Gilded Age und Progressive Era: Euphemistische Begrifflichkeit für eine gesellschaftliche Katastrophe?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

28 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Amerikanische Industrie seit 1865
2.1 Der Aufstieg der Konzerne
2.2 Die Kehrseiten der Wirtschaftsentwicklung
2.3 Sozialdarwinismus
2.4 Die Auswirkungen auf die Gesellschaft

3. Die Arbeiterklasse
3.1 Die Arbeitsbedingungen
3.2 Die Gewerkschaften

4. Urbanisation
4.1 Der Wandel der Städte
4.2 Ghettobildung

5. Die Innenpolitik

6. Die progressive Bewegung
6.1 Erfolge der Bewegung

7. Fazit

8. Literaturangaben

1. Einleitung

Upton Sinclair (1878-1968) gilt als Repräsentant für die Literatur der Progressive Era. Seine Romane zeichnen sich durch eine dramatische Exposition der Missstände innerhalb der amerikanischen Gesellschaft aus. Zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn war Sinclair als Journalist tätig und hatte dadurch die Möglichkeit die vielen Facetten der Gesellschaft kennen zu lernen. Seine Romane und Artikel rückten ihn in den Kreis der Muckraker (Schmutzaufwühler). Als Muckraking-Era wird die Zeit zwischen 1902 und 1912 bezeichnet, wohin gegen der Begriff in den Vereinigten Staaten auch heute noch als Bezeichnung für den investigativen Journalismus gebraucht wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand jedoch die abwertende Prägung des Begriffs im Vordergrund. Präsident Theodore Roosevelt (1858 – 1919) sprach in einer Rede in Anspielung auf John Bunyans Roman „Pilgrim’s Progress“ vom Enthüllungsjournalisten als: „the man who could look no way but downward with the muckrake in his hands; who would neither look up nor regard the crown he was offered, but continued to rake to himself the filth on the floor”.[1]

Anlass für diese zornige Äußerung war die von David Graham Phillips 1906 veröffentlichte Artikelserie “The Treason in the Senate”, in die der Journalist Republikanern und Demokraten vorwarf, allein den Interessen der Reichen zu dienen. In diesen Artikeln wurden 17 Senatoren angegriffen, für Geld verschiedene Großunternehmen bevorzugt zu haben. Roosevelt konnte mit seinen diffamierenden Äußerungen den Aufschwung des investigativen Journalismus nicht aufhalten. Im Gegenteil: Er stachelte die Muckraker mit seiner Kampfansage nur noch weiter an.

Der Begriff Muckraking bürgerte sich in der Folgezeit ein, verlor seine negative Konnotation und ist heute in einem eher positiven Sinne gebräuchlich. Das amerikanische Center for Investigative Journalism hat beispielsweise seine Zeitschrift „Muckraker“ genannt. Synonym wird anstelle von Muckraking heutzutage jedoch häufiger der positiver klingende Begriff „public service journalism“ gebraucht.

Die Grundlage für den Beginn des investigativen Journalismus waren zum einen die ökonomischen und technischen Veränderungen der Zeit um 1900. Zum anderen vollzog sich um die Jahrhundertwende ein Wandel in der geistigen Grundhaltung vieler Amerikaner, auf der die neue Form des Journalismus gedeihen und zur Blüte kommen konnte.

Diese Arbeit möchte die ökonomischen und technischen Veränderungen, aber auch die angesprochene veränderte, geistige Grundhaltung in der amerikanischen Gesellschaft um 1900 aufzeigen und analysieren. Da die Fülle an Ereignissen in dieser Zeit den Umfang dieser Hausarbeit übersteigt, konzentriere ich mich auf den Aufschwung der amerikanischen Wirtschaft und seine Auswirkungen auf die Gesellschaft. Dabei werden die in dieser Arbeit angesprochenen Schwerpunkte, wie Arbeitsbedingungen, Umweltverschmutzung oder Innenpolitik, durch Beispiele aus Sinclairs Roman The Jungle erklärt. Denn Sinclairs Roman beschreibt detailreich und zutreffend die Übel in der amerikanischen Gesellschaft. Sein Roman wurde dadurch zu einem immensen Erfolg und hatte großen Einfluss auf die Politik des Landes, die mit Reformen die im Roman genannten Missstände zu bekämpfen versuchten. Sinclair sprach daher von seinem Roman: „I aimed at the public’s heart and by accident I hit in the stomach. “[2]

Da die Wurzeln für die großen gesellschaftlichen Probleme in den Vereinigten Staaten bereits zum Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs gelegt wurden, befasst sich diese Arbeit verstärkt mit den Entwicklungsprozess der Industrialisierung im, von Mark Twain benannten, „Vergoldeten Zeitalter“ (gilded age). Die Reformversuche in der dem gilded age folgenden progressive era werden in einem abschließenden Abschnitt erörtert.

Am Ende dieser Arbeit gehe ich der Frage nach, ob unter den positiv anmutenden Epochenbezeichnungen Gilded Age in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Katastrophe abspielte und ob in der progressive era die Übel in der Gesellschaft ausgemerzt wurden.

2. Die Amerikanische Industrie seit 1865

Nach Ende des Bürgerkriegs nahm der industrielle Sektor die dominierende Rolle innerhalb der Vereinigten Staaten ein. Im Gegensatz zu Europa lassen sich drei Eigenarten des amerikanischen Industrialisierungsprozess ausmachen, die für den intensiveren wirtschaftlichen Aufschwung des Landes sorgten. Zum einen wurde der Industrialisierungsprozess nicht vom Staat gelenkt.[3] Während in Europa oft das wirtschaftliche Wachstum durch die schwerfällige Bürokratie gebremst wurde, konnte der Aufschwung in den Vereinigten Staaten unvermindert an Fahrt gewinnen. Zum anderen stand in den Vereinigten Staaten die kapitalistische Marktwirtschaft nicht der politischen Demokratie als Gegensatz gegenüber.[4] Die Gesellschaft teilte sich nicht in Klassen auf und bekämpfte sich. Ein weiterer Unterschied zum feudal geprägten Europa war die Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Verfassung. Um soziale Missstände zu bekämpfen, war eine revolutionäre Umwälzung nicht von Nöten. Die Verfassung erlaubte Umänderungen und Anpassungen an neue Gegebenheiten. Die Verfassung wurde daher von den Amerikanern nie angezweifelt und es bestand kein Wunsch nach einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Innenpolitisch kam noch hinzu, dass nach dem Bürgerkrieg die „Pflanzer“ aus dem Süden keine politische Hürde mehr für die Kapitalisten aus dem Norden darstellten.[5]

Trotz dieser glänzenden Aussichten für die amerikanische Wirtschaft, blieb sie dennoch nicht von Rückschlägen verschont. Nahezu in jeder Dekade nach dem Bürgerkrieg erlebte der konjunkturelle Aufschwung einen Dämpfer. Zwar stieg das Wirtschaftswachstum kontinuierlich an, wurde aber in den Jahren 1866/67, 1873-78, 1884-87 und 1893-97 gebremst. Weder die Zeitgenossen, noch die heutigen Wirtschaftshistoriker fanden eine Erklärung für die Wirtschaftszyklen. Jedoch ist bemerkenswert, dass die Konjunkturlage der Vereinigten Staaten schon damals die Konjunktur der Weltwirtschaft widerspiegelte.

2.1 Der Aufstieg der Konzerne

Das industrielle Wachstum wurde größtenteils von den neuen Erfindungen begünstigt. Als wichtigste Erfindung gilt hierbei die Entdeckung der Elektrizität. Bis 1900 wurden in den Vereinigten Staaten knapp 3000 Kraftwerke gebaut, die nicht nur in privaten und öffentlichen Gebäuden für Licht, sondern auch in den Fabriken für den Antrieb der Maschinen sorgten. Als weiterer Antriebs- und Brennstoff kam Petroleum und Öl hinzu. Die Erfindung des Stahls revolutionierte den Gebäudebau und verbesserte die Leistungsfähigkeit der Eisenbahn, die nun sicherer und effizienter wurde. Aber auch Verbesserungen in der Nahrungsmittelindustrie, wie die Erfindung des Kühltransports und der Konservendose, verhalfen der Industrie zu einem starken Wachstum.

Die neuen Industriezweige verlangten nach einer Modernisierung der Herstellungsprozesse. Um für die Massenproduktion fertigen zu können, bedurfte es wissenschaftlich fundierte Managementmethoden. Zwischen dem Besitzer und den Arbeitern wurde eine administrative Ebene, die sog. „middle manager“, zwischengeschaltet.[6] Ebenso mussten enorme Summen investiert werden, um Fabriken zu bauen, in denen auf Massenproduktion gearbeitet werden konnte. So wandelten sich viele Unternehmen nach Ende des Bürgerkriegs in Aktiengesellschaften um, damit die Geldmenge des Unternehmens erhöht werden konnte. Die nötigen Investitionen waren dadurch realisierbar. Insbesondere die Eisenbahnfirmen nutzten früh diese Möglichkeit, um ihr Streckennetz ausbauen zu können, oder andere, kleinere Konkurrenten aufzukaufen. In diesem industriellen Sektor war der Markt schnell unter wenigen Eisenbahn-Tycoons aufgeteilt und die wirtschaftliche Macht in diesem Sektor lag allein bei den Besitzern der Unternehmen. Die Monopolbildung erfolgte auch in anderen Wirtschaftszweigen, wie dem Stahlbau. Dabei breiteten sich die Firmen nicht allein in ihrem Markt aus, sondern drängten auch in unternehmensnahe Segmente.

Der freie Markt erlaubte die uneingeschränkte Aneignung kleinerer Firmen durch große Unternehmen. Viele Industriesektoren waren um 1900 daher in der Hand von wenigen Unternehmen, den sog. Trusts. Die Konzerne hielten zudem untereinander Absprache über den Preis von Produkten, so dass der Preis künstlich hochgehalten wurde.[7] Ein Verbot gegen Kartellbildung gab es zu diesem Zeitpunkt in den Vereinigten Staaten nicht. Daraus folgte, dass 1900 1% der amerikanischen Firmen ein Drittel der amerikanischen Produktionen kontrollierten.[8] Ganze Industriezweige lagen oft in der Hand von einer Person. John D. Rockefeller kontrollierte die Ölproduktion, J. Pierpont Morgan die Stahlindustrie und Gustavus Swift die Nahrungsmittelindustrie.

Kleinere Unternehmen blieb oft nur der Zusammenschluss zu Kooperationen, um am Markt bestehen zu können.[9]

2.2 Die Kehrseiten der Wirtschaftsentwicklung

Wie sich bereits gezeigt hat, war die Wirtschaft am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr frei. Die Dominanz der Konzerne war erdrückend und verhinderte das Aufstreben kleinerer Unternehmen. Die Preisabsprache unter den dominierenden Großunternehmen hielt den Preis für viele Produkte künstlich hoch und bremste das Konsumverhalten der Amerikaner.

Die Macht im Staat hatte sich ebenfalls verschoben. Waren es zu Beginn des Bürgerkriegs noch die Großgrundbesitzer in den Südstaaten, die Kaufleute aus dem Norden, die Mitglieder der Aristokratie, sowie die alte Mittelklasse, die die Macht im Staat ausübten, so waren es um 1900 die Industriellen und Investmentbanker, die ihre Interessen skrupellos den amerikanischen Bürgern aufdrückten.[10] Die Politiker, die es auf immer höhere Summen Schmiergeld abgesehen hatten, wurden bestochen. Am Ende bestand das politische Geschäft Amerikas aus Politikern, die die Unternehmen erpressten und in der Höhe der Schmiergelder gegeneinander ausspielten.

Die Skrupellosigkeit und Undiszipliniertheit sind bis heute die Eigenschaft der amerikanischen Industrie.[11]

2.3 Sozialdarwinismus

In weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft existierte der Mythos, dass jeder, der nur hart genug arbeitet, von Gott Reichtum in Form von Geld und anderen materiellen Gütern erhält. Der Sozialdarwinismus war hierbei Grundlage der Anschauung. Der gesellschaftliche Kampf zwischen den Menschen teilt die Gesellschaft in Starke und Schwache ein. Die Schwachen werden am Ende zum Wohle der Gesellschaft verdrängt, die Starken überleben und die Gesellschaft besteht fortan nur noch aus den Starken.

Das Verhalten der Industrietycoons konnte dadurch gerechtfertigt werden und der Sozialdarwinismus wurde daher von Rockefeller, Carnegie und ähnlichen verbreitet. In dieser Weltordnung waren die Arbeiter und Gewerkschaften von vornherein zum Scheitern verurteilt, genauso wie politische Kontrollen über die Industrie.[12] Danach dominieren nur zwei Gesetze die Gesellschaft. 1. Das Gesetz des Wettbewerbs und 2. Das Gesetz des Angebots und der Nachfrage.

Aber da das Geld von Gott gegeben wurde, war von den Vermögenden auch ein christliches Verhalten gefordert. Viele der Tycoons gaben das Geld jedoch nicht direkt an die Armen, sondern investierten in öffentliche Einrichtungen. Carnegie finanzierte beispielsweise die Errichtung und den Ausbau von Bibliotheken in den größeren Städten der Vereinigten Staaten. Das private Vermögen sollte damit zugleich öffentlicher Segen sein.

2.4 Die Auswirkungen auf die Gesellschaft

Der immense Profit, den die Unternehmen erwirtschafteten, wurde nicht an die Arbeiter weitergegeben. Die Unternehmen versuchten stattdessen die Löhne zu drücken und erpressten die Arbeiter mit der Aussicht, dass die neuen Immigranten sonst für weniger Lohn eingestellt würden, sollten die Arbeiter nicht einer Lohnsenkung zustimmen. Dabei schnitten sich die Unternehmen auch selbst ins eigene Fleisch, da die Arbeiter als potenzielle Kunden nicht in Frage kamen.

Die Lücke zwischen Arm und Reich wurde in den Vereinigten Staaten immer größer und am Ende des 19. Jahrhunderts lebten bereits 1/8 aller Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze.[13]

[...]


[1] Roosevelt, Theodore: http://www.spartacus.schoolnet.co.uk/USArooseveltT.htm (16.06.2006)

[2] Sinclair, Upton: The Jungle. Mineola 2001. S.v

[3] Heideking, Jürgen: Geschichte der USA. Tübingen 2003. S.197

[4] Ebd.

[5] Current, Richard: American history: a survey. New York 1983. S. 516f.

[6] Current S.523

[7] Heideking S.205

[8] Current S.525

[9] Heideking S.205

[10] Henretta, James: America’s History. Volume 2: Since 1865. Bedford/St. Martins 2001. S.592

[11] Current S.528

[12] Heideking S.202

[13] Current S.529

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Gilded Age und Progressive Era: Euphemistische Begrifflichkeit für eine gesellschaftliche Katastrophe?
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Veranstaltung
HS: Continuity and Change: The U.S. before and after 1900.
Note
1,5
Autor
Jahr
2006
Seiten
28
Katalognummer
V67018
ISBN (eBook)
9783638599665
ISBN (Buch)
9783638671798
Dateigröße
504 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gilded, Progressive, Euphemistische, Begrifflichkeit, Katastrophe, Continuity, Change
Arbeit zitieren
Sven-Ole Schoch (Autor:in), 2006, Gilded Age und Progressive Era: Euphemistische Begrifflichkeit für eine gesellschaftliche Katastrophe?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/67018

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