Weise ist Werbung, sofern sie in einem weiterem Sinne gesehen wird, der auch Produktgestaltungen und Werbearchitektur im öffentlichen Raum umfasst, sogar das weiteste aller Massenmedien. Nahezu jedeR – in industrialisierten Ge­sellschaften – ist mit diesem Massenmedium ständig konfrontiert, sei es beim Frühstück (Pro­duktverpackungen, Zeitungen, Radio), auf der Strasse oder in der Strassenbahn (Plakat­wän­de, Schaufenster, Werbung auf Fahrzeugen) genauso wie beim Fußballspiel (Banner­wer­bung, Trikots) oder bei der Nutzung anderer Massenmedien (Zeitung, Radio, TV, Kino, Internet). Oder noch etwas provokativer mit Norbert Bolz: »Werbung ist die schlüssigste Selbstbeschreibung unserer Kultur.« (1996: 77).

Der Einbruch von westlicher Werbung in den Alltag nichtwestlicher Gesellschaften kann demnach als Oberflächenindikator dafür gesehen werden, dass sich auch die Alltagskultur selbst verändert, dass neue kulturelle Handlungsweisen eröffnet und alte Handlungsweisen verschüttet werden. Internationale, globale oder transnationale Werbung ist dann nicht nur ein neues Arbeitsfeld für MarketingingenieurInnen (vgl. Mooij/Keegan 1991), sondern sagt uns vielleicht auch etwas darüber, was eigentlich gerade passiert.

1.2 Der zugrundeliegende Kulturbegriff

Dieses ganze Kartenhaus, das begründet, warum Werbung als Teil des medialen Alltags als Teil der Alltagskultur als Fragestellung im Kontext kultureller Globalisierung untersuchenswert ist, bröckelt allerdings zusammen, wenn der dem ganzen zugrundeliegende Kulturbegriff dekonstruiert wird. Es gilt also, die oben angesprochene Definition auszuführen und zu begründen. Was also ist Kultur? Und wer hat Kultur?

Zu diesem Thema befragt, kennt das Lexikon zur Soziologie (Fuchs-Heinritz et al. 1995: 379ff.) sechs Grundbedeutungen von Kultur, die von einer Gleichsetzung zwischen Kultur und Sozialstruktur/Sozialsystem bis hin zur Bezugnahme auf die »hohe Kultur« reichen, und braucht sieben weitere Seiten, um sämtliche mit Kultur zusammenhängenden Fügungen zu behandeln. Drei Definitionen scheinen mir für eine nähere Betrachtung herangezogen werden zu können: (1) Kultur als »Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole über Generationen hinweg übermittelt werden, in Werkzeugen und Produkten Gestalt annehmen, in Wertvorstellungen und Ideen bewußt werden«, (2) Kultur als »Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer jeden sozialen Gruppe, ganz gleich, wie groß und dauerhaft sie ist« sowie (3) Kultur als »Gesamtheit der Symbolgehalte einer Gesellschaft […] im Gegensatz zu ihrer materiellen Ausstattung« (jeweils Fuchs-Heinritz et al. 1995: 379). Verallgemeinert werden diese Definitionen zum »Hinweis darauf, daß alle Menschengruppen nach nicht von der Natur vorgegebenen Regeln leben und diese Regeln in irgendeiner Weise an ihre Nachkommen weitergeben.« (ebenda).

Werden diese drei Definitionen nebeneinander gestellt, so fällt auf, dass die zweite bis auf die Gesamtheit, auf die Bezug genommen wird, der ersten gleicht. Die dritte Definition hat die Bezugnahme auf Gesellschaft als ‘Trägerin’ von Kultur mit der ersten gemeinsam, unterscheidet sich aber darin von dieser, dass Kultur hier explizit nur auf die Symbolgehalte und nicht auf deren materielle Ausgestaltung bezug nimmt. Ähnliche Definitionen des Kulturbegriffs sind nichts neues, wie das Beispiel Edward B. Taylors zeigt, der bereits 1871 Kultur als ein komplexes Ganzes definierte, zu dem Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitten und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten gehören, die Menschen sich als Teil der Gesellschaft angeeignet haben.[4] Auch hier wieder bedeutsam ist der Bezug auf die Gesellschaft.

An dieser Stelle ist es vielleicht noch sinnvoll, auf Clifford Geertz hinzuweisen, der mit Max Weber von Kultur als »selbstgesponnene[m] Bedeutungsgewebe«, in das der Mensch als Mensch verstrickt ist (Geertz 1983: 9). Geertz geht davon aus, dass Kultur ein Ganzes ist, das einerseits aus den sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen besteht, in deren Rahmen Menschen handeln (und was vielleicht mit den oben genannten »Verhaltenskonfigurationen« vergleichbar ist), und das andererseits insofern auch Artefakte einschließt, als diese beim Gebrauch im Rahmen symbolischer Handlungen ebenfalls symbolische Bedeutungen annehmen (Geertz 1983: 21ff). Zumindest von der groben Richtung her scheint mir Geertz’ Kulturbegriff dem bisher genannten zu ähneln, zumindest einige Gemeinsamkeiten aufzuweisen.

Wenn Kultur den hier genannten Definitionen zufolge die »Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen« ist, die sich in Werkzeugen, Produkten, Ideen und Wertvorstellungen ausdrückt, dann könnte dies als eine erste Klärung der Frage genommen werden, was Kultur ist. Diese Definition bleibt allerdings in zweierlei Hinsicht unbefriedigend. Zum einen stellt sich die Frage, was unter »Verhaltenskonfiguration« eigentlich zu verstehen ist. »Verhalten« selbst als Oberbegriff für zweckorientierte und ‘sinnlose’ Handlungen ist ja einer der umfassendsten Begriffe überhaupt, den die Soziologie bereithält. Welche Verhaltenskonfigurationen werden jetzt in Werkzeugen, Produkten, Ideen usw. ausgedrückt? Geht es um Symbolisierungen aller Verhaltenskonfigurationen, oder nur um diejenigen, die mit Sinn oder gar existenzieller Bedeutung aufgeladen sind? Hier scheint mir noch ein erheblicher Deutungsbedarf zu bestehen. Das zweite für mich nicht befriedigend gelöste Problem an dieser Definition ist die Tatsache, dass Kultur sich in diesem Sinne nur auf Ideen, Wertvorstellungen und Produkte bezieht, nicht aber auf die aufgrund dieser Ideen etc. durchgeführten Lebensweisen und Alltagspraxen. Über diese Frage – ob es bloß um Ideen und deren Repräsentationen oder um die Gesamtheit der Lebenspraxen geht – wurde im Rahmen der cultural studies viel diskutiert (vgl. etwa Stuart Hall 1999 in Bezug auf Raymond Williams und andere).

Wenn Kultur als Gesamtheit aller Lebenspraxen und deren Repräsentationen angesehen wird – was wahrscheinlich die größtmögliche Ausweitung der hier diskutierten Gruppe von Kulturbegriffen ist, dann stellt sich völlig zu recht die Frage, ob es irgendetwas Menschliches gibt, was keine Kultur ist. Mit dieser Frage kann unterschiedlich umgegangen werden: entweder, indem Kultur als ein Blickwinkel auf das menschliche Leben dargestellt wird, der konkurrierend zu anderen Blickwinkeln existiert (dann ist es kein Problem, dass alles zur Kultur gehört, weil alles eben auch als Teil der Ökonomie, als Teil der sozialen Strukturierung etc. betrachtet werden kann), oder, indem versucht wird, Einschränkungen des Kulturbegriffs vorzunehmen, und z.B. die bloß technische Symbolproduktion (vgl. Tomlinson 1999: 18) auszunehmen, nur über die Ideen, aber nicht über das Handeln zu sprechen (vgl. Hall 1999) oder zumindest ein Kontinuum von Kernelementen der Kultur bis hin zu bloß am Rande kulturell bemerkenswerten Dingen aufzumachen.

Interessant ist die Art und Weise, wie Clifford Geertz mit dieser Frage umgeht. Wenn wie bei ihm davon ausgegangen wird, dass »[d]ie Untersuchung von Kultur […] ihrem Wesen nach unvollständig [ist].« (Geertz 1983: 41), und damit dann auch Kulturtheorie auf einem abstraktem Level abgelehnt wird, da mit dieser keine Erkenntnisse gewonnen werden können, bleibt nämlich nur der Rückzug ins Konkrete. Und bei der dichten Beschreibung kultureller Vorkommnisse wird recht schnell unerheblich, wo genau die Grenzen von Kultur liegen, und ob Kultur nur die als symbolisches Bezugssystem hinter den symbolischen Handlungen stehende Essenz ist oder ob die symbolischen Handlungen selbst Teil der Kultur sind.

Ausgehend von diesen Überlegungen könnte Kultur dann eingegrenzt werden als ein Blickwinkel auf menschliche Lebensweisen und Handlungen, der darauf fokussiert ist, wie diese in Bezug zu Verhaltenskonfigurationen und Symbolsystemen stehen, die zwischen Individuen und Generationen mit Hilfe von Ideen, Wertvorstellungen, Werkzeugen, Produkten und Medien zirkulieren. Über Kultur in diesem Sinne lassen sich dann zwar kaum allgemeine Aussagen machen; dieser Kulturbegriff kann aber als Leitlinie dafür verwendet werden, wie unter kulturellen Gesichtspunkten empirische Tatbestände angegangen werden können. Gegenüber der Kultur stände dann die bedeutungsentleerte Tatsachenbeschreibung von Ereignissen. Die gemeinsame Verabredung zum Kaffeetrinken (vgl. Giddens 1995: 24) genauso wie ein Vulkanausbruch könnte dann einerseits unter dem Blickwinkel »Kultur« beschrieben werden, andererseits aber auch »kulturlos«. Kaffeetrinken und Vulkanausbruch würden im ersten Fall als Teil eines kulturellen Gewebes oder Netzwerks der (Be-)Deutungen beschrieben werden, mit Verknüpfungen und Knotenpunkten hin zu anderen Fäden, im zweiten Fall als objektives Verhalten physikalischer Körper. Neben physikalischer Natur und bedeutungshaltiger Kultur würde dann als drittes ein sozialer Blickwinkel hinzutreten, unter dem das Kaffeetrinken nicht in ein Gewebe von Bedeutungen eingebettet, sondern als Teil eines Netzes oder Systems von Handlungen beschrieben werden müsste, während der Vulkanausbruch außerhalb des Sozialen bleibt, dort aber indirekt Handlungen auslösen kann.

Natürlich ist der hier skizzierte Kulturbegriff, der auf Verhaltenskonfigurationen und Lebensweisen gründet und sich so von der – mit Giddens (1995: 38) als Beziehungssystem[5] zu sehenden – Gesellschaft distanziert, ist allerdings – auch abgesehen von den schon genannten Varianten in der Ausformung – bei weitem nicht der einzig mögliche. Einen ganz anderen Ansatz unternehmen beispielsweise Aleida und Jan Assmann, die Kultur als »historisch veränderlichen Zusammenhang von Kommunikation, Gedächtnis und Medien« betrachten und weiter davon ausgehen, dass Kultur »zwei Aufgaben« erfüllt: die der Koordination, indem sie symbolische Zeichensysteme bildet, die den Hintergrund darstellen, auf dem Kommunikation und Verständigung zwischen den Teilnehmenden dieser Kultur möglich gemacht wird, und die der Schaffung von Kontinuität, indem Kultur als soziales Gedächtnis (Maurice Halbwachs) arbeitet, dass es jeder Generation ermöglicht, die kulturellen Muster der vorherigen Generationen aufzunehmen und fortzusetzen (Assmann/Assmann 1996: 114f). Sie unterscheiden dabei zwischen unterschiedlichen Funktionsweisen dieses Gedächtnisses in mündlich, schriftlich und »elek­tronisch« geprägten Gesellschaften, wobei mit der medialen Revolution eine zunehmende Veralltäglichung und Funktionalisierung der Speicherinhalte des kulturellen Gedächtnisses einhergeht. In dieser Sichtweise – die ich im folgenden nicht näher ausführen will – müsste der Schwerpunkt einer Betrachtung von Werbung als in eine Kultur eintretende Form darin liegen, zu untersuchen, wie diese für diese Kultur in dieser Form neue Medium sich auf die beiden genannten Aufgaben von Kultur auswirkt: wie sich kom­munikative Handlungen zwischen Individuen verändern, und vor allem, wie sich das soziale Gedächtnis einer Gesellschaft verändert. Eine ähnliche Sichtweise auf Kultur hat z.B. auch Niklas Luhmann (1995). Auch der Radikale Konstruktivismus sieht Kultur als »gesellschaftliches Basissystem […], das alles umfaßt und deshalb einen integrativen Charakter besitzt.« (Hickethier 1999: 206). Diesem Begriff stellt Knut Hickethier den Kulturbegriff der cultural studies gegenüber, den er wie folgt beschreibt: »Hier wird bei ‘Kultur’ nicht an das gesellschaftlich integrative System gedacht, das die Vermittlung von Kommunikation und Kognition leisen soll, sondern die Gesellschaft wird als Nebeneinander verschiedener mehr oder weniger selbständiger Kulturen gesehen, die in sich ihre eigenen kulturellen Wertigkeiten ausbilden und sich gerade über diese Differenzen von einander abgrenzen und dadurch definieren.« (ebenda).

1.3 Kultur und Gesellschaft oder: Wer hat Kultur?

Ungelöst bleibt allerdings, wer nun Kultur hat.[6] Soll Kultur in Bezug zur Gesellschaft gesetzt werden? Oder ist Kultur etwas, das auch innerhalb einer Gesellschaft in »Kulturen« stattfindet? Wenn hier auf Gesellschaft Bezug genommen wird, hat dies allerdings mehrere recht unangenehme Folgen. Zum einen wird eine Einheitlichkeit von Gesellschaft und Kultur postuliert, die offen lässt, wie sich Kultur für die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft darstellt. Wenn jede Gesellschaft nur eine Kultur haben kann, und jede Kultur einer Gesellschaft zugeordnet ist, bleibt weder Platz für Subkulturen noch für unterschiedliche intragesellschaftliche Zugänge von unterschiedlichen Kollektiven und Individuen zur Kultur. Zugleich wird damit impliziert, dass eine Weltgesellschaft mit genau einer Weltkultur versehen sein müsste, was sofort an das Schlagwort der McDonaldisierung (Ritzer 1995) denken lässt, und ein wenig später an Samuel Huntingtons Clash of Civilizations als Darstellung des ultimativen Kulturkampfes – es sei denn, Kultur wäre kein mehr oder weniger uniformierender Begriff, sondern würde es zulassen, dass in einer Kultur widersprüchliche und entgegengesetzte »Verhaltens­kon­fi­gu­rationen« zugleich existieren. Denn wer nicht an kollektiven Identitäten hängen bleiben möchte, die durch Kultur erst schön werden (Cernay 1999: 22), muss sich fragen, wie eine Annäherung an einen Kulturbegriff stattfinden kann, der auch für die Untersuchung ‘transkultureller’ Phänomene brauchbar bleibt. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet Anthony Giddens an, wenn er davon spricht, dass »Kultur« sich auf die »Lebensweise der Mitglieder einer Gesellschaft oder von Grup­pen innerhalb einer Gesellschaft« bezieht (1995: 38; Hervorhebung durch T.W.)[7]. Insgesamt würde dieser Ansatz eher der zweiten der genannten Definitionen entsprechen und bietet den Vorteil, die Gleichsetzung der Gültigkeitsbereiche von Kultur und Gesellschaft aufbrechen zu können.

Damit gerät ein bislang oft unangefochtener Grundsatz der Sozialwissenschaften ins Blickfeld: der postulierte Isomorphismus von Territorialität, Identität und Kultur: ein Land, eine Nation, eine Kultur. Nur wenn, wie Helmuth Berking in Bezugnahme auf Neil Brenner schreibt, »soziale Beziehungen sich in territorial umzäunten und räumlich isomorphen Einheiten organisieren und reproduzieren« (1998: 384), nur wenn »‘Gesellschaft’, ‘Kultur’ und ‘Ökonomie’ zugleich als zusammengehörige und differenzierungstheoretisch zu separierende Momente einer einzigen territorialen Totalität« (ebenda) gedacht werden, scheint es überhaupt möglich zu sein, sozialwissenschaftliche Aussagen über die Kultur, die Gesellschaft und natürlich auch den Volkscharakter eines Nationalstaates zu machen. Wie allerdings eine Soziologie aussehen kann, die auf die Bindung von Kultur, Gesellschaft und Sozialstruktur an territoriale Container verzichtet, lässt sich zur Zeit allerhöchstens in ersten Ansätzen ausmachen. Als eine Möglichkeit scheint sich der Bezug auf die blind Grenzen überschreitenden Systeme einer Weltgesellschaft a la Luhmann anzubieten.

Eine andere Alternative wäre der Rückzug in die Analyse von kleineren Akteurskonstellationen und sich selbst bewußter Gruppen entlang globaler oder lokaler Zirkulationen, ohne sich um die großen sozialen Einheiten zu sorgen. Im ersten Fall würde der territorial gebundene Gesellschaftsbegriff zugunsten einer Weltgesellschaft (und einer – in sich widersprüchlichen? Weltkultur) aufgegeben werden, im zweiten Fall würde Gesellschaft zugunsten von Begriffen wie Gruppe, Akteursnetzwerk u.ä. auf jeden Fall in den Hintergrund gedrängt. Gesellschaft verliert dabei den Charakter eines kompakten, gut in einen Container passenden Quaders und wird zu einem wolkigen Gebilde, dessen Form eher einer Galaxie ähnelt, einem Gebilde, das zu den Rändern hin ausfranst und sich entlang globaler Handlungsketten und Symbolströme mit anderen, ähnlichen Gebilden vernetzt, verwebt, während sein Kern sich um einen Cluster dichterer und schnellerer sozialer Handlungen bzw. Kommunikationen konzen­triert. Zu einem gruppenspezifischen Kulturbegriff kommt damit ein netzwerkartiger Begriff des Sozialen. Auch wer diesem weitgehenden Paradigmenwechsel weg von der Gesellschaft und der Kultur, weg von den nationalstaatlichen Gesellschaften als »territorial fixierte[n] und kulturell homogene[n] Einheiten« (Berking 1998: 383) hin zu flexibleren, fließenderen Untersuchungseinheiten nicht mitgehen möchte, steht zumindest vor der Notwendigkeit, jeden soziologischen Untersuchungs­gegen­stand vor einer näheren Betrachtung daraufhin abzuklopfen, ob er der traditionellen Logik ortsgebundener Großräume gehorcht oder eher in einem space of flows (Castells 1996: 378; zit. nach Berking 1998: 384) anzusiedeln ist, ob also das klassische Instrumentarium der Sozial­wissenschaften auf ihn anwendbar ist, oder ob zu anderen Werkzeugen und Methoden gegriffen werden muss.[8]

1.4 Werbung als Teil der Kultur

Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, wie ein Kulturbegriff aussehen kann, der mit dem Massenmedium Werbung etwas anfangen kann. Der Rückgriff auf Geertz macht deutlich, dass es aus kultureller Sicht eigentlich in den folgenden Teilen dieser Arbeit darum gehen müsste, an das Thema westlicher Werbung in Indien kleinräumig und konkret heranzutreten. Es könnte z.B. verglichen werden, wie verschiedene Gruppen von Menschen in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten mit ähnlicher westlicher Werbung umgehen, etwa in einem Dorf im ländlichen Indien, in der oberen Mittelschicht einer indischen Großstadt, in einem Dorf in Westeuropa, in einer amerikanischen Großstadt. Dann würden sich wahrscheinlich tatsächlich Antworten auf die Frage finden lassen, welche Rolle Werbung für das alltägliche Leben dieser Menschen spielt, wie diese als Teil der Alltagskultur in das subjektive und intersubjektive Bedeutungsgewebe eingebettet wird, und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es dabei zwischen verschiedenen soziokulturellen Settings gibt. Eine weitere ausführlichere Möglichkeit des Zugriffs bestände darin, den (transnationalen) Handlungsketten durch den space of flows zu folgen, die zu spezifischen Werbungen führen. Dabei müsste es dann nicht nur darum gehen, diese nachzuvollziehen, sondern auch darum, z.B. mit den daran beteiligten Individuen oder Gruppen von Menschen zu klären, wie das spezifische mediale Werbeprodukt jeweils aus den spezifischen symbolischen Hintergrundkontexten heraus interpretiert wird, und welche Folgen sich aus diesen kulturellen Zuschreibungen dann jeweils wieder für die entsprechenden Handlungswelten ergeben.

Beide Vorangehensweisen würden sich nur mit Hilfe von ausgedehnten Feldstudien, Tiefeninterviews, ausführlichen Beobachtungen und weiteren umfangreichen soziologischen und ethnographischen Methoden erreichen lassen. Anders als der Idealfall es vorsieht, bleibe ich deswegen wie angekündigt beim eher Abstrakten und Theoretischen, und werde darauf eingehen, wie Werbung als Massenmedien in älteren und neueren Betrachtungen globaler Kommunikation gesehen wird. Im Hintergrund wird dabei der hier ausgeführte Kulturbegriff mitspielen.

Wichtig ist es vielleicht noch, zu betonen, dass Massenmedien – und damit auch die Werbung – zwar als Teil von Kultur(en) untersucht werden können, dass das für uns Interessante an Kultur allerdings nicht die kulturellen Artefakte sind, und auch nicht die Bezugnahme auf Mediensysteme, sondern die Frage des »Umgang[s] mit ihnen, den Gebrauch, den Menschen von ihnen machen.« (Hickethier 1999: 206). Zwischen Massenmedien und Kultur gibt es also durchaus einen Zusammenhang, aber die beiden Bereiche sind nicht identisch. Dies soll berücksichtigt werden, und trennt dann auch den sozialwissenschaftlich-kulturwissenschaftlichen, stärker am Kultur als sozialem Prozess orientierten Zugang vom literaturwissenschaftlich-medien­wissen­schaft­lichen, für den kulturelle Artefakte wie Bücher oder Filme im Vordergrund stehen.

2 Rolle der Werbung in älteren Theorien internationaler Kommunikation

Der Blick auf sozialwissenschaftliche Diskurse, die noch nicht zu Klassikern geworden sind, die aber auch nicht mehr aktuell genug sind, um sie für den letzten Stand der Dinge zu halten, birgt immer seine besonderen Gefahren. In diesem Kapitel wird es unter anderem darum gehen, einen Blick auf einen solchen Diskurs zu werfen, nämlich um den in den 70er und 80er Jahren geführten Diskurs um eine Neue Internationale Informationsordnung.[9] Dieser Diskurs findet sein Zentrum im MacBride-Report (UNESCO 1981), dem Abschlussdokument einer Arbeitsgruppe der UNESCO, die auf Anregung vor allem der Entwicklungsländer eingesetzt worden war, um »die Kommunikationsprobleme der gegenwärtigen Weltgesellschaft zu studieren.« (Reimann 1992: 332). Der Arbeitsauftrag dieser Kommission bestand darin, Maßnahmen zu finden, »welche die zwischen den entwickelten und den Entwicklungsländern bestehende Kommunikationskluft abbauen könnten« (UNESCO 1981: 360). In vielen Punkten folgt der MacBride-Report in seinen Aussagen und der zugrundeliegenden Methodik modernisierungstheoretischen Grundannahmen (vgl. Reimann 1992: 335f), die – ebenso wie andere in den 70er bis 80er Jahren vorherrschende Theoriestränge – von einem unilinearen Entwicklungsmodell ausgehen. Auf jeden Fall entspricht der Report dem, was damals inhaltlich als die brennenden Fragen im Zusammenhang mit internationaler Kommunikation betrachtet wurde. Zusammenfassend schildert Anja Rullmann die Situation der 70er und frühen 80er Jahren wie folgt:

Themen der Internationalen Kommunikation wurden in den siebziger Jahren sowohl auf der politischen (Auseinandersetzung um eine Neue Internationale Kommunikationsordnung in der UNESCO) wie auf der wissenschaftlichen Ebene (Diskussion um den ‘Kulturimperialismus’, Kommunikationsflüsse) heftig diskutiert. Anfang der achtziger Jahre erlahmte die Diskussion. Nachdem die USA und Großbritannien die UNESCO aus Protest über die Kommunikationspolitik verlassen hatten, klammerte diese das Thema aus und wand sich verstärkt Programmen der praktischen Medienhilfe zu, die auf neueren Ansätzen der Modernisierungstheorie basieren. Auch die Wissenschaft mied die ‘großen Theorien’ und beschäftigte sich verstärkt mit Spezialbereichen der Internationalen Kommunikation, wie der Bedeutung neuer Technologien und der Krisen- und Kriegskommunikation. Dem Bedeutungsverlust der Entwicklungsländer als Schauplatz für Stellvertreterkriege folgte auch ein Rückgang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Ländern. Da die Internationale Kommunikation ihre programmatische und ideologische Funktion eingebüßt hat, verlagerten sich die Forschungsschwerpunkte auf andere Bereiche der Kommunikationswissenschaft. (Rullmann 1996: 45)

Nach diesem Bruch (der sogenannten »Theoriekrise«, Rullmann 1996: 20; vlg. auch Kunczik 1985: 9) wurde das Thema interkultureller, internationaler und transnationaler Kommunikation erst Anfang der 90er Jahren wieder aufgenommen – doch diesmal unter einer völlig veränderten Perspektive, nämlich der einer globalisierten Welt nach dem Ende des Ostblocks. Natürlich gibt es auch heute noch Bezüge auf die älteren Theorien (insbesondere in den kritischen, ökonomisch orientierten Globalisierungstheorien), und natürlich gibt es inzwischen auch Ansätze, den mit dem Ende des Sozialismus eingeleiteten Transformationsprozess zu untersuchen. In diesem Kapitel soll es allerdings darum gehen, die Weltsicht der 70er und 80er darzustellen, z.T. mit Hilfe eher zeitgenössischer Literatur, z.T. mit Hilfe von rückblickenden und zusammenfassenden Betrachtungen (vgl. Reimann 1992, Rullmann 1996). Dabei werde ich zuerst die verschiedenen damals vorherrschenden Theoriestränge in Bezug auf internationale Kommunikation vorstellen, um danach zu vergleichen, wie jeweils die Rolle der Werbung gesehen wurde und zu einem abschließenden Fazit zu kommen.

2.1 Back to the 70s! Die Theorien im Überblick

Zurück zu den Zeiten, als Gesellschaft noch Gesellschaft und Kultur noch Kultur war. Anja Rullmann (1996) stellt aus der Perspektive internationaler Kommunikation zwei konkurrierende Theorieansätze vor: Die Modernisierungstheorie und die Dependenztheorie. Daneben spielen Theorien des Kultur- und Medienimperialismus eine große Rolle; diese lehnen sich an Motive der Dependenztheorie an. Allen drei Ansätzen gemeinsam ist die Tatsache, dass sie die unterschiedliche Situation in entwickelten Ländern und Entwicklungsländern thematisieren. Zwischen Modernisierungstheorie und Dependencia kommt es dabei zu einer Umkehrung der Argumentation: Während die – ältere – Modernisierungstheorie Unterentwicklung als ein Problem ansieht, das in innerstaatlichen Faktoren begründet ist, und als Lösung externe Hilfe vorschlägt, drehen sich die Argumente bei der Dependenztheorie. Jetzt sind es externe Faktoren (vor allem die weltwirtschaftliche Abhängigkeit), die als ursächlich für Unterentwicklung gesehen werden – dementsprechend liegt die Lösung für das Problem der Unterentwicklung aus Sicht der Dependencia im innerstaatlichem Handeln, d.h. vor allem in der Abkopplung vom Weltmarkt. Ähnlich sieht es in Bezug auf Kommunikationswissenschaften aus: »Mo­der­ni­sie­rungs­theoretiker betrachten die Massenmedien als Motor der Entwicklung, Vertreter eines kul­tur­imperialistischen Ansatzes dagegen als Entwicklungshemmnis.« (Rullmann 1996: 20).

2.1.1 Modernisierungstheorien

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich der Begriff Modernisierung etabliert. Gemeint ist damit – ähnlich wie heute mit dem Begriff Globalisierung – ein Konglomerat verschiedener Prozesse des sozialen Wandels, der hier als soziale Entwicklung gesehen wird. Der politische Hintergrund für Modernisierung als Doppelpaket aus wissenschaftlicher Theorie und politischem Programm zur Überwindung von Unterentwicklung erklärt sich aus der damaligen politischen Situation: Im Ost-West-Konflikt und in den Konflikten der ehemaligen Kolonien sah der Westen die Notwendigkeit, »dem sozialistischen Modell einen überlegenen gesellschaftstheoretischen Entwurf entgegenzustellen« (Rullmann 1996: 20).

Im Rahmen der Modernisierungstheorie wird Entwicklung als unilinearer (Reimann 1992: 335), zielgerichteter (Rullmann 1996: 21) Prozess gesehen. »Modernisierung beschreibt den Transformationsprozess, der traditionale Staaten zur Moderne führt.« (ebenda). Dementsprechend gliedern Modernisierungsmodelle diesen Prozess des Fortschritts in verschiedene Phasen und versuchen idealtypisch darzustellen, wie im Zusammenspiel von Subprozessen verschiedenen Sektoren (Wirtschaft, Wertewandel, Mobilisierung, Partizipation, Institutionalisierung) diese Phasen der Entwicklung (traditionale Gesellschaft, transitionale Gesellschaft, moderne Gesellschaft) nach und nach durchlaufen (Rullmann 1996: 22ff). »Fast alle Ansätze betonen dabei die Bedeutung ökonomischer Faktoren. Das primäre Ziel sehen sie in der Erreichung eines sich selbsttragenden wirtschaftlichen Wachstums.« (ebenda). Weiterhin wurde angenommen, dass wirtschaftliches Wachstum wie im Westen auch automatisch zu Demokratisierungsprozessen, Wertewandel etc. führen würde. Großen Wert legen deswegen viele Arbeiten darauf, Faktoren zu identifizieren, die wirtschaftliche Entwicklung in Gang setzen.

In gewisser Weise nehmen Modernisierungstheorien damit die historische Entwicklung Europas – in der die englische industrielle und die französische politische Revolution bekanntermaßen eine prominente Rolle spielen – und verallgemeinern es zu einem Modell, von dem angenommen wird, dass es prinzipiell auf alle Gesellschaften anwendbar ist:

Das Ein-Gesellschafts-Modell mit seiner Grundannahme eines irreversiblen und globalen Prozesses, der von traditionalen zu modernen und postmodernen Systemen in relativ universellen Sta­dien führt, orientiert sich dabei an alten idealtypologischen Dichotomien von »Tra­di­tion-Modernität«. Die Verschiedenartigkeit der Kulturen erscheint danach im Endstadium der Modernität […] aufgehoben. Die Ziele der transitionalen Gesellschaften werden durch die Merkmale der fortgeschrittensten Systeme indiziert. Es liegt nahe, daß solche Modernisierungstheorien, vor allem in ihrer Anwendung auf entwicklungspolitische Strategien, auch normative Wirkung zeitigen. (Reimann 1992: 337)

[...]


[1] An dieser Stelle schon mal eine Entschuldigung für die inkonsequente Handhabung von Anführungszeichen – ‘Westen’ und ‘Dritte Welt’, ‘Moderne’ und ‘Tradition’ müssten als offensichtliche Konstrukte eigentlich die ganze Arbeit über so geschrieben werden – aus verschiedenen Gründen ist dies aber nicht der Fall.

[2] Damit meine ich zum einen traditionelle indische Produkte wie bindis (die Punkte, die indische Frauen auf der Stirn tragen) oder Betel, die in Indien wie westliche Massenkonsumprodukte auch in westlicher Weise beworben und verpackt werden (vgl. PAGE 1999) und zum anderen »traditionelle« nicht-westliche Waren, die plötzlich im Westen auftauchen, dort aber aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen verwendet werden (vgl. hierzu z.B. Hendrickson 1996).

[3] Ohne damit aussagen zu wollen, dass Werbung nur in kapitalistischen Gesellschaften auftritt. Allerdings scheint es eine Verbindung zwischen Werbung und Handelswesen zu geben, deren genau Ausprägung unter anderem auch von den jeweils verfügbaren Medientechnologien von der menschlichen Stimme bis zum Vierfarbdigitaldruck bestimmt war. (Vgl. Westermayer 1999: Kap. 2.1).

[4] Im Original: »… complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society« (p.1.); zitiert nach Singh 1998: 41.

[5] Egal, ob der Schwerpunkt der Betrachtungsweise jetzt auf Handlungen oder Kommunikationen als mögliche Letztinstanz in diesem System von Beziehungen zwischen Individuen gelegt wird, oder ob eher die strukturelle oder funktionale Ausgestaltung und Arbeitsweise von Gesellschaft interessiert; in beiden Fällen ist Gesellschaft etwas, dass sich aus den vielfältigen Beziehungen zwischen Individuen ergibt.

[6] Vgl. zu dieser Frage auch Wolfgang Welsch, der mit seinem Ansatz der Transkulturalität davon ausgeht, dass heutige Kulturen gegenüber der alten Vorstellung geschlossener Nationalkulturen durch eine Vielfalt möglicher Identitäten gekennzeichnet sind und grenzüberschreitende Konturen haben. (1995: 39)

[7] Wobei Giddens dabei wiederum deren Symbolisierungen in Medien, Werkzeugen, etc. meint.

[8] Interessant sind diese Überlegungen natürlich vor allem im Zusammenhang mit den häufig »künstlich« geschaffenen heutigen Ländern der »Dritten Welt«, bei denen diverse verschiedene Traditionslinien und Kulturen (im ursprünglichen Sinne) zusammengeworfen worden sind, Teile durch Linealgrenzen abgetrennt wurden usw. Ein herausragendes Beispiel dafür ist auch Indien, dass zwar eine spezifische dominierende hinduistische Traditionslinie aufweisen kann, aber sich im Grunde genommen gerade durch seine Vielfalt auszeichnet. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy schreibt dazu: »Ob es je eine einheitliche Kultur gegeben hat, die sich ‘indische Kultur’ nennen könnte, ob Indien eine zusammenhängende kulturelle Einheit war, ist oder sein wird, hängt davon ab, ob man die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten in der Kultur der Völker betont, die den Subkontinent seit Jahrhunderten bewohnen. […] Unser Land, wie wir es kennen, wurde auf dem Amboß des britischen Empire aus ganz unsentimentalen kommerziellen und bürokratischen Gründen geschmiedet. Aber schon in seiner Geburtsstunde begann es sich gegen seine Schöpfer aufzulehnen. Ist Indien also indisch?« (1999: 144f.)

[9] Siehe hierzu vor allem Abschnitt 2.2.2.

Ende der Leseprobe aus 63 Seiten

Details

Titel
Werbung in Theorien globaler Kommunikation. Von den 70er Jahren bis heute
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Seminar Kulturelle Globalisierung
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
63
Katalognummer
V6810
ISBN (eBook)
9783638143004
Dateigröße
562 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Werbung, Theorien, Kommunikation, Jahren, Seminar, Kulturelle, Globalisierung
Arbeit zitieren
Till Westermayer (Autor:in), 2000, Werbung in Theorien globaler Kommunikation. Von den 70er Jahren bis heute, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6810

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