Staatsaufgabe oder Staats-Aufgabe? Die Aussagen des Neoliberalismus in den 1940er- und 1990er-Jahren zur Rolle des Staates in der Wirtschaft - ein Vergleich


Seminararbeit, 2000

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


0. Inhalt

1. Einleitung

2. Vom „alten“ zum „neuen“ Liberalismus

3. Der Neoliberalismus der vierziger und fünfziger Jahre
3.1 Die Ausgangslage
3.2 „Ordo-Liberalismus“ - Walter Eucken
3.3 „Soziale Marktwirtschaft“ - Alfred Müller-Armack

4. Was heißt hier „neoliberal“? Eine Spurensuche, damals und heute

5. Der Neoliberalismus heute
5.1 Die Ausgangslage
5.2 Die aktuellen Positionen

6. Neoliberalismus einst und jetzt - der Vergleich

7. Résumé

8. Literatur- und Quellenverzeichnis
8.1 Fachliteratur
8.2 Zeitungen
8.3 Internet
8.4 Sonstiges

1. Einleitung

Neoliberale - gibt es sie wirklich? Kaum hört man Selbstbekenntnisse all jener, denen das Etikett „neoliberal“ oder zumindest einschlägige Tendenzen anhaften: „Ich, Guido Westerwelle, gebe zu: Ich bin ein Neoliberaler.“ Oder: „Ich, Gerhard Schröder, ge stehe: Liberalismus ist eigentlich gar nicht so schlecht.“ Nein, Andrea Nahles, SPD Mitglied und Juso-Chefin, hat recht: Lieber sprechen die Freunde des sogenannten Neoliberalismus von „Pragmatismus“, dem sie sich verpflichtet fühlten, sie bezeich nen sich als „Modernisierer“ oder einfach als „leistungsorientiert“ und „flexibel“.1Offenkundig haftet dem Begriff ein Makel an. Neoliberalismus ist ein Schuh, der vielen zu passen scheint, aber den sich keiner gerne anziehen möchte. Ein alter Schuh, fleckig, brüchig, ramponiert? Oder längst wieder geleckt, gelackt, auf Hochglanz po-liert - und trotzdem kein Objekt der Begierde? Offen im Raume stehend, mal in dieser, mal in jener Ecke, oder verschämt im Schuhschrank versteckt? Letzteres wohl kaum. Immerhin beschäftigen sich die Lexikonartikel seit mindestens fünf Jahrzehnten mit dem Neoliberalismus - also muß es ihn doch geben, irgendwo.

So definierte BROCKHAUS WIESBADEN den „Neoliberalismus“ bereits 1959 als „[...] wirtschaftspolit[ische]. Richtung, die unter Erneuerung liberaler Ideen eine Ordnung des Wettbewerbs anstrebt. Durch Maßnahmen des Staates soll ein echter Leistungswettbewerb garantiert werden; zentrale Wirtschaftslenkung durch den Staat oder durch Kartelle wird abgelehnt. Hauptvertreter: W. Eucken, Hayek, Röpke, Rüstow [...]“2

Und auch in den Neunzigern, wo die Welt doch so ganz anders aussieht als in der Zeit der wirtschaftswissenschaftlichen Altvorderen, hält sich der Begriff rege am Leben: „Neoliberalismus, wirtschaftspolitische Doktrin eines gegenüber dem Pro gramm des klassischen Liberalismus ordnungspolitisch eingehegten Laissez-faire. Nach neoliberalistischer Auffassung soll die Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik auf die Schaffung und den Schutz des institutionellen Rahmens einer ansonsten freien, durch die Regeln des Wettbewerbs selbstgesteuerten Marktwirtschaft beschränkt bleiben. Etwaige staatliche Interventionen müssen in jedem Fall marktkonform sein [...]“3

Stellen wir die ältere der jüngeren Definition gegenüber, erkennen wir schon in Kurzform die Problemstellung dieser Arbeit. „Ordnung des Wettbewerbs“, „Maßnah men des Staates“ betonte der Lexikonautor 1959. In den neunziger Jahren gibt man sich freizügiger: Nun ist der Begriff des „Laissez-faire“ wieder da, dem der Staat allenfalls noch seinen institutionellen (!) Rahmen (!) angedeihen läßt - also ein funk tionierendes Politik- und Rechtssystems. Aktionen perdu, der Staat rüstet ab, auch semantisch.

Also, es muß etwas passiert sein auf dem Weg durch die Jahrzehnte, ein Vergleich lohnt: Was soll der Staat leisten für die wirtschaftliche Entwicklung - aus Sicht der neoliberalen Denker und Praktiker heute, aus Sicht der geistigen Väter damals? Und schließlich, im Vergleich, sind Eucken oder Röpke und Müller-Armack überhaupt als Väter heutiger Gedanken zu bezeichnen? Und ist das alles „neoliberal“? Dies sind die Fragestellungen dieser Arbeit. Doch zunächst: an die Wurzeln.

2. Vom „alten“ zum „neuen“ Liberalismus

Von „Neoliberalismus“ zu sprechen, legt einen profanen Gedanken nahe: Es muß so etwas wie einen „alten“ Liberalismus geben. Tatsächlich, wir finden ihn im 18., 19. Jahrhundert.

Liberalismus - der Reflex der Bürgerlichen gegen politische Unterdrückung, gegen Feudalismus und Absolutismus. Nur folgerichtig, was dem Bürgertum fortan als höchster Wert galt: Freiheit. Selbstverantwortung, und zwar jedes einzelnen. Politisch kämpften die Bürger für Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit. Ganz im Sinne der Aufklärung waren ihnen Wissenschaft und Bildung höchste Güter.

Wirtschaftlich verankert sehen wollten sie das Recht auf Privateigentum. Das heißt: frei über Geld und Gut verfügen zu können, es zu verlagern (Mobilität), damit zu handeln (Vertragsfreiheit), es verleihen zu dürfen (Zins).

Indes, vielleicht würden wir diese Ideen heute als elitär-abgehoben, geradezu snobi stisch bezeichnen: Nicht viele waren zu damaliger Zeit so begütert, daß sie Zeit und Muße hatten, einen Mangel an politischer Freiheit zu empfinden. Die gesellschaftliche Mehrheit bildeten Bauern, Tagelöhner - Rechtlose. Die Bürger dagegen konnten sich leisten, buchstäblich, sich über ihr Eigentum zu definieren. Kein Wunder, so unter lagen auch die ersten Wahlen dem Zensussystem: Wer mehr einzahlte, dessen Stimme bekam ein höheres Gewicht.

Mehr und mehr entwickelte sich der Liberalismus allerdings zum ökonomischen Gestaltungsprinzip. Frei sollte die Wirtschaft sein, der Staat nicht eingreifen, allenfalls eine „Nachtwächter“-Funktion kam ihm zu.4

Kein Problem - denn wenn jeder auf den anderen Rücksicht nimmt, während er seine eigenen Interessen durchsetzt, dann würde sich alles, wie von „unsichtbarer Hand“ (Adam Smith) gesteuert, selbst regeln. Ein Prozeß von Geben und Nehmen, Tausch und Erwerb, der Staatsbürger als ständiger Kaufmann.

Über den Preis kommen Anbieter und Nachfrager in ein gerechtes Geschäft. Der Unternehmer setzt den Preis fest, den der Käufer zahlen will. Ein Arbeiter nimmt zu dem Preis seine Tätigkeit auf, den der Unternehmer vergüten will. So die Theorie. Daß eben jener Lohn für die Arbeitsleistung, wenn er erst einmal sank, die sozialpolitischen Eingriffe des Staates gerade auslöste, ist ein anderes Thema.5

Dennoch: Diese französische Variante des Liberalismus war eher politisch geprägt im Gegensatz zur ökonomisch ausgerichteten Theorie, die später als „Neoliberalismus“ bezeichnet wurde. Sie fußte im Angelsächsischen und beschrieb die neuerliche (neo) Hinwendung zu den Theorien eines John Locke oder Adam Smith aus dem 18. Jahrhundert und deren Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert.6

Besonders Wettbewerbstheoretiker der vierziger Jahre sorgten für eine Renaissance dieser Ideen: Walter Eucken und Wilhelm Röpke als Vertreter der sogenannten Freiburger Schule. Eher sozial verpflichtet fühlte sich dagegen Alfred Müller-Armack von der „Kölner Schule“, dessen Theorien die Grundlage bildeten für die Soziale Marktwirtschaft des Ludwig Erhard.7

Auch in den Modellen dieser Wissenschaftler blieb es bei der zentralen Grund annahme des klassischen ökonomischen Neoliberalismus: Das Marktsystem könne aus sich selbst heraus, geradezu spontan ein stabiles System schaffen, das seine Teil nehmer nach wirtschaftlichem Erfolg oder Versagen selektiere. Die so entstehende Ordnung sei dann das Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Planens.

Die Machtansammlung einzelner Gruppen oder eine Lenkung der Wirtschaft, sei es durch Kartelle oder den Staat selbst, sei zu unterbinden. Der Staat definiert sich somit als die Summe aller Einzelinteressen, Abschied nehmend vom sozialen Mehrwert, den eine Gemeinschaft darüber hinaus hervorbringen kann. Die Forderung: Nicht Mitbestimmung für alle, sondern möglichst viel Selbstbestimmung des einzelnen.8

Dennoch: Stets betonten Eucken und Röpke den Rahmen, den allein ein aktiver Staat gewährleisten sollte. Als „Ordo-Liberalismus“ wurde ihr Konzept demnach bezeichnet, eine speziell bundesdeutsche Spielart des Neoliberalismus. Die Aufgaben des Staates: der Schutz des Wettbewerbs, die Garantie von Leistungs konkurrenz. Dazu gehört auch, Gewalt und Betrug zu verhindern und zu verhüten, den Schutz des Eigentums zu gewährleisten. Im staatlichen Rahmen solle somit jeder pro duzieren und jeder kaufen dürfen, zu beliebig festgesetzten Preisen.9

Hintergrund dieser Modelle bildeten die Erfahrungen aus den Jahrzehnten zuvor. Weder eine Erneuerung des reinen Laisser-Faire oder Manchester-Kapitalismus war diesen Wirtschaftstheoretikern angelegen, schon gar nicht, andererseits, eine autoritäre staatliche Verwaltungswirtschaft (auf die sich ihre Kritik besonders konzentrierte). Der Sozialismus nach 1917, der Interventionismus zwischen den beiden Weltkriegen, die durch die Nationalsozialisten gelenkte Privatwirtschaft und der Keynesianismus im England der dreißiger Jahre trieben Eucken und Seinesgleichen an, nach einem Mittelweg zu suchen. Und nicht zuletzt die aktuelle Lage in der Nachkriegszeit.10

3. Der Neoliberalismus der vierziger und fünfziger Jahre

3.1 Die Ausgangslage

Warum es bestimmte Thesen und Begriffe waren, die die Argumentation von Eucken und Müller-Armack besonders prägten, erklärt sich aus der wirtschaftlichen Situation Deutschlands nach 1945.

Das Deutsche Reich hatte kapituliert. Auf der Potsdamer Konferenz legten die Besatzungsmächte strikte Vorgaben für den wirtschaftlichen Prozeß fest. Demnach sollte die Produktion „das niedrige Niveau einer bedarfsdeckenden Friedenswirtschaft“11nicht überschreiten. Erlaubt waren nur drei Viertel der industriellen Kapazität von 1936. Das heißt: Die wirtschaftliche Entwicklung unterlag einer strikten Kontrolle und Lenkung, die jedoch in jeder Besatzungszone anders praktiziert wurde, je nach Interessenlage der dort waltenden Autorität.12

So strebten die Briten eine Aufteilung der Wirtschaftsmacht an. Deutschland sollte Konsumgüter produzieren und diese als Reparationsleistung nach England liefern. Die Briten wiederum wollten die in ihrer Zone demontierten Geräte nutzen, um Exportgüter herzustellen - nun eben ohne deutsche Konkurrenz.

Auch die USA favorisierten in ihrer Zone zunächst ein Konzept der Planwirtschaft, vor allem im Straßen- und Bergbau.13

Im Schatten dieser Wirtschaftslenkung - einer historisch überwundenen, aber auch der in den Besatzungszonen noch akut vorhandenen - entwickelte Alfred Müller Armack seine Ideen. Daß er eine Lähmung der wirtschaftlichen Leistungskraft diagno- stizierte, nimmt nicht wunder - nichts anderes hatten die Alliierten im Sinn, anfangs. Als Gründe nannte Müller-Armack die Aufteilung in Zonen, den Zusammenbruch des Außenhandels, die Demontagen, den Rohstoffmangel.

Gleichzeitig lähmte ein Überhang an Kaufkraft das Land - die Inflation. Zuviel Geld war im Umlauf, dem zu wenig Waren gegenüberstanden. Was sollte die Arbeiter also noch zur Lohnarbeit motivieren? Warum sollten Händler ihre Produkte gegen Geld abgeben? Nein, effektiver schien es, Naturalien zu horten und zu tauschen. Der Schwarzmarkt blühte. Die Schaufenster blieben leer.

Also lautete Müller-Armacks Ziel, das Preissystem wiederherzustellen und eine stabile Währung zu schaffen - und das hieß: die umlaufende Geldmenge zu reduzie ren.14

Überhaupt, ganz pragmatische Ziele sollte die neue Wirtschaftsordnung erfüllen, deren „prinzipielle Gestalt“15erst einmal zu schaffen war: den Mangeln an Gütern jedweder Art zu beseitigen. Oder, wie Ludwig Erhard es nannte, „Mittel für den Verbrauch [zu] bereiten“16- also dem Wohl des Konsumenten zu dienen. Was man der Marktwirtschaft immer vorgeworfen hatte - den Überfluß, den sie gebar -, nun war er gerade erwünscht. Kein System schien besser geeignet, die Not zu lindern.

Nur, welche Rolle wiesen die Theoretiker dem Staat zu, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln? Als die wohl prägnantesten Antipoden seien hier kurz die Ansichten von Eucken und Müller-Armack skizziert.

3.2 „Ordo-Liberalismus“ - Walter Eucken

Auch Eucken betrachtete als oberste Maxime die uneingeschränkte Handlungsfreiheit jedes einzelnen. Die Aufgabe des Staates: diese Freiheit sicherzustellen durch Schutzregeln gegen Egoismus und Schädigungen durch Dritte.17

[...]


1vgl. FOKKEN 1999

21959: 620

3VIERECKE 1998

4vgl. FABER 1997

5vgl. KUHN 1990: 574

6vgl. STÖGER 1997: 60

7 vgl. ZINN 1992

8vgl. STÖGER 1997: 59f.

9vgl. ebd.: 81f.

10vgl. ebd.: 59

11HERBST 1997: 15

12vgl. ebd.: 16ff.

13 vgl. MILWARD 1997: 46ff.

14vgl. MÜLLER-ARMACK 1946: 19f. u. 160 sowie LAITENBERGER 1997: 122ff.

15MÜLLER-ARMACK 1946: 78

16zit. n. LAITENBERGER 1997: 119

17 vgl. WULFF 1976: 60ff.

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Details

Titel
Staatsaufgabe oder Staats-Aufgabe? Die Aussagen des Neoliberalismus in den 1940er- und 1990er-Jahren zur Rolle des Staates in der Wirtschaft - ein Vergleich
Hochschule
Universität der Künste Berlin  (Institut für Theorie und Praxis der Kommunikation)
Veranstaltung
Die aktuelle Kontroverse um die Rolle des Staates in der Wirtschaft und ihr historischer Kontext. Ein internationaler Vergleich.
Note
1,0
Autor
Jahr
2000
Seiten
30
Katalognummer
V6603
ISBN (eBook)
9783638141390
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Liberalismus, Ordo-Liberalismus, Soziale Marktwirtschaft, Globalisierung
Arbeit zitieren
Christian Matiack (Autor:in), 2000, Staatsaufgabe oder Staats-Aufgabe? Die Aussagen des Neoliberalismus in den 1940er- und 1990er-Jahren zur Rolle des Staates in der Wirtschaft - ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6603

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