Fehler im Krankenhaus. Analyse und Konzeption für ein niedrigschwelliges Meldesystem


Diplomarbeit, 2006

67 Seiten, Note: 1,65


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Über die Bedeutung von Fehlern

2. Diskussion des Fehlerbegriffs
2.1 Verwendung des Fehlerbegriffs in der Literatur
2.2 Betrachtung fehlerähnlicher Begriffe
2.2.1 Unerwünschte Ereignisse
2.2.2 Beinahe-Fehler

3. Zur Bedeutung von Fehlern und Fehlermanagement im Krankenhaus
3.1 Überblick über beteiligte Akteure und ihre Beziehungen untereinander
3.2 Staatliche Perspektive
3.3 Perspektive der Kostenträger
3.4 Perspektive des Krankenhausbetriebes
3.4.1 Rechtliche Aspekte
3.4.2 Betriebswirtschaftliche Aspekte
3.4.3 Aspekte der Reaktion auf Fehler
3.5 Perspektive der Mitarbeiter
3.5.1 Aspekte des Erlebens
3.5.2 Aspekte des Meldens
3.6 Perspektive der Patienten und deren Angehöriger

4. Anforderungen an ein Fehlermeldesystem
4.1 Definieren von ‚relevanten Ereignissen‘
4.2 Überwindung von Schwellen
4.3 Betriebliche Rahmenbedingungen

5. Konzept eines EDV-unterstützten Fehlermeldesystems
5.1 Einordnung des Konzeptes in das Fehlermanagement
5.2 Beschreibung des Konzeptes
5.2.1 Überblick
5.2.2 Zugangsmöglichkeiten
5.2.3 Meldung des relevanten Ereignisses
5.2.3.1 Vom Startmenü zum Postfach
5.2.3.2 Benutzung der Meldemaske
5.2.4 Auswertung und Rückfragen
5.2.5 Hilfen zur Überwindung von Schwellen
5.3 Beschränkungen des Konzeptes
5.4 Anmerkungen zur Evaluation

6. Ausblick

Literaturverzeichnis

Rechtsquellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Fehlerarten (Types of errors)

Abbildung 2: Eisberg-Modell und Heinrichs Gesetzmäßigkeit

Abbildung 3: Akteure im Regelkreis der stationären Krankenhausversorgung

Abbildung 4: Unerwünschte Ereignisse bei Krankenhausbehandlungen

Abbildung 5: Swiss Cheese Modell

Abbildung 6: Ereignisstrom und Schwellen der Fehlermeldung

Abbildung 7: Eigenschaften erfolgreicher Meldesysteme

Abbildung 8: Charakteristika effektiver Meldesysteme

Abbildung 9: Ebenen einer offenen Fehlerkultur

Abbildung 10: Charakterisierung des konzipierten Meldesystems

Abbildung 11: Zugangsmöglichkeiten zum Meldesystem

Abbildung 12: Ablaufschema zum Startmenü und zur Postfachanmeldung

Abbildung 13: Meldemaske

1. Über die Bedeutung von Fehlern

Wo immer Menschen wirken, unterlaufen ihnen dabei auch Fehler. Diese Unvermeidlichkeit gilt auch in der Arbeitswelt und wird durch die verbreitete tröstliche Weisheit ‚Nur wer nicht arbeitet, begeht keine Fehler‘ illustriert.

Obwohl das Irren also menschlich ist, sollte man allerdings Fehler nicht einfach so akzeptieren, denn in der Regel bleiben sie nicht ohne Folgen. In der Arbeitswelt des Krankenhauses, bei der das Leben und die Gesundheit der Patienten[1] ein Ziel der erbrachten Dienstleistungen ist, können diese Folgen zuweilen tragisch und unumkehrbar sein. Solche Fälle, wie z.B. die Geschehnisse in Berliner Kliniken im Frühsommer 2006, bei denen ein Patient 80 Stunden lang unbemerkt in einem defekten Fahrstuhl festsaß und zwei Patienten zu Tode kamen (Grabowsky, 2006), erreichen allerdings nur selten eine größere Öffentlichkeit und stellen damit nur die Spitze eines Eisbergs dar.

Neben ethischen Aspekten sind hier aber auch juristische und ökonomische Auswirkungen relevant. So verzeichneten die Haftpflichtversicherer für das Jahr 1999 etwa 22.600 Meldungen vermuteter Behandlungsfehler in Krankenhäusern (Hansis & Hart, 2001, S. 6). Aufgrund der möglichen Auswirkungen ergibt sich also der Anspruch, dass Fehler zu vermeiden sind.

Damit steht dieser Anspruch in Konflikt zur menschlichen Natur: Menschen machen Fehler, aber eigentlich dürfen keine Fehler passieren.

Eine mögliche – und gern praktizierte – Strategie zum Umgang mit diesem Konflikt liegt darin, aufgetretene Fehler einfach zu vertuschen oder zu verleugnen. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass sich ein aufgetretener Fehler so oder ähnlich wiederholt.

Langfristig gesehen ist es dagegen sinnvoller, gezielte Anstrengungen zu unternehmen, um möglichst viele vermeidbare Fehler zu vermeiden.

Eine Möglichkeit dazu liegt darin, ein Fehlermanagement zu betreiben. Ziel ist es dabei, aufgetretene Fehler systematisch zu erfassen, zu analysieren und Maßnahmen zu ergreifen, die ein erneutes Auftreten dieses Fehlers zumindest weniger wahrscheinlich machen. Das bedeutet, aus Fehlern Konsequenzen zu ziehen.

Wie diese Konsequenzen dann aussehen ist auch abhängig von der vorherrschenden Fehlerkultur, d.h. davon, wie „in einer Organisation mit Fehlern, deren Erfassung, Analyse, Behebung und Vermeidung umgegangen wird“ (Kahla-Witzsch, 2005c, S. 75).

Hierbei lassen sich eine ‚positive Fehlerkultur‘ und eine ‚Kultur der Schuldzuweisungen‘ unterscheiden.

In einer positiven Fehlerkultur wird ein Fehler hauptsächlich als Indikator für Verbesserungsmöglichkeiten und Verbesserungsnotwendigkeiten gesehen und dient als Ausgangspunkt für die Optimierung von betrieblichen Prozessen und Sicherungssystemen. Eine Kultur der Schuldzuweisungen zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass für einen aufgetretenen Fehler ein Schuldiger gesucht, gefunden und dann bestraft wird. Dieses Vorgehen führt allerdings eher zum Vertuschen von Fehlern (Kahla-Witzsch, 2005c, S. 75).

So spricht auch der Philosoph Karl Popper von der Unmenschlichkeit der Unfehlbarkeit und kritisiert, dass insbesondere auch in der Medizin eine Berufsethik vorherrsche, die zum Vertuschen der Fehler führe (1982, S. 115). Als Grundlage für eine neue Berufsethik schlägt er zwölf Sätze vor, in deren Mittelpunkt ein neues ‚Grundgesetz‘ steht, nachdem „wir, um zu lernen, Fehler möglichst zu vermeiden, gerade von unseren Fehlern lernen müssen“ (Satz 6, S. 115) und „daher dauernd nach unseren Fehlern Ausschau halten“ (Satz 7, S. 115) müssen.

Wenn man also diese Strategie der Fehlervermeidung verfolgt, ist man darauf angewiesen, viele aufgetretene Fehler zu erfassen, um in der Folge möglichst viele schon einmal aufgetretene Fehler vermeiden zu können.

Dabei ergibt sich das Problem, dass es Menschen oft schwer fällt, einen begangenen Fehler zuzugeben. Sei es aufgrund des eigenen Selbstbildes oder der erwarteten negativen Konsequenzen - von der Wahrnehmung des Fehlers bis zur erfolgten Meldung sind für die meldende Person verschiedene Hemmschwellen zu überwinden. Ein Fehlermeldesystem, das in eine positive Fehlerkultur eingebettet ist und es den Benutzern leichter macht, einen Fehler zu melden, kann somit dazu beitragen, mehr Fehler zu erfassen und daraus folgend in der Zukunft auch mehr Fehler zu vermeiden.

Ziel dieser Diplomarbeit ist daher die Herausarbeitung von Anforderungen an ein ‚niedrigschwelliges‘ Fehlermeldesystem und die Konzeption eines solchen Systems für Mitarbeiter der Pflegeberufe in einem Akutkrankenhaus. Die Beschränkung auf diese Berufsgruppe erfolgt dabei aus Gründen der Überschaubarkeit und weil das Personal des Pflegedienstes in Krankenhäusern seit Jahren mit knapp 40 % die größte Beschäftigentengruppe darstellt (Statistisches Bundesamt Deutschland, 2006). Generell entstehen Fehler natürlich ebenso in den Aufgabengebieten anderer Berufsgruppen oder berufsgruppenübergreifend – so wird auch im Rahmen dieser Arbeit keine genaue Abgrenzung zwischen Pflege und Medizin stattfinden. Von seiner Anlage her ist das konzipierte Fehlermeldesystem aber auch auf weitere Berufsgruppen ausdehnbar.

Das entwickelte System hat nicht den Anspruch, exakt wie beschrieben in einem beliebigen Akutkrankenhaus von außen implementierbar zu sein. Wirkliche Akzeptanz werden ein Fehlermeldesystem und eine damit verbundene Fehlerkultur nur erreichen, wenn sie aus einer Organisation heraus langsam wachsen. Aus diesem Grunde versteht sich das hier entwickelte System mit seiner zugrunde liegenden Analyse vor allem als Anregung und Argumentationsbasis.

Das Vorgehen in dieser Arbeit ist im Wesentlichen durch vier Schritte geprägt. Nach anfänglichen Überlegungen zum Fehlerbegriff (Abschnitt 2.1) und verwandten Begriffen (Abschnitt 2.2), erfolgt eine Analyse der Bedeutung von Fehlern und des Fehlermanagements in einem Akutkrankenhaus unter Beachtung der unterschiedlichen Perspektiven der involvierten Akteure (Abschnitt 3). Dabei werden auf der einen Seite die Vorteile und Möglichkeiten eines gezielten Fehlermanagements im Rahmen einer positiven Fehlerkultur deutlich. Auf der anderen Seite wird aber auch ersichtlich, dass hierbei Anstrengungen erforderlich sind und auch zusätzliche Kosten entstehen.

Aus dieser Analyse werden danach im nächsten Schritt Anforderungen an ein ‚niedrigschwelliges‘ Fehlermeldesystem abgeleitet (Abschnitt 4). Unter Berücksichtigung dieser Anforderung wird dann im vierten Schritt ein EDV-unterstütztes Meldesystem, das mit dem Betrieblichen Vorschlagswesen verknüpft ist, für Mitarbeiter des Pflegedienstes theoretisch entwickelt (Abschnitt 5.2). Abschließend werden Beschränkungen (Abschnitt 5.3) und Evaluationsmöglichkeiten für das konzipierte System diskutiert (Abschnitt 5.4).

Relevante Erkenntnisse und Fehlermeldesysteme aus der Literatur werden dabei nicht in einem Abschnitt zusammengefasst dargestellt, sondern fließen an geeigneten Stellen jeweils ein.

2. Diskussion des Fehlerbegriffs

2.1 Verwendung des Fehlerbegriffs in der Literatur

Die Meinungen darüber, was denn ein Fehler sei, gehen weit auseinander und sind nicht zuletzt auch eine Frage der Perspektive und Erwartungen. So zeigen beispielsweise die Ergebnisse von Gallagher, Waterman, Ebers, Fraser und Levinson (2003), dass sich die Wahrnehmung diesbezüglich zwischen medizinischem Fachpersonal und Patienten deutlich unterscheidet. Letztere sehen u. a. auch schlechten Service oder nicht verhinderbare Folgen einer Behandlung als Fehler an (S. 1003). Dementsprechend herrscht zu diesem Thema auch in der Literatur eine breite Meinungsvielfalt.

Aus Sicht des Qualitätsmanagements wird in der DIN EN ISO 9000:2000 (Deutsches Institut für Normung e. V., 2000) der Begriff Fehler als „Nichterfüllung einer Anforderung“ (3.6.2, S. 26) definiert, wobei unter ‚Anforderung‘ ein „Erfordernis oder [eine] Erwartung, das oder die festgelegt, üblicherweise vorausgesetzt oder verpflichtend ist“ (3.1.2, S. 19), verstanden wird. Die dortige Anmerkung 1 erläutert dazu: „’Üblicherweise vorausgesetzt’ bedeutet, dass es für die Organisation (3.3.1), ihre Kunden (3.3.5) und andere interessierte Parteien (3.3.7) üblich oder allgemeine Praxis ist, dass das entsprechende Erfordernis oder die entsprechende Erwartung vorausgesetzt ist“ (S. 19) und macht damit ebenfalls die Multiperspektivität deutlich.

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2003) versteht unter Fehlern in der Medizin „Vorgehensweisen, die nicht korrekt durchgeführt werden oder die der gegebenen Situation nicht adäquat sind“ (Punkt 94, S. 55).

Dieses engere Verständnis spiegelt eher die professionelle Sichtweise Handlungsdurchführender wider und ist auch bei Hansis & Hart (2001, S. 4) zu finden, die konkreter und auf den Arztberuf bezogen formulieren. Sie definieren einen Fehler als eine nicht angemessene - z. B. nicht sorgfältige, nicht richtige, nicht zeitgerechte - Behandlung, die rein medizinisch oder auch organisatorisch bedingt sein und alle Bereiche ärztlicher Tätigkeit (Tun oder Unterlassen) betreffen kann: Prophylaxe, Diagnostik, Auswahl des Behandlungsverfahrens, Therapie und Nachsorge.

Wenn man diese Beschreibung unter Berücksichtigung eines Pflegeprozessmodells (beispielsweise nach Doenges & Moorhouse, 2003, S. 4) auf die Pflegeberufe überträgt, so ergibt sich als eine pflegespezifische Definition:

Ein pflegerischer Fehler ist eine nicht angemessene, z. B. nicht sorgfältige, nicht richtige oder nicht zeitgerechte, pflegerische Vorgehensweise, die alle Bereiche pflegerischer Tätigkeit (Tun oder Unterlassen) betreffen kann: Assessment, Pflegediagnose, Planung, Intervention, Evaluation und berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit.

Eine besondere Form des Fehlers ist der auch aus haftungsrechtlicher Sicht bedeutsame ‚Behandlungsfehler‘. Im ‚Statut der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein‘ heißt es dazu:

Ein Behandlungsfehler ist

- ein diagnostischer oder therapeutischer Eingriff,
- der medizinisch nicht indiziert war oder
- bei dem die nach den Erkenntnissen
- der medizinischen Wissenschaft und
- der ärztlichen Praxis
- unter den jeweiligen Umständen
- erforderliche Sorgfalt objektiv außer acht gelassen wurde,
- sowie das Unterlassen eines nach diesem Maßstab medizinisch gebotenen Eingriffs. (Laum, 2000, zitiert nach Kahla-Witzsch, 2005a, S. 17, Strukturierung durch den Verfasser zum besseren Verständnis)

Von einem ‚groben Behandlungsfehler‘ wird gesprochen, wenn ein Fehlverhalten vorliegt, das aus objektiver Sicht bei Anlegung des geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler einem gewissenhaften Arzt oder einer gewissenhaften Pflegekraft schlechterdings nicht unterlaufen darf. Es handelt sich dann um einen Verstoß gegen elementare Behandlungsregeln (Radl, 2003, S. 57).

In der englischsprachigen Literatur sind vor allem zwei Fehlerdefinitionen verbreitet.

Zum einen die Definition von Leape (1994), nach der ein ‚error‘ ein „unintended act (either of omission or commission) or one that does not achieve it intended outcome“ (S. 1851) ist.

Zum anderen erlangte in den USA eine Studie des Institute of Medicine mit dem Titel ‚To Err is Human: Building a Safer Health System‘ (Kohn, Corrigan & Donaldson, 2000) große Aufmerksamkeit. Die dort verwendete Definition beschreibt einen Fehler als „Failure of a planned action to be completed as intended (i. e. error of execution) or the use of a wrong plan to achieve an aim (i. e. error of planning)“ (S. 28). In der Folge wurde die Quality Interagency Coordination Task Force (2000) gebildet, die diese Definition um den Nachsatz „Errors can include problems in practice, products, procedures, and systems.“ (S. 30) ergänzte und damit verdeutlichte, dass Fehler nicht nur durch individuelle Handlungen entstehen.

Abbildung 1 gibt eine Unterteilung von Fehlern nach ihrer Art wieder und verdeutlicht, welche Arten von Fehlern auftreten. Im Blickpunkt stehen dabei medizinische Aufgaben, die pflegerischen aber ähnlich sind oder teilweise auch an Pflegende delegiert werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Fehlerarten (Types of errors)

(basierend of Leape, Lawthers, Brennan & Johnson, 1993, zitiert nach Kohn et al., 2000, Box 2.1, S. 36; deutsche Übersetzung von Kahla-Witzsch, 2005a, S. 20)

An dieser Stelle erfolgt keine Festlegung auf eine Fehlerdefinition für das weitere Vorgehen oder für ein Fehlermeldesystem. Im folgenden Abschnitt wird deutlich, dass so ein System sich nicht auf manifeste Fehler beschränken, sondern auch fehlerähnliche Ereignisse erfassen sollte. Eine exakte Definition und Abgrenzung des Fehlerbegriffes ist somit für ein Fehlermeldesystem nicht unbedingt notwendig. Stattdessen ist genau zu definieren, welche Vorkommnisse gemeldet werden sollen (vgl. Abschnitt 4.1).

2.2 Betrachtung fehlerähnlicher Begriffe

Beschränkt man sich bei einem Fehlermeldesystem darauf, nur manifeste Fehler zu erfassen, so ergeben sich zwei Probleme.

Zum einen ergibt sich die Schwierigkeit, dass ein Fehler oft nicht direkt auffällt, sondern erst seine Auswirkung. Zu Beginn dieses Abschnitts wird deshalb der Zusammenhang zwischen Fehlern und möglichen Auswirkungen, so genannten ‚unerwünschten Ereignissen‘, genauer betrachtet.

Danach wird das zweite - an sich erfreuliche - Problem bearbeitet. Richtet man den Blick weg vom gesamten Gesundheitswesen auf einen einzelnen Handlungsbereich in einem einzelnen Krankenhaus, so wird die Anzahl der manifesten Fehler mit deutlichen Auswirkungen sehr klein. Bedenkt man zudem, dass nur ein Bruchteil aller Fehler erfasst wird (vgl. Abschnitte 3.5.2 und 4.2), verringert sich die Zahl der auswertbaren Fälle weiter. Die Einbeziehung von ‚Beinahe-Fehlern‘ schafft hier Abhilfe und bietet weitere Vorteile.

2.2.1 Unerwünschte Ereignisse

Unter ‚unerwünschten Ereignissen‘ während eines Krankenhausaufenthaltes verstehen Pfaff und Lütticke „alle Ereignisse beim Patienten, die bei diesem zu seelischen oder körperlichen Schäden führen können“ (2004, S. 1-2).

Im englischsprachigen Raum wird hier von einem ‚adverse event‘ gesprochen und eine tatsächliche Schädigung zwingend vorausgesetzt. Weit verbreitet ist eine auf Brennan et al. (1991) zurück gehende Definition: „We defined an adverse event as an injury that was caused by medical management (rather than the underlying disease) and that prolonged the hospitalization, produced a disability at the time of discharge, or both“ (S. 370). Der zweite Teil dieser Definition mit der unbedingten Verknüpfung zur Dauer des Krankenhausaufenthaltes, bzw. des Entlassungszeitpunktes, ist besonders auch in Zeiten des Vorrangs ambulanter Versorgung problematisch[2] und wird von nachfolgenden Autoren (Kohn et al., 2000, S. 28) meist weggelassen.

Die Definition von Baker et al. (2004) ist ähnlich, legt aber Wert auf die Unabsichtlichkeit der Schädigung oder Komplikation: „We defined an AE as an unintended injury or complication that results in …“ (S. 1679). Die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Unabsichtlichkeit ist bedeutsam und sollte auch innerhalb des Fehlermanagements Konsequenzen haben (vgl. Abschnitt 5.2.5).

Bei unerwünschten Ereignissen lassen sich vermeidbare (preventable adverse events) und unvermeidbare (unpreventable adverse events) unterscheiden.[3] Brennan et al. (1991) führen dazu das Beispiel einer unerwünschten Reaktion auf ein Medikament an. Wurde einem Patienten das Medikament zum ersten Mal und in einer angemessen Weise verschrieben, so liegt nach dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft ein unvermeidbares unerwünschtes Ereignis vor. War dagegen bei dem Patienten bereits eine Unverträglichkeit auf dieses Medikament bekannt, so handelt es sich um ein vermeidbares unerwünschtes Ereignis und beim Vorgehen des Arztes um einen Fehler (S. 372-373). Ein Beispiel aus dem pflegerischen Arbeitsbereich, an dem die Abhängigkeit vom Stand der Wissenschaft deutlich wird, ist die Anwendung von korrekt durchgeführtem ‚Eisen und Fönen‘ zur Behandlung eines Dekubitus. Eine dadurch begünstigte Wundinfektion wäre bis zur Studie von Neander, Birkenfeld, Flohr und Geldmacher (1989) als unvermeidbar anzusehen gewesen, gälte seit dem allerdings als vermeidbar und die Anwendung dieser Methode als Fehler.

Damit wird auch die Beziehung zwischen unerwünschten Ereignissen und Fehlern deutlich: „An adverse event attributable to error is a ‚preventable adverse event’“ (Kohn et al, 2000, S. 28), sowie „Medical errors are adverse events that are preventable with our current state of medical knowledge“ (Quality Interagency Coordination Task Force, 2000, S. 30). Zusammengefasst bedeutet dies: wäre ein unerwünschtes Ereignis nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft vermeidbar gewesen, so liegt ihm ein Fehler zugrunde.

Als Untergruppe der vermeidbaren unerwünschten Ereignisse existiert der Begriff ‚negligent adverse event‘, der auf Behandlungsfehler (vgl. Abschnitt 2.1) zu beziehen ist. Kohn et al. (2000) schreiben hierzu:

Negligent adverse events represent a subset of adverse events that satisfy legal criteria used in determining negligence (i. e., whether the care provided failed to meet the standard of care reasonably expected of an average physician qualified to take care of the patient in question). (S. 28)

2.2.2 Beinahe-Fehler

Nicht alle Ereignisse, die potentiell ein unerwünschtes Ereignis hätten erbringen können, führen tatsächlich auch zu einem solchen - man spricht dann von ‚Beinahe-Fehlern‘ (Schrappe, 2004a, S. 335). In der englischsprachigen Literatur werden hierfür eine Reihe von Begriffen verwendet, die nur teilweise eine differenzierende Bedeutung haben: ‚incident‘‚ ‚critical incident‘, ‚near miss‘, ‚threat‘, ‚close call‘, ‚sentinel‘ oder ‚warning‘. Oftmals haben diese Begriffe ihren Ursprung außerhalb des Gesundheitssystems, beispielsweise in der Luft- und Raumfahrt. Unter dem Begriff ‚incident‘ versteht man dort: „an event involving a malfunction of equipment or human error in which no significant damage or injuries occurred, but which, under other circumstances, could have been an accident, and which has significance to safety“ (National Research Council, Assembly of Engineering, Committee on FAA Airworthiness Certification Procedures, 1980, S. 107). Einen direkten Bezug zu unerwünschten Ereignissen beinhaltet die ‚near miss‘-Definition von Barach und Small (2000), sie verstehen darunter „any event that could have had adverse consequences but did not and was indistinguishable from fully fledged adverse events in all but outcome“ (S. 761-762).

Schrappe (2004a) sieht einen Beinahe-Fehler als Indikator, der ein unerwünschtes Ereignis vorhersagt (S. 336) und übersetzt die Begriffe ‚near miss‘ mit ‚manifester Beinahe-Fehler‘ und ‚threat‘ mit ‚latenter Beinahe-Fehler‘ (S. 335). Dadurch ergibt sich eine gewisse Hierarchie von Ereignissen bei der Fehlerentstehung, das so genannte ‚Eisberg-Modell‘.

Bereits 1941 beschäftigte sich Heinrich mit der Vermeidung von Unfällen in der Industrie. Er fand dabei einen statistischen Zusammenhang zwischen den Auftretenshäufigkeiten von vergleichbaren Unfällen verschiedener Schweregrade. Die nach ihm benannte Gesetzmäßigkeit besagt, dass die Anzahl von Unfällen mit ihrem Schweregrad abnimmt. Auf einen Katastrophenfall kommen 29 mittelschwere Unfälle und 300 Beinahe-Unfälle (Heinrich, 1950, S. 24-32, deutsche Beschreibungen nach Kahla-Witzsch, 2005b, S. 86): „… it is estimated, that in a unit group of 330 accidents of the same kind and involving the same person, 300 result in no injuries, 29 in minor injuries, and 1 in a major or lost-time injury“ (Heinrich, 1950, S.24). Diese Gesetzmäßigkeit lässt sich auch auf die Auftretenshäufigkeiten von fehlerähnlichen Ereignissen übertragen.

Die Abbildung 2 kombiniert Heinrichs Gesetzmäßigkeit mit dem Eisberg-Modell.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Eisberg-Modell und Heinrichs Gesetzmäßigkeit

(basierend auf Schrappe, 2004a, Abbildung 12.3-1, S. 336 und Heinrich, 1950, S. 24)

Auch wenn die Anordnung im Eisberg eher symbolisch ist und auch die Übertragung von Heinrichs Untersuchungen aus der Industrie in ein Krankenhaus nicht zu denselben Zahlenverhältnissen führen muss, bleibt festzuhalten, dass von Vorfällen derselben Art viele glimpflich verlaufen und es nur selten zu Katastrophen kommt. Bezogen auf ein Krankenhaus bedeutet dies, dass man den größten Teil der Lernchancen verpasst, wenn man sich nur auf die Analyse von Haftpflichtfällen beschränkt.

Ein Fehlermeldesystem sollte daher auf der Ebene der latenten Beinahe-Fehler beginnen. Dies bringt den weiteren Vorteil, dass in diesen Fällen noch kein Schaden eingetreten ist, also präventiv Veränderungen vorgenommen werden können, und solche Ereignisse deshalb auch leichter zugegeben werden können (vgl. Abschnitt 3.5).

Trotzdem also nicht nur manifeste Fehler erfasst werden sollen, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit der Einfachheit halber von Fehlermanagement, Fehlermeldesystem, usw. gesprochen. Dies ist auch der Tatsache geschuldet, dass sich in der deutschsprachigen Literatur dazu noch keine differenzierende Begrifflichkeit herausgebildet hat, während im englischen Sprachraum bereits treffendere Bezeichnungen wie ‚(critical) incident reporting (system/program)‘ (bspw. Staender, Davies, Helmreich, Sexton & Kaufmann, 1997), ‚near miss reporting‘ (bspw. Barach & Small, 2000) oder ‚critical adverse incident reporting‘ (Freitas, Payne & Wilkin, 2000) verbreitet sind.

Bereits bei der Diskussion des Fehlerbegriffs wurde die Abhängigkeit des Verständnisses von der Perspektive deutlich. Im folgenden Abschnitt wird nun die Bedeutung des Fehlermanagements aus diesen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.

3. Zur Bedeutung von Fehlern und Fehlermanagement im Krankenhaus

3.1 Überblick über beteiligte Akteure und ihre Beziehungen untereinander

An einer Behandlung in einem Krankenhaus sind verschiedene Akteure direkt oder indirekt beteiligt und haben jeweils ihren eigenen Blickwinkel auf dabei möglicherweise auftretende Fehler. Abbildung 3 stellt eine vereinfachte Grundstruktur der Krankenhausversorgung anhand der beteiligten Akteure in ihrer Funktion dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Akteure im Regelkreis der stationären Krankenhausversorgung

(basierend auf Simon, 2005, Abbildung 31, S. 226)

Allgemein gilt für die Sozialversicherungen, dass innerhalb eines staatlich vorgegebenen Rahmens die Leistungserbringung und Finanzierung in einem Dreiecksverhältnis zwischen Kostenträger, Leistungsempfänger und Leistungserbringer erfolgt (Simon, 2005, S. 79). In der Abbildung 3 sind diesen drei abstrakten Akteuren (in der Abbildung hell unterlegt) jeweils die konkreten Akteure (dunkel unterlegt) für den Fall der stationären Krankenhausversorgung zugeordnet. Beim Leistungserbringer lässt sich zum einen der die Leistung direkt ausführende Mitarbeiter (individuelle Ebene) und zum anderen der Krankenhausbetrieb als Gesamtorganisation (institutionelle Ebene) betrachten. Beide sind über arbeitsrechtliche Regelungen miteinander verbunden. Der eigentliche Leistungsempfänger ist der Patient, seine Angehörigen nehmen aber für Teilbereiche oft eine Vertreterrolle ein und ihre Sicht wird deshalb zusammen mit der Patientenperspektive abgehandelt. Als Kostenträger für Gesundheitsausgaben treten hauptsächlich die Gesetzlichen Krankenkassen in Erscheinung (Statistisches Bundesamt Deutschland, 2005), die Besonderheiten der anderen möglichen Kostenträger werden in der Analyse weitgehend vernachlässigt.

Vereinfachend lassen sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Akteuren folgendermaßen charakterisieren (Simon, 2005, S. 225-226):

Der Staat räumt den Patienten generelle Rechte ein und macht den Krankenhäusern und Krankenkassen jeweils bestimmte Vorgaben über die zu gewährleistende Versorgung.

Der Patient hat gegenüber dem Krankenhaus einen Leistungsanspruch und erhält von den Mitarbeitern eine Behandlung. Als Versicherter zahlt er Beiträge an die Krankenkasse und erhält dafür einen Krankenversicherungsschutz.

Die Krankenkassen verhandeln mit den Krankenhäusern über Art und Umfang der Leistungen und überprüfen deren Qualität. Die beiden Akteure vereinbaren Fallzahlen und Fallpauschalen, die dem Krankenhaus von den Krankenkassen vergütet werden.

Nachdem die beteiligten Akteure und ihre Beziehungen zueinander grob skizziert worden sind, wird nun die Bedeutung von Fehlern und dem Fehlermanagement aus der jeweiligen Perspektive betrachtet.

3.2 Staatliche Perspektive

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1949/2002) gewährt in Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 generell jedem Menschen im Krankenhaus das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Kommt es im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes zu einem Behandlungsfehler (vgl. Abschnitt 2.1), der körperliche Schäden oder Tod verursacht, so sind neben zivilrechtlichen (vgl. Abschnitt 3.6) auch strafrechtliche Konsequenzen möglich. Strafrechtlich relevant können hier vor allem die §§ 218 – 229 Strafgesetzbuch (1998/2006) als Straftaten gegen das Leben bzw. die körperliche Unversehrtheit sein.

Jenseits von Behandlungsfehlern können allgemein Fehler im Betriebsablauf aber auch zu Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten in Bezug auf weitere Gesetze wie bspw. dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (1994/2005) oder dem Bundesdatenschutzgesetz (2003/2005) führen.

Aus staatlicher Sicht gibt es keine Vorgaben für die Einführung eines allgemeinen Fehlermeldesystems in Krankenhäusern. Lediglich für den Bereich der Medizinprodukte ist nach § 29 Abs. 1 Gesetz über Medizinprodukte (2002/2003) ein Meldesystem für Funktionsstörungen festgeschrieben.

Der Staat erwartet damit, dass die Rechte seiner Bürger auch im Krankenhaus gewahrt bleiben und kann auch unter bestimmten Voraussetzungen dort vorkommende Fehler sanktionieren. Spezielle Vorgaben an die Gesundheitseinrichtungen werden großteils über die Krankenkassen weitergegeben und im Abschnitt 3.3 betrachtet.

Neben dem Schutz der Rechte seiner Bürger hat der Staat aber auch noch aus volkswirtschaftlichen Gründen ein Interesse an der Vermeidung von Fehlern in der Gesundheitsversorgung. Hansis & Hart (2001) halten fest, dass „jede Komplikation einer ärztlichen Behandlung – ob fehlerhaft oder nicht-fehlerhaft bedingt – … zu zusätzlichen Krankheitskosten, Rentenzahlungen, Arbeitsausfällen etc.“ (S. 7) führt.

Für Deutschland liegen hierzu leider keine gesicherten Daten vor, Schätzungen sprechen von 40.000 Behandlungsfehlervorwürfen pro Jahr mit steigender Tendenz (Hansis & Hart, 2001, S. 6), von einer hohen Dunkelziffer wird ausgegangen (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2003, S. 57).

Umfassendere Studien existieren aber zu den Verhältnissen in anderen, mit Deutschland weitgehend vergleichbaren Staaten.

In der ‚Harvard Medical Practice Study‘ (Brennan et al., 1991) kam es nach Aktendurchsicht bei 3,7 % der stationären Aufenthalte in nicht-psychiatrischen Akutkrankenhäusern zu unerwünschten Ereignissen. Obwohl damit verbundenen Schäden zu 70 % nicht länger als sechs Monate andauerten, blieben sie zu 2,6 % permanent bestehen oder führten in 13,6 % der Fälle sogar zum Tod.

Eine weitere in den USA durchgeführte Studie (Thomas et al., 2000, zitiert nach Kohn, 2000, S. 1) fand eine Inzidenzrate von 2,9 %, von diesen unerwünschten Ereignisse verliefen wiederum 6,6 % tödlich.

Bei beiden Studien wurden über 50 % der Fälle als vermeidbar angesehen. Diese Zahlen wurden von Kohn et al. (2000) für die gesamte USA hochgerechnet und die Autoren kommen so zu dem Ergebnis, dass dort jedes Jahr 44.000 bis 98.000 Menschen an den Folgen medizinischer Behandlungsfehler sterben[4] – damit wäre dies die achthäufigste Todesursache (S. 26). Die dadurch verursachten nationalen Gesamtkosten werden von den Kohn et al. auf jährlich 17 bis 29 Milliarden US-Dollar geschätzt (S. 27). Wären die Untersuchungsergebnisse direkt auf Deutschland übertragbar, so ergäben sich „zwischen 31.600 und 83.000 Todesfälle aufgrund unerwünschter Folgen medizinischer Interventionen in Krankenhäusern“ (Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2003, S. 57). Dies wäre eine größere Anzahl als die durch Brustkrebs oder Verkehrsunfälle verursachten Todesfälle.

Ähnliche oder teilweise deutlich höhere Inzidenzraten für unerwünschte Ereignisse konnten auch in anderen Ländern nachgewiesen werden, zusammenfassend siehe hierzu Abbildung 4.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Unerwünschte Ereignisse bei Krankenhausbehandlungen

(basierend auf Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, 2003, Tabelle 1, S. 58, ergänzt durch Kohn et al., 2000, S. 26 und Baker et al., 2004, S. 1678)

Damit lassen sich zwar für Deutschland keine konkreten Kosten beziffern, allerdings wird deutlich, dass unerwünschte Ereignisse in Krankenhäusern von volkswirtschaftlicher Bedeutung sind.

3.3 Perspektive der Kostenträger

Die Gesetzlichen Krankenkassen sind als mittelbare Staatsverwaltung und Instrument des Staates zu sehen, deren Hauptaufgabe im Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung besteht (Simon, 2005, S. 98).

Nach § 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung – (SGB V) (1988/2006) hat die Krankenversicherung die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder zu verbessern. Damit liegt es auch in ihrem Interesse, dass Menschen im Krankenhaus möglichst keine Verletzungen durch Fehler irgendeiner Art erleiden.

Das Vorhandensein eines Fehlermanagements ist gesetzlich zwar nicht gefordert, allerdings wird die Gewährleistung der Versorgung nach dem medizinischen Erkenntnisstand, in fachlich gebotener Qualität und wirtschaftlicher Weise gefordert (§ 70 Abs. 1 SGB V, 1988/2006). Dieser Anforderung ist ohne ein funktionierendes Fehlermanagement nur schwer zu entsprechen. Kommt ein Krankenhaus nicht seiner Verpflichtung zur Qualitätssicherung nach, so sind Abschläge auf die von den Krankenkassen gezahlten Vergütungen möglich (§ 137 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, 1988/2006).

Die Interessen anderer möglicher Kostenträger sind vergleichbar. An dieser Stelle sei nur die Gesetzliche Unfallversicherung erwähnt, die teilweise ähnliche Ziele verfolgt (§ 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung –, 1996/2006). Sie ist dabei nicht nur für den Fall der Behandlung von Patienten ein möglicher Kostenträger, sondern auch, wenn es aufgrund eines Fehlers zur Verletzung eines Mitarbeiters des Krankenhauses kommt.

Zur Durchführung von Gutachten oder der Überprüfung von Leistungserbringern haben die Landesverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen gemeinschaftlich den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) eingerichtet. Im Jahr 1999 führte der MDK im gesamten Gesundheitswesen 9.678 Begutachtungen wegen vermuteter Behandlungsfehler durch, wobei es in 24 % der Fälle zu einer Anerkennung kam (Hansis & Hart, 2001, S. 6). Daneben überprüft der MDK aber auch die Notwendigkeit einzelner medizinischer Behandlungen oder die Angemessenheit der Dauer von Krankenhausaufenthalten.

Ingesamt sind die Kostenträger an einer Gesunderhaltung und ggf. einer wirtschaftlichen und qualitätsgesicherten Behandlung ihrer Versicherten interessiert.

3.4 Perspektive des Krankenhausbetriebes

Im Rahmen dieser Analyse ist das Krankenhaus die Organisation, in der es möglicherweise zu einem Fehler kommt und die auf die Meldungen reagieren muss. Daneben ist ein Krankenhaus aber auch ein wirtschaftlich denkender Betrieb, der das Fehlermanagement mit ökonomischen Interessen in Einklang bringen muss.

Im ersten Unterabschnitt werden ergänzend zu den vorherigen Perspektiven weitere rechtliche Aspekte – vor allem aus dem Arbeitsrecht – betrachtet. Der darauf folgende Unterabschnitt befasst sich dann mit ökonomischen Aspekten, bevor anschließend Aspekte der Reaktion auf Fehler betrachtet werden.

3.4.1 Rechtliche Aspekte

Juristisch betrachtet resultiert aus § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (2002/2006) für ein Krankenhaus die so genannte ‚Verkehrssicherungspflicht‘, nach der „derjenige, der eine Gefahrenquelle eröffnet, die Pflicht hat, alles Erforderliche zu tun, um Schäden bei Dritten, die dieser Gefahrenquelle ausgesetzt sind, zu verhindern“ (Adams, 2006, S. 1). Andernfalls trifft das Krankenhaus im Schadensfall ein Organisationsverschulden. Das bedeutet letztlich für ein Krankenhaus, Risiken für die Patienten- und Mitarbeitersicherheit zu erfassen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen und einmal bekannt gewordene Schadensereignisse sich nicht wiederholen zu lassen. Damit macht sich ein Krankenhaus mit der Einführung eines Fehlermeldesystems das Leben ein Stück weit selber schwer: Jeder gemeldete sicherheitsgefährdende Fehler muss auch zu Konsequenzen führen, ansonsten droht der Vorwurf des Organisationsverschuldens.

Bezogen auf die Mitarbeiter sind solche Schutzmaßnahmen auch als Teil der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers anzusehen und auf § 618 Abs. 1 BGB (2002/2006) zurückzuführen. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer spezieller Vorschriften zum Arbeitsschutz wie das Arbeitsschutzgesetz oder die Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften.

Demgegenüber steht auf Seiten des Mitarbeiters als Arbeitnehmer die auf § 242 BGB (2002/2006) basierende Treuepflicht, zu der auch die Mitteilungspflichten zählen. Eine solche Mitteilungspflicht besteht u. a. darin, dass „der Arbeitnehmer … den Arbeitgeber … auf von ihm entdeckte Anzeichen einer drohenden Betriebsstörung oder andere den Betriebsablauf hemmende Beeinträchtigungen hinzuweisen [hat]“ (Reinert & Schulz, 2001, S. 74). Übertragen auf die Begrifflichkeiten des Fehlermanagements im Krankenhaus kann zum einen eine drohende Betriebsstörung mit einem latenten Beinahefehler gleichgesetzt werden. Zum anderen ist ein unerwünschtes Ereignis – egal ob vermeidbar oder als Behandlungsfehler – eine den Betriebsablauf hemmende Beeinträchtigung, da es in der Regel außerplanmäßige, zusätzliche Aktivitäten nach sich zieht. Ein Fehlermeldesystem kann somit auch als eine dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber angebotene Möglichkeit des Erfüllens eines Aspektes der Mitteilungspflicht interpretiert werden. Trotzdem dürfte sich daraus keine verpflichtende Teilnahme an einem Fehlermeldesystem ableiten lassen, da Fehler auch außerhalb eines Fehlermeldesystems gemeldet werden können, was z. B. in Notfallsituationen sehr sinnvoll sein kann.

Kommt es zu einem Schadensfall, den der Arbeitnehmer verursacht hat, so muss er unter bestimmten Voraussetzungen Schadensersatz leisten. In der Regel werden Schadensersatzansprüche von Dritten an das Krankenhaus gestellt und nicht direkt an einzelne Mitarbeiter. Das Krankenhaus kann seinerseits dann den Mitarbeiter in Haftung nehmen. Aus diesem Grunde wird hier nur der Fall der Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber betrachtet[5], zumal nach dem auf § 670 BGB (2002/2006) beruhenden ‚arbeitsrechtlichen Freistellungsanspruch‘ für die Haftung gegenüber dem Arbeitgeber die gleichen Regeln gelten wie gegenüber einem außen stehenden Dritten (Reinert & Schulz, 2001, S. 85).

Verursacht ein Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber einen Schaden, so hängt die Höhe seiner Haftung, neben der Frage nach einem Mitverschulden des Arbeitgebers nach § 254 BGB (2002/2006), von der Schuldhaftigkeit des Mitarbeiters ab (Reinert & Schulz, 2001, S. 79):

- bei vorsätzlicher Pflichtverletzung in voller Höhe
- bei grober Fahrlässigkeit grundsätzlich ebenfalls in voller Höhe, allerdings mit einer Begrenzung nach oben in Relation zum Monatseinkommen
- bei normaler Fahrlässigkeit kommt es zu einer Schadensteilung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber
- bei leichter Fahrlässigkeit keine Haftung

Im Rahmen des Fehlermanagements und einer positiven Fehlerkultur stellt sich dabei allerdings die Frage, ob ein Betrieb bei Fahrlässigkeit nicht generell auf Haftungsansprüche gegenüber seinen Mitarbeitern verzichten sollte, um die Meldebereitschaft und das Betriebsklima zu verbessern. Einem Verzicht auf Schadensersatzeinnahmen könnte dann langfristig eine verringerte Fehlerhäufigkeit mit verringerten Folgekosten gegenüberstehen.

An dieser Stelle gehen die Betrachtungen auch bereits auf betriebswirtschaftliche Aspekte über.

[...]


[1] Im Rahmen dieser Diplomarbeit wird aus Gründen der Einfachheit und Lesbarkeit in der Regel nur die männliche Form von geschlechtsbezogenen Personensubstantiven angegeben. Gemeint sind dabei aber immer beide Geschlechter.

[2] Nach dieser Definition wäre bspw. eine zusätzliche Verletzung, die innerhalb der aufgrund der Grunderkrankungen notwendigen Krankenhausaufenthaltsdauer wieder verheilt, kein unerwünschtes Ereignis.

[3] Die Übersetzung als ‚(un-)vermeidbar‘ orientiert sich an Kahla-Witzsch (2005a, S. 17). Schrappe (2004a, S. 334) übersetzt ‚unpreventable adverse event‘ als ‚Schaden‘ und sieht zudem noch ‚Adverse Drug Events‘ als weitere Unterscheidung (2004b, S. 343).

[4] Diese Zahlen werden teilweise zwar von anderen Autoren für übertrieben gehalten, allerdings ist die generelle Bedeutung des Themas unstrittig (vgl. Hayward & Hofer, 2001, McDonald, Weiner & Hui, 2000 und Leape, 2000).

[5] Für den Sonderfall der Haftung des Arbeitnehmers gegenüber einem Arbeitskollegen sei an dieser Stelle nur auf Reinert und Schulz (2001, S. 85) verwiesen.

Ende der Leseprobe aus 67 Seiten

Details

Titel
Fehler im Krankenhaus. Analyse und Konzeption für ein niedrigschwelliges Meldesystem
Hochschule
Fachhochschule Bielefeld
Note
1,65
Autor
Jahr
2006
Seiten
67
Katalognummer
V66190
ISBN (eBook)
9783638584487
ISBN (Buch)
9783656531630
Dateigröße
1115 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit entstand zum Abschluss eines Pflegepädagogik-Studiums, ist aber interdisziplinär und lässt sich nebem dem Fach "Pflegewissenschaften" auch der Gesundheitsökonomie oder Betriebspsychologie unterordnen.
Schlagworte
Fehler, Krankenhaus, Analyse, Konzeption, Meldesystem
Arbeit zitieren
Thorsten Rieger (Autor:in), 2006, Fehler im Krankenhaus. Analyse und Konzeption für ein niedrigschwelliges Meldesystem, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66190

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