Kindespietät im urbanen China des 20. Jahrhunderts


Hausarbeit, 2004

21 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das traditionelle Ideal der Kindespietät

3. China im 20. Jahrhundert

4. Kindespietät im modernen China
4.1 Die Bewertung der Kindespietät durch die junge Generation Chinas
4.2 Der Anteil der Mehrgenerationenhaushalte
4.3 Intergenerationelle Unterstützung

5. Fazit und Ausblick

6. Bibliographie

1. Einleitung

Ehrfurcht vor dem Alter wird in der traditionellen chinesischen Kultur hochgeschrieben. Ein fundamentales Prinzip ist dabei das Ideal der Kindespietät (xiào). Dieser Begriff umfasst die Pflichten, die man als Kind der älteren Generation und vor allem seinen eigenen Eltern schuldet. Dazu gehören unter anderem Respekt, Gehorsam, Loyalität und lebenslange Fürsorge.

Die Volksrepublik China machte jedoch im 20. Jahrhundert einige grundlegende Wandlungen durch. Es ist anzunehmen, dass Kommunismus, Kulturrevolution und die Reformen seit den achtziger Jahren einen Einfluss auf Werte und Familienstrukturen hatten und dass sich deshalb auch die Bedeutung der Kindespietät gewandelt hat.

In dieser Arbeit werde ich der Frage nachgehen, welche Rolle das Ideal der Kindespietät im heutigen, urbanen China einnimmt.

Folgt man der Argumentation von Modernisierungstheoretikern (z.B. Goode 1967), so kann man annehmen, dass mit dem Einzug des Kapitalismus und der zunehmenden Öffnung gegenüber dem Westen seit den achtziger Jahren die traditionellen Werte an Einfluss verloren haben. Auf der anderen Seite rechnen einige Autoren jedoch wegen dem Rückzug des Staates in den letzten Jahren mit einem Wiedererstarken dieser Werte (Davis und Harrell 1993: 5-6, Whyte 1997: 23).

Welche der beiden Annahmen eher zutrifft, werde ich anhand der folgenden Punkte zu beantworten versuchen:

- Wie wird das Ideal der Kindespietät von der jungen Generation Chinas bewertet?
- Hat die Kindespietät einen Einfluss auf den Anteil der Mehrgenerationenhaushalte in China?
- Wie gross ist die intergenerationelle Unterstützung in China und welche Rolle spielt dabei die Kindespietät?

Die Unterschiede zwischen urbanen und ruralen Gebieten im heutigen China sind immens. Da die verschiedenen Lebensumstände kaum miteinander verglichen werden können, beschränke ich mich bei dieser Arbeit auf die urbanen Gebiete, die viel stärker von Modernisierung und Industrialisierung betroffen sind als ländliche Gebiete.

Ich werde mit einem Beschrieb des Ideals der Kindespietät beginnen. Im 2. Kapitel werde ich auf die Umwälzungen, die China im 20. Jahrhundert durchgemacht hat, eingehen. Danach folgt der Hauptteil, in dem ich unter den drei obengenannten Aspekten die Rolle der Kindespietät im heutigen China untersuchen werde.

Als Quellen dienen mir im ersten Teil hauptsächlich die Bücher von Chao (1983) und Goode (1967), welche beide die traditionellen chinesischen Familienstrukturen beschreiben. Ausserdem berichtet auch Holzman (1998) sehr ausführlich über die Bedeutung des Begriffes „Kindespietät“. Im Hauptteil der Arbeit, das heisst bei der Beantwortung der Frage, welche Rolle die Kindespietät heute spielt, stütze ich mich unter anderem auf die Berichte von Fuligni und Zhang (2004), Whyte (1997) Logan et al. (1998) und Ikels (1993). Diese Artikel basieren alle auf Umfragen, die in den neunziger Jahren in chinesischen Städten durchgeführt wurden.

Der chinesische Begriff xiào oder hsiao wird im Englischen mit filial piety übersetzt. Eine entsprechende einheitliche Übersetzung gibt es im Deutschen nicht. In der Literatur findet man die Begriffe „Kindesliebe“, „Kindespflicht“, „Kindespietät“ oder „Respekt vor den Eltern“. Da „Kindespietät“ am ehesten dem englischen Ausdruck entspricht, schliesse ich mich in meiner Arbeit diesem an. Was er genau beinhaltet, werde ich im folgenden Kapitel darstellen.

2. Das traditionelle Ideal der Kindespietät

Das Thema meiner Arbeit ist also die Kindespietät, ein Begriff der in der chinesischen Kultur eine wichtige Rolle spielt. Doch was ist damit genau gemeint? Das chinesische Zeichen stellt einen alten Mann dar, der von einem Kind getragen wird (Holzman 1998: 186). Grundsätzlich versteht man unter Kindespietät das, was Kinder ihren Eltern oder allgemein der älteren Generation schulden, nämlich Respekt, Gehorsam, Loyalität und Fürsorge. Kindespietät beinhaltet „the need to repay parents for their efforts in raising the children, a willingness to make sacrifices for the sake of the family, and a respect for the authority of the family” (Fuligni und Zhang 2004: 180). Als Sohn oder Tochter hat man dafür zu sorgen, dass die Eltern glücklich sind. Dies bedeutet auch, dass die Autorität der älteren Generation absolut ist und nicht hinterfragt werden darf (Chao 1983: 45). Im Zentrum stehen die Interessen und Bedürfnisse der Eltern, denen sich die Kinder unterzuordnen haben. Diese Verpflichtung bleibt ein Leben lang bestehen und geht mit der Verehrung der Ahnen[1] sogar über den Tod hinaus (Ng et al. 2002: 140). Idealerweise übertrifft die Kindespietät alles andere, auch die Liebe zum Ehepartner und die Loyalität zum Staat (Chao 1983: 73).

Häufig wird das Ideal der Kindespietät mit Konfuzius in Verbindung gebracht. Doch wie Holzmann zeigt, spielte Kindespietät bereits in prähistorischen Zeiten eine wichtige Rolle.

The earliest appearance of the word for filial piety is on a bronze vessel that can be dated to the very last years of the Shang dynasty or the earliest of the Zhou, that is, roughly around 1000 B.C. (Holzman 1998: 186)

So scheint die chinesische Kultur, basierend auf dem Prinzip der Kindespietät, über lange Zeit relativ homogen gewesen zu sein (Chao 1983: 4). Konfuzius[2] und seine Schüler hatten sich an den damals bereits bestehenden Normen orientiert und die Kindespietät neu definiert und hervorgehoben. Dabei betonten sie vor allem, dass Kindespietät keine formelle Pflicht, sondern das spontane Produkt der Liebe zu den Eltern sein sollte (1983: 74). Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass die Befolgung der Kindespietät ein verpflichtendes Prinzip ist, denn sie ist Ausdruck der natürlichen Ordnung der Welt (1983: 73). Die Verletzung der Kindespietät ist die grösste aller Sünden (Goode 1976: 209). Wer sich pietätslos verhielt, riskierte „public censure and jeopardized his other social relationships” (Ikels 1993: 308). Das korrekte Verhalten gegenüber den Eltern kann auch durch übernatürliche Sanktionen gefördert werden (1993: 308). Es ist darum nicht erstaunlich, dass Holzmann die Verehrung der Eltern in China mit der Verehrung Gottes im Westen vergleicht.

The only creators the Chinese know are the parents, who gave them life and thus it is not surprising that those who have saintly natures have reacted towards their parents as men and women in the West have reacted towards the God they consider their Creator. (Holzman 1998: 198)

Es gibt mehrere Geschichten über „Märtyrer“ der Kindespietät und übernatürliche Belohnung (Chao 1983: 77, Holzman 1998: 192-194). In einigen dieser Texte werden die Eltern eher wie Götter als wie Menschen behandelt.

Die traditionelle Sozialstruktur Chinas und das Ideal der Kindespietät unterstützten sich gegenseitig. Im Zentrum der Gesellschaft stand die Familie. Ökonomische und soziale Sicherheit wurde durch die Familie oder grössere Familiengruppen garantiert. Nur über die Familie hatte man Zugang zu den wichtigen Ressourcen (Chao 1983: 49)

Das Individuum, das seine Ahnen oder die ältere Generation in seiner Familie nicht anerkannte, hätte seinen eigenen Aufstieg behindert. (Goode 1967: 161).

Das Resultat war „a general propensity among even grown Chinese children to follow parental decisions, to reside in extended households with aging parents, and to show marked deference and respect toward their elders“ (Whyte 1997: 1). Nach konfuzianischer Lehre herrscht in einer Gesellschaft Glück und Wohlstand, wenn nur jeder sich korrekt als Familienmitglied verhält, d.h. die Kindespietät befolgt (Goode 1967: 11).

Es muss nun noch kurz auf die Genderfrage eingegangen werden. Traditionellerweise wird Kindespietät und damit Unterstützung im Alter hauptsächlich vom Sohn verlangt, denn die Tochter verlässt ihre Familie bei der Heirat und schuldet ab diesem Zeitpunkt ihren Schwiegereltern Loyalität und Respekt (Wolf 1984: 233). Chao betont jedoch „as filial piety puts no limitations on sex, the marrying out of the daughter does not dispense altogether with filial piety” (1983: 43). Auch nach der Hochzeit bleibt die Tochter durch gegenseitige Besuche und Geschenke mit ihren Eltern verbunden.

Kindespietät ist also ein fundamentales Prinzip der chinesischen Kultur und eng mit der Sozialstruktur verbunden. Im 20. Jahrhundert erlebte China jedoch einige grundlegende Wandlungen, auf die ich im nächsten Kapitel eingehen werde. Es ist anzunehmen, dass dadurch auch das Ideal der Kindespietät einige Veränderungen durchmachte.

3. China im 20. Jahrhundert

Mit dem Sieg der Kommunisten im Jahr 1949 hat sich für chinesische Familien einiges verändert. Auf der einen Seite waren die Kommunisten bestrebt, den Einfluss der Familie zu beschränken. Die offizielle Propaganda hat immer wieder betont, dass die Loyalität bei der Partei und der Nation liegen soll, nicht bei der Familie (Whyte 1997: 2). Die traditionellen Funktionen der Familie sollten ab jetzt vom Staat übernommen werden. Ausserdem verlor die ältere Generation durch die Enteignung von Privateigentum ein Machtmittel (Davis und Harrell 1993: 1). Das Ziel der kommunistischen Politik war die Modernisierung der chinesischen Familie und die Befreiung der jungen Generation „from the tyranny of their elders“ (Wolf 1984: 216).

Davis und Harrell betonen jedoch, dass „many key policies actually stabilized and strengthened families“ (1993: 1). Nach den Unruhen der Bürgerkriegszeit war es vielen Familien beispielsweise jetzt erstmals möglich mit mehreren Generationen unter einem Dach zu leben, wie es das traditionelle Ideal verlangte (1993: 1). Auch Whyte erwähnt das widersprüchliche Resultat der kommunistischen Politik:

Even though the jobs and residences of young people formally depended upon the decision of bureaucrats rather than parents, in most cases those decisions placed young adults close at hand to their parents, and parents and other family members remained vital sources of assistance in coping with the system and obtaining access to the necessities of life. (1997: 24)

Die meisten jungen Leute waren also weiterhin auf die Hilfe der Familie angewiesen und somit blieben Familienbindungen und Kindespietät zentrale Elemente der chinesischen Kultur.

Die Reform- und Öffnungspolitik Deng Xiaopings seit Beginn der achtziger Jahre veränderte die Umstände für die chinesischen Familien jedoch noch einmal grundlegend. Die Reformen bedeuteten einen Schritt Richtung Kapitalismus, viele Unternehmen wurden privatisiert. Das Einkommen stieg und die westliche Kultur hielt Einzug (Davis und Harrell 1993: 3). Gransow und Hanlin sprechen davon, wie die beschleunigte Ausdifferenzierung zu gesellschaftlichen Verschiebungen und Verwerfungen tiefgreifender Natur führt. Sie brauchen dafür den Begriff der „Anomie“[3] (1995: 15-16). Es ist anzunehmen, dass dieser Wandel Richtung Kapitalismus einen Einfluss auf die familiären Traditionen und damit auf die Kindespietät hat. Viele Autoren erwähnen William Goode’s Studie über Familien in Zeiten der Industrialisierung (Davis und Harrell 1993: 6, Whyte 1997: 3, Logan und Bian 1999: 1254). Gemäss Goode verlieren Herkunftsgruppen an Bindekraft, wenn eine Gesellschaft urbanisiert und industrialisiert wird. Früher hatte die ältere Generation die Kontrolle über die Ressourcen, sei es Landbesitz, seien es spezifische Kenntnisse. Dadurch besassen sie Autorität (Goode 1967: 162). Doch alle Funktionen der Familie „können jetzt von unpersönlichen, nicht-verwandtschaftlichen, staatlichen oder privaten Organisationen erfüllt werden“ (1967: 113). Durch den Machtverlust der älteren Generation würden traditionelle Werte verschwinden und die Bedeutung der neolokalen Kernfamilie zunehmen.

[...]


[1] Eine ausführliche Darstellung des chinesischen Ahnenkultes und damit auch des religiösen Aspektes der Kindespietät gibt uns Chao (1983: 101-131).

[2] Konfuzius lebte im 6. Jahrhundert v. Chr.

[3] Der Begriff der Anomie wurde von Emile Durkheim geprägt und bezeichnet den Zusammenbruch der Normen und Orientierungen, die für die soziale Realität konstitutiv sind und den Individuen eine Vorstellung von ihrem Ort in ihr vermitteln (Joas 2001: 37).

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Kindespietät im urbanen China des 20. Jahrhunderts
Hochschule
Universität Bern  (Institut für Ethnologie)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
21
Katalognummer
V66002
ISBN (eBook)
9783638583862
ISBN (Buch)
9783638767866
Dateigröße
569 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindespietät, China, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Sarah Brügger (Autor:in), 2004, Kindespietät im urbanen China des 20. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/66002

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Kindespietät im urbanen China des 20. Jahrhunderts



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden