Die Kritische Theorie des Autoritarismus. Empirische Untersuchungen über Autorität und die Aktualität von Autoritarismus

Am Beispiel des Frankfurter Instituts für Sozialforschung


Diplomarbeit, 2006

127 Seiten, Note: 2+


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das Frankfurter Institut für Sozialforschung
2.1 Die Gründung des Instituts
2.2 Der Beginn der Horkheimerschen Ägide am Institut
2.3 Die Flucht

3 Die Entwicklung der Kritischen Theorie der Gesellschaft und die Bedeutung des Autoritarismus als Gegenstand
3.1 Die frühe Kritische Theorie
3.2 ‚Interdisziplinärer Materialismus’
Exkurs I: ‚Elemente des Antisemitismus’
3.3 Auschwitz als Zäsur für die Kritische Theorie

4 Die Integration der Psychoanalyse in die Kritische Theorie der
Gesellschaft
4.1 Die Notwendigkeit der Psychoanalyse zur Erklärung der Gesellschaft
4.2 Genese einer analytischen Sozialpsychologie
Exkurs II: Grundbegriffe der Psychoanalyse
Das topographische Modell
Das Instanzenmodell
Triebtheorie
Infantile Sexualität
Charakterstruktur

5 Die empirischen Untersuchungen über Autorität
5.1 Die Arbeiter- und Angestellten- Enquête
5.2 ‚Studien über Autorität und Familie’
5.3 ‚Studies in Prejudice’
5.3.1 ‚Falsche Propheten’
5.3.2 Die autoritäre Persönlichkeit
5.3.2.1 Die Fragestellung und Ziele
5.3.2.2 Das Vorgehen
5.3.2.3 Die F-Skala

6 Die Psychopathologie und Subjektgenese des autoritären
Charakters
6.1 Ich-Schwäche
6.2 Gesellschaftliche Ohnmacht und narzisstische Kränkung
6.3 Pathische Projektion
6.4 ‚Die Psychologie der falschen Beschuldigung’
6.5 Ambivalente Gefühle gegenüber den Autoritäten
6.6 Cui Bono. Funktion und Wirkung antisemitischer Stereotypie
6.7 Die Massenbildung
6.8 Die Rolle des Führers und antisemitische Propaganda

7 Autoritarismus in der Kritischen Theorie nach 1945
7.1 Der Zusammenbruch des Dritten Reichs und die Folgen für den Autoritarismus und Antisemitismus
Exkurs III: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland
7.2 Das ‚Gruppenexperiment’
7.2.1 Ergebnisse der Studie
7.2.2 Reaktionen auf die Schuldfrage
7.2.3 Abwehr der Erinnerung

8 Überblick über Kritische Stimmen zur Autoritarismusforschung der Kritischen Theorie

9 Zur Aktualität des Autoritarismus
9.1 Zur Kontinuität des ‚autoritären Charakters’ im Spätkapitalismus
9.1.1 Wandel der Familienstruktur – die ‚Entväterlichung’ der Gesellschaft und ihre Folgen
9.1.2 Die Zerstörung des Individuums und der ‚neue Typus’ des autoritären Charakters
9.1.3 Die Unfähigkeit zur Reflexion
9.1.4 Dialektik des Ichs
9.1.5 Die ‚Dialektik des Ichs’ und ihre gesellschaftliche Verwobenheit
Exkurs IV ‚Sekundärer Antisemitismus’
9.2 Ausdrucksweisen des Antisemitismus in der Gegenwart als Indikator
der Aktualität des ‚autoritären Charakters’
9.2.1 Antizionismus – der Antisemitismus von links
9.2.1.1 Antisemitische Elemente im anti-imperialistischen Weltbild
9.2.1.2 Antizionismus als spezielle Form des Anti-Imperialismus
9.2.1.3 Antizionismus und ‚sekundärer Antisemitismus’
9.2.2 Die Auseinandersetzungen über Antisemitismus und Geschichte
in der politischen Kultur der Bundesrepublik
9.2.2.1 Die ‚Goldhagen-Debatte’ und Schuldabwehr im
wiedervereinigten Deutschland
9.2.2.2 Die ‚Walser-Bubis-Debatte’
9.2.2.3 Die Möllemann-Affäre
9.2.2.4 Der Skandal um Martin Hohmann

10 Schluss

11 Literatur

1 Einleitung

Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind die umfangreichen empirischen Untersuchungen und die theoretischen Reflexionen über den Autoritarismus im Umfeld der so genannten ‚Frankfurter Schule’. Vor allem hier wird der innere Zusammenhang von Antisemitismus und Autoritarismus sowohl psychoanalytisch, als auch gesellschaftstheoretisch umfassend erklärt. Die Kritischen Theoretiker kommen zu dem Ergebnis, dass autoritäre Verhaltensweisen nicht zufällig entstehen, sondern in unmittelbaren Zusammenhang mit objektiven, gesellschaftlichen Prozessen stehen. Die Forschungen der Denker belegen und erklären die Persistenz des Autoritarismus in der modernen Gesellschaft. Dadurch wird deutlich, dass es unterhalb der demokratischen Oberfläche eine unterschwellige, aber permanente Gefahr gibt, die zu einem erneuten Ausbruch eines eliminatorischen Antisemitismus führen könnte. In Abgrenzung zur sachlich begründeten Anerkennung einer Autorität, spricht man von ‚Autoritarismus’ als einer „irrationalen, konformistischen und auf Macht an sich fixierten Unterwerfung unter Autoritäten, die dem rationalen Eigeninteresse von Menschen widerspricht“ (Rensmann 2005, S. 132). Irrational ist diese Unterwerfung insofern, dass sie lediglich „aus einem Affekt der Bewunderung, Liebe, Furcht oder einer Mischung dieser Gefühle“ (Löwenthal 1990a, S. 258) resultiert. Der Grund für eine solche Hingabe an Autoritäten wird in einer psychoanalytisch bestimmbaren Ich-Schwäche angesehen, die sich als Folge der Sozialisation entwickelt und sich im Antisemitismus ausdrücken kann.

Mit den Untersuchungen über autoritäre Persönlichkeiten versuchten die Kritischen Theoretiker einen für die damalige Zeit charakteristischen Menschentypus zu bestimmen, der aber nicht erst mit dem Nationalsozialismus ein allgegenwärtiges Phänomen darstellte. Bereits der typische preußische Untertan verkörpert genau das, was einen autoritären Charakter ausmacht. Heinrich Manns Roman ‚Der Untertan’, den er schon 1906 begann und 1914 fertig stellte, wirkt wie eine literarische Vorwegnahme dessen, was 20 bis 30 Jahre später die Kritischen Theoretiker erforschten. Mann stellt hier mit dem Protagonisten Diederich Heßling eine Parodie des kleinbürgerlichen, kaiserergebenen Deutschen vor, der in sich die Bereitschaft dazu vereint, sich zu unterwerfen und zugleich die Unterwerfung anderer zu fordern. Zum Beispiel empfindet Diederich bei den körperlichen Züchtigungen in seiner Schule unterwürfige Genugtuung, denn er „war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu seinem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war“ (Mann 1929, S. 16). Heinrich Mann schildert bereits damals an Heßling, dass autoritäre Typen zu Antisemitismus neigen. Als etwa Heßling, „wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse gehänselt“ (Mann 1929, S. 19) hatte und ihn einmal vor einem Kreuz in die Knie zwang, beschreibt Mann Heßlings Gefühl: „Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. […] Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewußtsein, das kollektiv war!“ (ebd.).

Genau jene Motive des Antisemitismus, die sich aus einer autoritären Charakterstruktur speisen, werden nun bei den Kritischen Theoretikern psychoanalytisch und gesellschaftstheoretisch untersucht. Mit dem heute geläufigen Label ‚Kritische Theorie’[1] assoziiert man den Kreis von Wissenschaftlern und Gesellschaftstheoretikern um Horkheimer, Adorno, Marcuse, Löwenthal und einigen anderen. Diese entwickelten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Kritische Theorie der Gesellschaft indem sie die marxistische Theorie, den historischen Materialismus, um die Freudsche Psychoanalyse erweiterten, wodurch Erkenntnisse möglich wurden, die den klassischen Arbeiterbewegungen jener Zeit verwehrt blieben. Die Kritischen Theoretiker betrachteten die Gesellschaft, die Aufklärung und den Spätkapitalismus sowie deren Erscheinungsformen auf eine dialektische Weise. Die gesellschaftliche Vermittlung der einzelnen Aspekte in der Gesellschaft, sei es Kunst, Kultur, die Ökonomie oder auch der in vorliegender Arbeit behandelte Gegenstand, der Autoritarismus, können bei ihnen nicht ohne deren Verknüpfung mit objektiven Prozessen betrachtet, analysiert und schließlich kritisiert werden. Erst ein präziser und theoretisch bestimmter Begriff von Gesellschaft ermöglicht es, die vielfältigen Phänomene innerhalb des gesellschaftlichen Ganzen zu verstehen. Wodurch sind die Erscheinungsformen gesellschaftlich bestimmt, wo bestimmen diese wiederum die Gesellschaft?

Entgegen einer allgemeinen Tendenz, einzelne Aspekte der Kritischen Theorie isoliert vom Rest zu untersuchen und so die Kritische Theorie um ihren kritischen Gehalt zu bringen, versucht vorliegende Arbeit explizit den untersuchten Gegenstand des Autoritarismus als einen Aspekt unter mehreren zu untersuchen, welcher auf vielfältige Weise mit anderen Bereichen der Kritischen Theorie der Gesellschaft in engem Zusammenhang steht. Es soll also nicht versucht werden, den eigenen Gegenstand betreffende Elemente aus der Kritischen Theorie herauszufiltern, wie es gegenwärtig auf wissenschaftlicher Ebene gängige Praxis ist. Pars pro toto für eine solche Praxis sei hier der Erziehungswissenschaftler Hartmut Paffrath genannt[2], der sich in seinem Buch ‚Die Wendung aufs Subjekt’ auf „pädagogische Perspektiven im Werk Theodor W. Adornos“[3] beschränkt. Daher vermag Paffrath das dialektische Denken Adornos in seiner Vielschichtigkeit kaum erfassen. Geflissentlich übersieht Paffrath, warum Adorno es für notwendig erachtet, dem Subjekt die Aufmerksamkeit zuzuwenden: „Da die Möglichkeit, die objektiven, nämlich gesellschaftlichen und politischen Vorraussetzungen, die solche Ereignisse ausbrüten, zu verändern, heute aufs äußerste beschränkt ist, sind Versuche, der Wiederholung entgegen zu arbeiten, notwendig auf die subjektive Seite abgedrängt“ (Adorno 1966a. S. 89). Paffrath nimmt zwar Adornos Begründung zur Kenntnis, vermag aber die theoretischen Implikationen, die dahinter stehen, kaum greifen, da er die Kritische Theorie der Gesellschaft nicht als eine dialektische Theorie sieht, sondern sie schematisch betrachtet, als stünden verschiedene einzelne ‚Perspektiven’ unvermittelt nebeneinander. In seiner erklärten Absicht, in Adornos diversen Werken pädagogische Perspektiven zu finden, verstellt sich Paffrath den Blick auf die tatsächliche Bedeutung der Pädagogik im Denken Adornos. Er selbst schreibt zwar, dass die Kritische Theorie sich aus dem „Getto der Einzelwissenschaften“ (Paffrath 1992, S. 13) zu befreien versuchte, um eine „allgemeine Theorie der Gesellschaft zu entwickeln“ (ebd.). Auch weist er darauf hin, dass Adornos Gestaltung von Praxis „verzweifelte Hoffnung oder hoffende Verzweiflung“ (a.a.O. S. 14) ist und nicht ins Positive gewendet werden dürfe (vgl. ebd.). Dennoch erhofft sich Paffrath „Impulse für ein neues Verständnis von Bildung sowie für eine zu verändernde Erziehungspraxis“ (a.a.O., S. 15). Letztlich geht es also doch um eine ‚Nutzbarmachung’ der Kritischen Theorie bzw. um die Integration der ‚brauchbaren Teile’ in die eigene Theorie. Bei Paffraths Auseinandersetzung mit Adornos ‚Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute’ (Paffrath 1992, S. 86 ff.) werden gezielt Zitate aus Adornos Text aneinandergereiht, aus denen er versucht, pädagogische Implikationen und Argumentierungshilfen gegen Antisemitismus herauszulesen, ohne sich jedoch mit der gesellschaftlichen Dimension des Antisemitismus und dessen Wandlungen nach Auschwitz zu einem „sekundären Antisemitismus“ (vgl. Adorno 1962, S. 107 f.) zu beschäftigen. Die Loslösung Adornos ‚Wendung aufs Subjekt’ vom komplexen ‚Rest’ der Kritischen Theorie, kann nur erklärt werden durch Paffraths selektives Lesen der Texte unter ‚pädagogischen Vorzeichen’, wo eben die Stellen kaum beachtet werden, in denen betont wird, dass die „subjektiv gerichteten Analysen nur innerhalb objektiver Theorie ihren Stellenwert“ (Adorno 1969a, S. 134) haben.

Adorno selbst betont die Mängel einer reduktionistischen Sichtweise der einzelnen gesellschaftlich vermittelten Teilbereiche. Auch für den Antisemitismus – der zwar psychoanalytisch erklärt werden könne, insofern der Antisemit erklärt würde – gilt es, dass dessen gesellschaftliche Dimension einzubeziehen ist, um ihn wirklich zu fassen. In den ‚Studien zum autoritären Charakter’ schreibt Adorno über die Komplexität des Antisemitismus und mit ihm des Autoritarismus:

Das heißt nicht, daß Juden Haß auf sich ziehen müssen oder daß eine unabwendbare historische Notwendigkeit sie eher als andere zum idealen Angriffsziel sozialer Aggressivität macht. Es genügt, daß sie diese Funktionen im psychischen Haushalt vieler Individuen erfüllen können. Dem Problem der >Einzigartigkeit< des jüdischen Phänomens und folglich des Antisemitismus kann man nur durch Rekurs auf eine Theorie nahe kommen, die den Rahmen dieser Studie überschreitet. Eine solche Theorie würde weder eine Vielfalt von >Faktoren< aufzählen, noch einen spezifischen als >den< Anlaß auswählen, sondern eher einen geschlossenen Rahmen entwickeln, in dem alle >Elemente< konsistent miteinander verbunden sind, was auf nichts weniger als auf eine Theorie der modernen Gesellschaft als Ganzer hinauslaufen würde. (Adorno et al. 1973, S.108 f.)

Würde also der Antisemitismus ohne die Einbeziehung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Dimension analysiert, würde lediglich eine Psychologisierung des Phänomens vorgenommen werden, statt dessen Verankerung in der objektiven Wirklichkeit zu erkennen.

Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, ist es das explizite Anliegen der vorliegenden Arbeit, den Gegenstand des Autoritarismus, wie er im Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erforscht wurde, im Rahmen einer ganzen Theorie der Gesellschaft zu begreifen. Daher beginnt die Arbeit mit dem äußeren Rahmen der Autoritarismusforschung. Zunächst wird auf die Gründungsgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung eingegangen (Kap. 2), da hier die Grundsteine für das Denken der Wissenschaftler gelegt wurden, die letztlich die Entwicklung der Theorie erst ermöglichten. Erst die Unabhängigkeit von den Arbeiterparteien und von Moskau einerseits und von der Universität andererseits, schuf den institutionellen Freiraum, in dem die Kritische Theorie überhaupt erst entstehen konnte. Es wird danach gezeigt werden, wie die Kritische Theorie in ihrer frühen Phase entstand (Kap. 3). Dabei soll kein umfassendes, historisierendes Bild der frühen Theorie in all ihren Facetten entworfen werden, sondern es soll die Theorie hinsichtlich ihrer Grundlagen für die späteren Autoritarismusforschungen dargestellt werden. Als Idee einer Verknüpfung von Philosophie und Empirie, die auch in den späteren Arbeiten immer wiederkehrte, soll Horkheimers Konzept des ‚interdisziplinären Materialismus’ vorgestellt werden. Mit der Kombination von Gesellschaftstheorie und Empirie gewann die analytische Sozialpsychologie immer mehr an Bedeutung (Kap. 4). Vor allem von Fromm wurde die Psychoanalyse als Hilfswissenschaft einbezogen, um darauf zu reflektieren, dass die eigentlich überfällige Revolution von den Arbeitern und Angestellten nicht umgesetzt wurde.

Die Theoriebildung der Denker kann dabei aber nicht losgelöst von deren biographischen Erfahrungen des Nationalsozialismus betrachtet werden. In diesem Zusammenhang wird die Frage erörtert werden, welch großen Einfluss die Judenverfolgung im Dritten Reich, die in Auschwitz kulminierte, auf die Kritischen Theoretiker sowie ihre Theorie hatte. Das Interesse, das Unbegreifliche zu begreifen, um eine Wiederholung abzuwenden, war dabei zentral für die Kritische Theorie nach Auschwitz. Im Rahmen dieser theoretischen Überlegungen, ist es vor allem die psychoanalytisch orientierte Autoritarismusforschung, der große Aufmerksamkeit gewidmet wurde, um zu verstehen, warum Menschen zu solchen Taten fähig waren. Eingebettet sind diese Forschungen aber in eine Theorie, die die Tendenz zur Barbarei in der ‚Dialektik der Aufklärung’ angelegt sieht.

Um zu verstehen, was ein ‚autoritärer Charakter’ ist, ist es notwendig, einige der Grundbegriffe der Psychoanalyse zu kennen, um die Wirkungsweisen bestimmter Mechanismen zu begreifen, die eine solche Charakterstruktur prägen. Auf dieser Basis werden die verschiedenen (empirischen) Projekte am Institut für Sozialforschung vorgestellt (Kap. 5), die den Autoritarismus zum Gegenstand haben, um danach die Theorie des autoritären Charakters aus diesen Arbeiten und einer Vielzahl von Aufsätzen, die später entstanden, abzuleiten (Kap. 6). Dabei werden verschiedene Facetten dieses Charaktertypus diskutiert, um ein umfassendes Bild seiner (psycho-sozialen) Entstehung, seiner Funktionsweise, seiner Struktur und seiner gesellschaftlichen Bedingtheit zu entwickeln. Den klassischen autoritären Charakter assoziiert man zu Recht mit den Nazis des Dritten Reiches. Mit dem Ende des Nationalsozialismus und dem Bekanntwerden von Auschwitz konnte sich zwangsläufig auch der Antisemitismus nicht mehr so offen äußern wie vorher. Welche Auswirkungen hatte das Ende des Nationalsozialismus auf die autoritäre Charakterstruktur? Dabei soll die letzte empirische Untersuchung zu Autoritarismus im Umfeld der ‚Frankfurter Schule’ diskutiert werden (Kap. 7). Der Autoritarismusforschung hat man m. E. weit reichende Einsichten zu verdanken, warum sich Menschen, entgegen ihrer rationalen Interessen in faschistischen Massen zusammenschließen. Diese Untersuchungen bieten einen Schlüssel zum Verständnis der breiten Zustimmung für den Nationalsozialismus im Deutschen Reich. Nun stellt sich aber die Frage, wie reagiert die Fachöffentlichkeit auf die Studien. Welche Kritiken übt diese an diesen Forschungen (Kap. 8)? Anschließend soll untersucht werden, wie es theoretisch überhaupt möglich ist, den autoritären Charakter nach 1945 zu bestimmen. Nicht nur das Kriegsende markiert hier eine Wende bzw. macht eine Erweiterung der Theorie notwendig, sondern andere, allgemeine gesellschaftliche Prozesse spielen hierbei eine Rolle. Als Stichworte seien hier die Durchkapitalisierung verschiedener Lebensbereiche oder die sinkende Bedeutung der Familie insbesondere des Vaters bei der Sozialisation genannt, die die (psychische) Subjektkonstitution nicht unberührt lassen. Während in der Psychoanalyse nach Freud und zum Teil auch in den hier diskutierten Autoritarismusforschungen die bürgerliche Kleinfamilie der Ausgangspunkt der Theorie war, muss geklärt werden, welche Auswirkungen ihr Zerfall auf die Subjekte hat. Leitend dabei ist die Hypothese, dass die Autoritarismusforschung und deren Gegenstand keineswegs obsolet geworden sind, sondern sich vielmehr ein anderer Typus gesellschaftlich durchgesetzt hat, der auch für die Gegenwart relevant ist. Welche Probleme, welche Konsequenzen ergeben sich hieraus? Worin genau besteht die Aktualität des autoritären Charakters? Auch hierfür liefert die Kritische Theorie wertvolle Hinweise, wie die Trends im Spätkapitalismus zu analysieren seien (Kap. 9.1).

Wenn theoretisch klar ist, dass es noch autoritätsgebundene Charaktere gibt, die seelische Befriedigung nur im Antisemitismus finden können, stellt sich dann die Frage, wie sich dieser nach Auschwitz im Land der Täter ausdrücken kann (Kap. 9.2). Hierzu wird der Begriff des ‚sekundären Antisemitismus’ vorgestellt, der eine modifizierte Form des modernen Antisemitismus darstellt. Im abschließenden Kapitel werden die theoretischen Bestimmungen des neuen Antisemitismus an einigen gesellschaftlichen Phänomenen beispielhaft demonstriert. Der Antizionismus als moralisierender Antisemitismus der Linken wird dabei erörtert werden, da dieser auch in der politischen Mitte als ‚Israel-Kritik’ Relevanz hat. Anschließend werden einige Debatten der ‚Berliner Republik’ vorgestellt, die die Existenz von (sekundärem) Antisemitismus auch in der politischen Kultur der wiedervereinigten Bundesrepublik und nicht nur an deren rechten Rand belegen. Wie weit autoritäre Charaktere in ihrer gegenwärtigen Gestalt verbreitet sind, kann so zwar nicht geklärt werden. Es wird jedoch deutlich werden, dass deren Prävalenz bedeutend größer ist, als man sich vielerorts einzugestehen vermag.

2 Das Frankfurter Institut für Sozialforschung

2.1 Die Gründung des Instituts

Nach dem Ersten Weltkrieg, der zunehmenden Bolschewisierung der sowjetischen Revolution von 1917 und nach der gescheiterten Revolution von 1919 in Deutschland war von der Aufbruchsstimmung dieser Jahre in der sich gerade konstituierenden Weimarer Republik kaum noch etwas übrig. Die Alternative, vor die sich Linksintellektuelle und undogmatische Kommunisten jener Zeit gestellt sahen, versprach kaum Perspektivvolles: entweder ein Unterordnen unter die dogmatisch an Moskau orientierte, streng hierarchische und – abgesehen von den Vorgaben Moskaus – theoriefeindliche KPD, oder aber Engagement in der nichtrevolutionären sozialdemokratischen Partei (SPD), die nicht nur während des Ersten Weltkriegs das deutsche Großmachtstreben mit unterstützte, sondern seit jeher eher am Klassenkompromiss statt am Klassengegensatz bzw. -kampf interessiert war.

Die internationalen kommunistischen Arbeiterbewegungen verflachten und vereinfachten zunehmend die Marxsche Theorie zu einem Weltanschauungs- und Welterklärungsmodell, so dass deren kritischer Gehalt und die systemüberwindende Perspektive abhanden kamen. Heinrich fasst die Elemente marxistischer Theorie der Arbeiterbewegung wie folgt zusammen: „Ein äußerst simpel gestrickter Materialismus, bürgerliches Fortschrittsdenken, ein paar vereinfachte Elemente der Hegelschen Philosophie und Versatzstücke Marxscher Begrifflichkeiten werden zu einfachen Formeln und Welterklärungen kombiniert“ (Heinrich 2004, S. 22). Besonders typisch für einen derartigen Populärmarxismus war ein kruder Ökonomismus, der Ideologie und Politik auf direkte und bewusste Übersetzung ökonomischer Interessen reduziert und ein geschichtlicher Determinismus, der die proletarische Revolution als ein naturnotwendig eintretendes Ereignis auffasst (vgl. ebd.).

Vor dem Hintergrund dieser Bedingungen schien die Gründung einer von Parteien ungebundenen Institution notwendig, innerhalb derer die marxistischer Theorie von ihrer Erstarrung gelöst und weiterentwickelt werden könnte. Ein ebensolches Institut zu gründen kam dem jüdische Mäzen Felix Weil offensichtlich in den Sinn, als er 1922 in Ilmenau/Thüringen die ‚Erste Marxistische Arbeitswoche’ organisierte. An dieser einwöchigen Konferenz nahmen verschiedene bekannte Persönlichkeiten teil, die nicht nur die Vorreiter des, westlichen Marxismus´[4] waren, sondern zum Teil die Entwicklung der Kritischen Theorie entscheidend mitprägen sollten. Dem Treffen mit Georg Lukács, Karl Korsch, Richard Sorge, Friedrich Pollock, Karl August Wittfogel und Rose Wittfogel u.a. lag Felix Weils Hoffnung zugrunde „die verschiedenen marxistischen Strömungen könnten, wenn man ihnen nur Gelegenheit gab, ihre Differenzen auszudiskutieren, zu einem >wahren< oder >reinen< Marxismus gelangen“ (zit. nach Jay 1981, S.23).

Mit dem Geld seines Vaters und mit der Unterstützung von Max Horkheimer und Friedrich Pollock gelang es Felix Weil schließlich im Jahr 1923 das locker an die Frankfurter Universität angegliederte Institut für Sozialforschung zu gründen. Ein solches Institut schien nur im tradionell liberalen Frankfurt möglich. Sowohl jüdisches Leben insgesamt, als auch gut-bürgerlicher Lebensstil prägten das Frankfurt nach dem Ersten Weltkrieg. Die Rhein-Metropole war „eine Stadt, in der der Anteil bürgerlicher Sympathisanten des Sozialismus und Kommunismus ungewöhnlich hoch war und in der die Welt der Salons und Cafés eine Grauzone bürgerlich-liberalen Lebens bildete, in der zwischen verbindlicher und unverbindlicher Distanzierung von der eigenen Klasse schwer zu unterscheiden war“ (Wiggershaus 1988, S. 27).

Auch die recht junge Universität der Stadt, in der viele Reformer und Linksliberale lehrten, war für eine Angliederung eines marxistischen Instituts für Sozialforschung prädestiniert.

Nachdem der ursprünglich als Leiter des Instituts vorgesehene Kurt Albert Gerlach unerwartet verstarb, übernahm einer der Wegbereiter des Austro-Marxismus, Carl Grünberg, als erster die Leitung des Instituts. Grünberg, der erste bekennende Marxist mit einem Lehrstuhl an einer deutschen Universität (vgl. Jay 1981, S.28), brachte aus Wien sein ‚Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung’ bzw. – wie es kürzer genannt wurde – das ‚Grünbergs Archiv’ mit nach Frankfurt. In der Zeit am Institut interessierte er sich, wie schon in der Zeit vorher, mehr für die Geschichte der Arbeiterbewegung als für marxistische Theoriebildung. Die Voraussetzungen, sein Archiv in Frankfurt im Rahmen des Instituts fortzuführen, waren optimal, verfügte Grünberg doch über eine umfangreiche Spezialbibliothek. So prägte er als Leiter inhaltlich und thematisch das Profil und die Arbeit der ersten Jahre des Instituts entscheidend. Doch nicht nur Fragen zu Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegungen waren Gegenstand der Arbeit (Grünberg begann die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) zu redigieren), sondern auch andere Themen fanden Platz am Institut, woran bereits in der Frühzeit des Instituts der interdisziplinäre Charakter erkennbar war, welcher insbesondere für spätere Arbeiten wie die Theorien über Autoritarismus und Antisemitismus wesentlich war.

Grünberg erlitt 1928 einen schweren Schlaganfall, so dass er in der Folgezeit nur eingeschränkt das Institut leiten konnte. Da sich sein Gesundheitszustand weiter verschlechterte, wurde ab 1929/30 ein Nachfolger gesucht, der das, unter theoretisch versierten Kommunisten sehr attraktiv gewordene, Institut leiten würde.

2.2 Der Beginn der Horkheimerschen Ägide am Institut

Im Oktober 1930 schließlich wurde die Leitung dem bis dahin eher unauffälligem dafür aber politisch unbelasteten[5] Max Horkheimer übertragen, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Monaten einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie innehatte[6].

Wie es sich bereits unter Grünberg andeutete, profitierte das Institut vor allem unter Horkheimers Führung von der Ungebundenheit an Parteien oder den Arbeiterbewegungen. Nach Detlev Claussen war es erst jene Distanz zur Alltagspraxis der politischen Bewegungen, die die Kritische Theorie überhaupt erst ermöglichte (vgl. Claussen 1998, S. 12). Die genuine politische Leistung Horkheimers besteht, so Claussen weiter, in der bewussten organisatorischen Trennung der Theorie von der Macht (vgl. ebd.). Dies unterscheidet den Horkheimer-Kreis von den anderen bedeutenden marxistischen Intellektuellen wie Ernst Bloch, Georg Lukács und Karl Korsch, welche „alle in schier endlose Beziehungsgeschichten mit der Kommunistischen Partei verstrickt blieben“ (ebd.).

Mit Horkheimer vollzog sich ein spürbarer Wandel am Institut, den Martin Jay in seiner Studie über die Frankfurter Schule folgendermaßen zusammenfasst: „Wenn das Institut sich in seinen ersten Jahren vornehmlich der Analyse der sozioökonomischen Basis der bürgerlichen Gesellschaft widmete, so galt in den Jahren nach 1930 sein Hauptinteresse deren kultureller Überbau“ (Jay 1981, S. 40). „Tatsächlich“, so fährt Jay fort, „wurde die traditionelle marxistische Formel hinsichtlich Verhältnisses von Basis und Überbau durch die Kritische Theorie in Frage gestellt“ (ebd.).

In seiner Antrittsrede stellt Horkheimer bereits die Weichen zur späteren Autoritarismusforschung, indem er die theoretischen Fragestellungen aufwirft, die das Basis-Überbau-Verhältnis als komplexer betrachten als die Kommunisten jener Zeit. Von den soziologischen und philosophischen Diskussionen über die Gesellschaft leitet sich für Horkheimer die zentrale Frage ab, „nämlich die nach dem Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, der psychischen Entwicklung der Individuen und den Veränderungen im kulturellen Bereich“ (Wiggershaus 1988, S. 51 f.). Bereits hier wird den Angestellten und Arbeitern als Gegenstand der Forschung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Vorgehensweise seiner Forschung schildert Horkheimer in jener Rede, wenn er als Ziel vorgibt, dass er, „aufgrund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen organisieren [will (C.U.)], zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen“ (Horkheimer 1931, S. 41).

Wenngleich nun einige Themen Grünbergs, wie die Geschichte der Arbeiterbewegung, beibehalten wurden, verlagerte sich der Schwerpunkt der Arbeit zunehmend in Richtung Gesellschaftstheorie. An Stelle des 1930 eingestellten Grünbergs Archiv fungierte ab 1932 die ‚Zeitschrift für Sozialforschung’ (ZfS) als das zentrale Sprachrohr des Instituts. Mit der Verschiebung des Arbeitsfeldes unter Horkheimer gewannen nun Mitarbeiter an Einfluss, die zuvor weniger tonangebend waren. Nachdem bereits Anfang 1929 das Frankfurter Psychoanalytische Institut im Gebäude des Instituts für Sozialforschung untergekommen war, wurde schließlich ab 1931 der in diesem tätige Erich Fromm eine der Lehrkräfte von Horkheimers Institut. Auch der mit Leo Löwenthal, Friedrich Pollock und Max Horkheimer befreundete Theodor Wiesengrund-Adorno[7], der sich damals vor allem der Musikkritik widmete, wurde – wenn auch noch lange Zeit kein reguläres Mitglied – insbesondere über seine Arbeit für die ZfS zunehmend einflussreich im Horkheimer-Kreis, wie der innere Kern der späteren Kritischen Theoretiker auch genannt wurde. Im Jahr 1932 führte Löwenthal Gespräche mit Herbert Marcuse, die schließlich auch zu dessen Aufnahme am Institut führten.

Die Zeitschrift avancierte so in der Zeit ihres Bestehens bis 1941 zu einem „[einzigartigem (C.U.)] Dokument deutscher und europäischer Geistesgeschichte“ (Dubiel 1992, S. 17). Im Umfeld der Zeitschrift wurde das Profil der frühen Kritischen Theorie entwickelt und in Form von programmatischen Aufsätzen veröffentlicht. Bereits die Frühformen nationalsozialistischer Gewalt betrachteten die Kritischen Theoretiker mit Argwohn, so dass die inhaltliche Programmatik des Instituts von diesem gefährlichen Phänomen nicht unbeeindruckt blieb.

2.3 Die Flucht des Instituts vor dem Zugriff der Nazis

Den zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten empfanden die überwiegend jüdischen Mitglieder des Instituts schon lange bevor Hitler die Macht übergeben wurde als besorgniserregend. Leo Löwenthal erinnert sich später, dass bereits am 17. September 1930, als 102 Nationalsozialisten in den Reichstag gewählt wurden, der Entschluss fiel, in die Emigration zu gehen (vgl. Löwenthal 1980, S. 67). Auch wenn die Institutsmitglieder kaum über Antisemitismus im Vorkriegsdeutschland berichteten und seine Virulenz zum Teil falsch einschätzten[8], mangelte es doch nie an der politischen Weitsicht. Im Hinblick auf die Entwicklung in Deutschland und die Stalinisierung der Sowjetunion, setzte sich zunehmend die Einsicht durch, dass die Arbeiterbewegung als revolutionäres Subjekt ausgedient habe, dass also „die theoretisch konstatierbare Widersprüchlichkeit zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen entgegen gängiger Annahmen durchaus nicht zwangsläufig über sich hinaustrieb“ (Bonß 1983, S. 8). Die aus objektiven Verhältnissen abgeleitete Stellung der Arbeiterschaft, die als Akteur gesellschaftlicher Umwälzung prädestiniert schien, hat sich als falsch erwiesen. Die Theorie hat sich nun die Frage zu stellen, warum die Arbeiter dem erstarkenden Nationalsozialismus kaum etwas entgegen zu setzen hatte. 1929 begann unter der Leitung Erich Fromms die erste empirische Studie, die sich mit den psychischen Dispositionen der Arbeiterschaft befasste und trug den Titel ‚Arbeiter und Angestellte in der Weimarer Republik’. Die erst 1980 unter anderem Titel veröffentlichte Studie[9], die zu Beginn noch unter der genuin marxistischen Prämisse konzipiert wurde, dass „das Proletariat über eben jene psychischen Qualitäten verfügt, die für eine Überwindung der kapitalistischen Ordnung nötig sind“ (Dubiel 1992, S. 45), gelangte zu dem Ergebnis, dass politische Einstellungen und charakterliche Eigenschaften nicht korrelieren. Bereits hier deutet sich an, warum die zahlenmäßig starken linken Bewegungen in Deutschland, den Nationalsozialismus so widerspruchslos hinnahmen. Die bereits früh vollbrachte Erkenntnis, dass es die deutsche Arbeiterschaft eher mit der Volksgemeinschaft, denn mit dem Klassenkampf hielt, sowie Horkheimers politischer Feinsinn, „dessen philosophisches Werk man bewundern, dessen strategischen Weitblick aber man bestaunen muß“ (Pohrt 1989, S. 181), waren wohl die Gründe für die frühe Auslagerung des Instituts und die Vorbereitungen der Emigration.

Bereits 1931 wurde eine Zweigstelle in Genf eingerichtet, zur gleichen Zeit wurde das Stiftungskapital, an dem auch die materielle Existenz der Institutsmitglieder hing, nach Rotterdam transferiert. Dadurch konnte es vor dem Zugriff der Nazis bewahrt werden, die 1933 das ‚Gesetz über die Enteignung kommunistischen Eigentums’ beschlossen hatten, welches die Handhabe bot, den politischen Gegner zu berauben (vgl. Pohrt 1989, S. 180). Als 1933 das Institut seinen Hauptsitz von Frankfurt nach Genf verlegte, wurden – im Wissen, dass auch die kleine Schweiz nicht dauerhaft dem expansionswilligen Deutschland würde stand halten können – weitere Niederlassungen in Paris und London gegründet.

Nachdem C.L. Hirschfeld, der Leipziger Verleger der ‚Zeitschrift für Sozialforschung’, nach einer herausgebrachten Ausgabe seine Mitarbeit mit dem bereits emigrierten Institut einstellte, gelang es in Paris die Librairie Félix Alcan nicht nur als neuen Verlag für die Zeitschrift zu gewinnen, sondern auch als Verleger der zweibändigen ‚Studien über Autorität und Familie’. Doch auch mit diesen Zweigstellen wähnten sich die Mitarbeiter des Instituts nicht in Sicherheit. In hellsichtiger Vorausahnung der Zerstörungswut der Nationalsozialisten erspähte Horkheimer Möglichkeiten der Aufrechterhaltung des Institutsbetriebs jenseits des Atlantiks. Auf einer Reise nach New York im Mai 1934 bot ihm Nicholas Murray Butler, der Präsident der Columbia University, die Angliederung des Instituts an die Universität sowie ein Gebäude in der 117. Straße 429 West an (vgl. Jay 1981, S. 59). Relativ zügig brachten sich in der Folgezeit die Mehrzahl der Institutsmitglieder in Sicherheit, indem sie in die USA übersiedelten: im Juli 1934 kam Marcuse, im August Löwenthal, Pollock im September und Wittvogel, der zeitweise in nationalsozialistische Gefangenschaft geriet, erreichte New York kurz danach. Da sich auch Erich Fromm bereits seit 1932 in den Vereinigten Staaten aufhielt, waren mit Wittvogels Ankunft alle engeren Mitarbeiter Horkheimers im Exil[10]. So konnte nicht nur das Institut seine Arbeit fortführen, sondern konnte auf diese Weise den meisten Mitarbeitern das Leben gerettet werden, da sie wohl sonst dem antisemitischen Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen wären.

3 Die Entwicklung der Kritischen Theorie der Gesellschaft und die Bedeutung des Autoritarismus als Gegenstand

Nachfolgend wird ergänzend zu der Schilderung der eher äußeren Umständen der Arbeit des Instituts und einigen Andeutungen zum Profil der Kritischen Theorie, ein Überblick darüber erfolgen, was Kritische Theorie ist, welchen Anspruch sie an sich selbst anlegt und was dies für eine kritische Betrachtung der Gesellschaft bedeutet. Die Skizzierung der Kritischen Theorie bezieht sich zunächst vor allem auf die früheren Arbeiten, bis hin zu den im amerikanischen Exil entstandenen Schriften, um vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Autoritarismusforschung für eine Kritische Theorie der Gesellschaft herauszustellen. Diese Vorgehensweise trägt dem Umstand Rechnung, dass dieser Arbeitsbereich nicht isoliert zu betrachten ist, sondern wesentlich und auf dialektische Weise mit einer ganzheitlichen Theorie eng verwoben ist. Die Darstellung der Kritischen Theorie soll an dieser Stelle jedoch nicht überstrapaziert werden, da grundlegende Elemente der Theorie sich aus der Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus ergeben. Nachfolgende Darstellung dient daher vornehmlich der theoretischen Verortung des Gegenstands der vorliegenden Arbeit.

3.1 Die frühe Kritische Theorie

Leo Löwenthal bringt die Grundmotivation der Kritischen Theoretiker auf den Punkt, wenn er über sich sagt – und damit auch die anderen meint: „>Mitmachen< wollte ich nie, ich habe mich schon immer als jemand erfahren, der >dagegen< war“ (Löwenthal 1980, S. 46). Und weiter in der ersten Person Plural: „Wir haben uns immer im Gegensatz zum Bestehenden empfunden, wir waren radikale Nonkonformisten. […] Wahrscheinlich, wenn wir das nicht getan hätten, hätten wir nicht überlebt. Schließlich hat uns der Gedanke an das Unheil, das aus dem Mitmachen kommt, nie verlassen“ (Löwenthal 1980, S. 47). Die negative Grundeinstellung der Theoretiker verweist auf ihr generelles Verweigern dem falschen Ganzen gegenüber. Ihre Kritik richtete sich gegen die nachbürgerliche Gesellschaft, indem sie ihr anklagend die Diskrepanz von ihrem Selbstbild des bürgerlichen Glücksversprechens und die gesellschaftliche Wirklichkeit entgegenhielt. Aus der Gegenüberstellung von Ideal der bürgerlichen Gesellschaft und Realität einer Welt, die zunehmend in Barbarei versinkt, ergibt sich jene kompromisslose und unkorrumpierbare Kritik, die sich in bester Tradition Marxscher Dialektik befindet. In diesem Sinn wird das falsche Ganze analysiert und anhand seiner eigenen Normen immanent kritisiert; Löwenthal sieht jenes als das eigentliche Wesen der Kritischen Theorie: „Genau das Negative war das Positive, dieses Bewußtsein des Nichtmitmachens, des Verweigerns, die unerbittliche Analyse des Bestehenden, soweit wir jeweils dafür kompetent waren“ (Löwenthal 1980, S.80).

Mit dem programmatischen Aufsatz ‚Traditionelle und kritische Theorie’ verfasste Horkheimer 1937 die wohl wichtigste Arbeit in der frühen Phase der Kritischen Theorie, welche – wie der Titel bereits sagt – die traditionelle von der Kritischen Theorie abgrenzt und so der letzteren ein Profil gibt. Besonders hier wird die enge Verquickung von Rationalitätskritik, Vernunftskritik, Philosophie und von Elementen des Marxschen historischen Materialismus zu einer ganzheitlichen und umfassenden Kritik der Gesellschaft deutlich, für die die Kritische Theorie steht. Der traditionellen Theorie wirft Horkheimer ihre statische Haltung gegenüber ihrem Gegenstand vor, der so nicht adäquat erfasst werden kann. Das, was Adorno später als ‚Nicht-Identität’ bezeichnet, ist hier bereits vorgezeichnet, wenn Horkheimer der traditionellen Theorie entgegenhält, dass sie analog zu den Naturwissenschaften ihren Gegenstand – also gesellschaftliche Beziehungen - in Sätzen und Skalen darstellt und so das einzelne konkrete Exemplar unter eine Gattung der Theorie subsumiert, es also um seine Besonderheit bringt. „Immer steht auf der einen Seite das gedanklich formulierte Wissen, auf der anderen Seite ein Sachverhalt, der unter es befasst werden soll, und dieses Subsumieren, dieses herstellen der Beziehung zwischen der bloßen Wahrnehmung oder Konstatierung des Sachverhalts und der begrifflichen Struktur unseres Wissens heißt seine theoretische Erklärung“ (Horkheimer 1937, S. 16).

Demgegenüber verweist Horkheimer auf die Kritische Theorie als Alternative zur herrschenden traditionellen Theorie: „Die Selbsterkenntnis des Menschen in der Gegenwart ist jedoch nicht die mathematische Naturwissenschaft, die als ewiger Logos erscheint, sondern die vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrschte kritische Theorie der bestehenden Gesellschaft“ (a.a.O. S. 20 f.).

Jene Selbsterkenntnis, sowie Erkenntnis überhaupt findet jedoch nicht transzendental statt, sondern ist der bestehenden Gesellschaft immanent. Anders als die fetischistische Auffassung der gesellschaftlichen Objektivität betont die Kritische Theorie sowohl die subjektive Vermitteltheit des Objekts als auch die objektive Vermitteltheit des Subjekts der Gesellschaftstheorie: „Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs“ (a.a.O. S. 22). Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Praxis ist also wesentlich durch ebenjene Gesellschaft determiniert und lässt auch den Theoretiker von der sozialen Wirklichkeit nicht unberührt. Dies anerkennend kann eine Kritik der Gesellschaft nur immanent sein, wobei der Begriff ‚kritisch’ weniger im Sinne der idealistischen Kritik der Vernunft verstanden wird, als in dem der dialektischen Kritik der politischen Ökonomie (vgl. a.a.O. S. 27). So wie hier zieht sich der Bezug auf die Marxsche Dialektik wie ein roter Faden durch die gesamte Kritische Theorie[11]. Wie auch bei Marx und analog zum jüdischen Bilderverbot, Gott und das Paradies beim Namen zu nennen, haben die Kritischen Theoretiker einen ‚sozialistischen Menschen’ bzw. eine kommunistische Gesellschaft nie definiert, sondern diese negativ bestimmt. Es gelte, alle Verhältnisse zu kritisieren, in denen der Mensch unterdrückt und ausgebeutet wird. Der von Marx festgestellte gesellschaftliche Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit, der seinen Ausdruck in einer antagonistischen Klassengesellschaft unter ökonomischen Zwängen findet, entwickelt sich bei den „Subjekten des kritischen Verhaltens zum bewußten Widerspruch“ (a.a.O. S. 28), so die optimistische Einschätzung Horkheimers.

3.2 ‚Interdisziplinärer Materialismus’

Um die Gesellschaft theoretisch erfassen zu können, müssen neue Prinzipien entwickelt werden, die nicht starr an einem Denkschema haften bleiben, sondern die verschiedenen Bestandteile der Gesellschaft zu einem zusammenhängenden Ganzen fügen können. Im Gegensatz zum Idealismus der bürgerlichen Wissenschaft und zum Materialismus der Vulgärmarxisten einerseits und der der Sozialdemokraten andererseits, welcher sich bei diesen „in eine blind-begriffslose Revolutionstheorie und in eine ebenso blinde Anpassung an die schlechten Verhältnisse“ (Bonß/Schindler 1982, S. 45) spaltet, entwirft Horkheimer einen ‚interdisziplinären Materialismus’ der folgende Elemente dialektisch miteinander verknüpft: ‚Sozialphilosophie’, die ‚Theorie des historischen Verlaufs’ und ‚Sozialforschung’. Der Sozialphilosophie fällt die Aufgabe zu, als materialistische Kritik, die aufs „Allgemeine >Wesentliche< gerichtete theoretische Intention“ (Horkheimer 1931, S. 41) zu formulieren und zwar in Form von allgemeinen Annahmen über Struktur und Entwicklung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs (vgl. Bonß/Schindler 1982, S. 51). Einen adäquaten Begriff von Materialismus kann man jedoch nur dann gewinnen, wenn man ihn historisch entfaltet und dessen Geschichte „als einen über das Prinzip der Rückführung auf stoffliche Gegebenheiten hinausgehenden kognitiven und sozialen Lernprozeß rekonstruiert“ (Bonß/Schindler 1982, S. 40). Dieser Lernprozess muss an den Errungenschaften der bürgerlichen Wissenschaften ansetzen, sie transzendieren und zu einer umfassenden Form der Konstitution und Aneignung von Wirklichkeit führen (vgl. ebd.).

Die Aufgabe der Sozialforschung ist es, die allgemeinen Fragen der Sozialphilosophie aufzugreifen und diese mit den zur Verfügung stehenden methodologischen Standards der Einzelwissenschaften umfassend zu erforschen und zu bearbeiten. Durch die einzelwissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere auf dem Gebiet der Ökonomie, Psychologie und Kulturwissenschaften, können so Rückschlüsse auf die sozialphilosophischen Verallgemeinerbarkeitsvorstellungen gezogen werden, „die unter der Perspektive der einzelwissenschaftlichen Objektivierung eine neue Gestalt gewinnen und mit einer vertieften Begründung versehen werden“ (Bonß/Schindler 1982, S. 52).

Zusammenfassend kann Horkheimers Konzept eines ‚interdisziplinären Materialismus’ als ein materialistischer geschichtsphilosophischer Forschungsansatz bezeichnet werden, welcher „unter der Vorherrschaft der Philosophie und unter Einschließung fachwissenschaftlicher Empirie“ (Bierhoff 1993, S. 16) einer Zersplitterung der Sozialwissenschaften in einzelne von einander isolierten Disziplinen entgegenwirken wollte.

Auch wie eher orthodoxe Marxisten weiß Horkheimer um den prinzipiellen Einfluss von Basis (Produktionsverhältnisse) auf den Überbau (Kultur). In scharfer Abgrenzung zu den Marxisten aber, die hieraus ganz dogmatisch das Proletariat als revolutionäres Subjekt bruchlos abzuleiten glaubten, revidierte Horkheimer das zu eng mechanistisch-ökonomische Basis-Überbau-Schema an zwei Punkten: Zum einen schenkte er dem ‚relativen Eigensinn’ mehr Aufmerksamkeit, also der relativen Eigenlogik der kulturellen Bewusstseinsformen des Überbaus, zum anderen rückten die Vermittlungsformen zwischen Basis und Überbau in den Mittelpunkt des Interesses (vgl. Dubiel 1992, S. 26 f.). Vielmehr sei das Verhältnis der Kultur zur materiellen Basis der Gesellschaft vieldimensional (vgl. Jay 1981, S. 78). So seien sämtliche Kulturphänomene als durch die gesellschaftliche Totalität vermittelt zu betrachten und nicht als bloße Widerspiegelung vermeintlich objektiver Klasseninteressen (vgl. ebd.).

Um hier die Frage zu klären, wie genau die Herrschaft des abstrakten Tauschprinzips und der Warengesetze die seelische Verfassung der Menschen bestimmt, werden Elemente der Freudschen Psychoanalyse in die Kritische Theorie integriert. Die Frage nach den psychischen Dispositionen insbesondere der Arbeiterschaft, stellt sich aber nach der Machtübergabe an die Nazis und dem rasenden Antisemitismus in Deutschland, der in Auschwitz kulminierte, später unter anderen Prämissen. Das revolutionäre Pathos sowie die Sympathie mit den Arbeiterbewegungen sind einer düsteren Sicht der Welt gewichen und finden in der von Horkheimer und Adorno 1947 veröffentlichten ‚Dialektik der Aufklärung’ ihre theoretische Entsprechung. Folgender Exkurs über das Kapitel ‚Elemente des Antisemitismus’ kann nur einen groben Einblick bieten, zu tief geht hier die theoretische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als Folge des Umschlags der Aufklärung in die Barbarei.

Exkurs I: ‚Elemente des Antisemitismus

Geschichte wird in der ‚Dialektik der Aufklärung’ nicht mehr wie noch bei den Marxisten als realer Fortschritt gesellschaftlicher Freiheit begriffen, sondern als Dialektik von Fortschritt und Freiheit. In der Vorrede wird der Übergang von einer Theorie der ausgebliebenen Revolution zu einer der Barbarei deutlich, wenn die Ziele der Kritischen Theorie (und dieses Buches) folgendermaßen umrissen werden: „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (Horkheimer/Adorno 2003, S. 1).

In diesem zentralen Werk der Kritischen Theorie wird der Umschlag der Zivilisation in jene Barbarei, für die Auschwitz steht, auf deren Ursprünge hin untersucht, die bereits in der Aufklärung selbst angelegt sind. Das ‚Dialektische’ der philosophischen Aufklärung, die seinerzeit angetreten war, den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu führen, beschreiben Horkheimer und Adorno folgendermaßen:

Wir hegen keinen Zweifel […], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt die Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal (Horkheimer/Adorno 2003, S. 3).

Jenes Schicksal der Aufklärung führte bekanntermaßen zu einem hochgradig organisierten Massenmord an den Juden Europas. Das Kapitel ‚Elemente des Antisemitismus’ in der ‚Dialektik der Aufklärung’ ist der erste Versuch, die Ursprünge jener Vernichtungsideologie, die die Nazis erstmalig so systematisch in die Tat umsetzten, umfassend theoretisch zu erfassen.

In den ‚Studien zum autoritären Charakter’ verweist Adorno auf die vielschichtigen Ansätze einer vollständigen Antisemitismuserklärung, die sowohl die subjektiven, als auch die objektiven Voraussetzungen zu berücksichtigen hat. Den Antisemitismus könne man nur mit einer Theorie erklären, die die verschiedenen Ebenen des Antisemitismus miteinander in Beziehung setzt „was auf nichts weniger als auf eine Theorie der modernen Gesellschaft als Ganzer hinauslaufen würde“ (Adorno et al. 1973, S.108 f.). Vor eben diesem Hintergrund ist ein Blick auf die ‚anderen Elemente’ jenseits der Psyche der Einzelnen, also auf die gesellschaftliche Dimension des Antisemitismus unerlässlich, ohne jedoch beides voneinander gänzlich abzutrennen. In den ‚Elementen des Antisemitismus’ in der ‚Dialektik der Aufklärung’ werden thesenhaft die Grundzüge der Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei erörtert. Horkheimer und Adorno entwerfen hier „eine philosophische Urgeschichte des Antisemitismus“ (Horkheimer/Adorno 2003, S.7) und sehen diese Arbeit explizit in „unmittelbarem Zusammenhang mit [den (C.U.)] empirischen Forschungen des Instituts für Sozialforschung“ (ebd.)[12], die hier an späterer Stelle erörtert werden sollen.

Insgesamt bestehen die ‚Elemente’ aus sieben Thesen, wobei an den ersten drei Leo Löwenthal mitarbeitete und die siebente These nachträglich angefügt wurde[13].

Auf der einen Seite werden hier die Fortschritte deutlich, die die Kritische Theorie im Bezug auf den Antisemitismus seit Horkheimers ‚Die Juden und Europa’ gemacht hat, auf der anderen Seite gibt es durchaus Kontinuitäten, in der noch immer einige orthodox-marxistische Versatzstücke bei der Erklärung des Antisemitismus konserviert werden[14].

In der ersten These wird die Vehemenz antisemitischer Ideologie beschrieben, nach der die Juden nicht als eine bloße Minorität unter anderen begriffen werden, sondern als „Gegenrasse, das negatives Prinzip als solches“ (Horkheimer/Adorno 2003, S. 177). Von der Ausrottung Juden solle das Glück der Welt. Diese These der Faschisten von den Juden als ‚Gegenprinzip’ ist in einem perfiden Sinne sogar wahr; wahr in dem Sinne, „daß der Faschismus sie wahr gemacht hat“ (ebd.). Dem stellen Horkheimer und Adorno die liberale These entgegen, dass die Juden keine nationalen und rassischen Gruppenmerkmale hätten, sondern sich durch nichts als religiöse Meinung und Tradition auszeichneten. Diese These sei ihrerseits ebenfalls wahr und unwahr zugleich. Wahr sei sie als Idee, durch die Annahme ihrer prinzipiellen Verwirklichung jedoch, „hilft sie zur Apologie des Bestehenden“ (a.a.O. S. 178).

Der Vernichtungswille des faschistischen Staates, den die Juden auf sich ziehen, ist eine Folge davon, dass die falsche gesellschaftliche Ordnung diesen Vernichtungswillen aus sich heraus produziert (vgl. a.a.O. S. 177). In jener bürgerlichen Gesellschaftsordnung, auf deren Fundament sich der autoritär-faschistische Staat formieren konnte, erkennen Horkheimer und Adorno eine „dialektische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft, das Doppelverhältnis des Fortschritts zu Grausamkeit und Befreiung“ (a.a.O. S.178).

Auf verschiedenen Ebenen leiten Horkheimer und Adorno in den ‚Elementen’ den Antisemitismus aus dem Liberalismus, der bürgerlichen Gesellschaft und der christlichen Religion ab. Dabei wird deutlich, dass der Antisemitismus nicht bloß aus einer Indifferenz der Massen gegenüber dem Anderen resultiert, sondern zugleich die Folge einer repressiven „Gleichmacherei“ (a.a.O. S. 179) ist, die konformistisch das Andere auszumerzen versucht. In diesem Sinne ist er die „Freude, daß die andern auch nicht mehr haben“ (ebd.). Der Antisemitismus geht nicht in ökonomischer Kalkulation auf oder zehrt sich aus einem Streben nach Macht. Er ist nichts als der „Drang nach Vernichtung. Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durchs Kollektiv“ (ebd.). Horkheimer und Adorno sehen den Antisemitismus als eine Ideologie, die den wahren Ursprung von Ausbeutung und Unterdrückung im bürgerlichen Zeitalter verschleiert. Der Grund ist „die Verkleidung der Herrschaft in Produktion“ (a.a.O. S. 182). Nicht mehr eine konkrete Person herrscht über einen, sondern ein Produktionsprinzip, dem man unterworfen ist. Als Sündenbock fungiert beim Antisemiten die Zirkulationssphäre, die für die Ausbeutung verantwortlich scheint. Diese Ideologie ist „gesellschaftlich notwendiger Schein“ (a.a.O. S. 183), da die wahren Ursachen verdeckt werden und so eine Aufhebung des Unterdrückungsverhältnisses vermieden werden kann. Der Antisemit identifiziert mit der Zirkulationssphäre die Juden, die „allzu lange in sie eingesperrt waren, als daß sie den Haß, den sie seit je ertrugen, durch ihr Wesen zurückspiegelten“ (ebd.)[15].

Immer werden die Juden dabei als etwas natürlich Anderes wahrgenommen, die nicht im Allgemeinen des eigenen Kollektivs aufgehen. Die Idiosynkrasie der bürgerlichen Subjekte, also die besonders starke Ablehnung gegenüber Personen, Personengruppen oder auch Ideen, „heftet sich an Besonderes. Als natürlich gilt das Allgemeine, das was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt“ (a.a.O. S. 188).

„Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion“ (a.a.O. S. 196) ist die Hauptthese des sechsten Teils der ‚Elemente des Antisemitismus’. Während sich die Mimesis der Umwelt ähnlich macht, so macht die falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich (vgl. ebd.). „Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind“ (ebd.). Die falsche Projektion zeichnet sich dadurch aus, dass „Momente des Ich, die ins identische, zur Einheit geschmiedete Ich nicht passen, die ihm aber als nichtidentisches innewohnen und die ins Unbewußte abgedrängt worden sind, auf ein äußeres Objekt gerichtet“ (Stein 2002, S. 111) werden. Dabei handelt es sich um Momente, derer sich der Mensch als zivilisiertes Wesen entledigen musste (vgl. ebd.). „Der Haß, welcher der eigenen unkontrollierten Natur gilt, wird in der falschen Projektion auf das verschmähte Objekt übertragen“ (ebd.). Wenngleich „in gewissem Sinn […] alles Wahrnehmen Projizieren [ist (C.U.)]“ (Horkheimer/Adorno 2003, S. 196), ist das charakteristische für die falsche Projektion ein völliger Ausfall der Reflexion auf ihre subjektiven Momente. Da das Subjekt nicht mehr adäquat auf den Gegenstand reflektiert, „reflektiert es nicht mehr auf sich und verliert die Fähigkeit zur Differenz“ (a.a.O. S. 199). Das Subjekt belehnt grenzenlos, „die Außenwelt, mit dem, was in ihm ist“ (ebd.). Das Subjekt glaubt, es wäre das Zentrum der Welt und kann so nichts als das eigene Unglück zwanghaft projizieren (vgl. ebd.). Dieser Mechanismus ist der Urgrund des Antisemitismus.

Die Juden werden zur identischen >Rasse<, zum Exemplar, mittels der Projektion des Eigenen: der Antisemit ahnt und verdrängt doch, daß er selbst längst >gleichgemacht< worden ist, daß an ihm wenig mehr ist als seine deutsche Herkunft, indem die Juden vernichtet werden, die nicht als reales Objekt wahrgenommen werden, wohl aber real sterben, wird diese Gleichmacherei ganz vollzogen, die gleichzeitig das antisemitische Subjekt quasi ganz auflöst (Rensmann 1998, S. 171).

Dass die Antisemiten ihre eigenen Vernichtungsgelüste auf die Juden projizieren, potenziert sich zum Verfolgungswahn, da man vor den ‚bösartigen’ Juden Angst hat. Dieser Wahn wird in der Zivilisation zur Normalität. Dabei löst „das normale Mitglied seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns“ (Horkheimer/Adorno 2003, S. 206).

Die siebente These ist deutlich von der Kenntnis der Vorgänge der Vernichtung geprägt. Diese These „scheint den Anspruch zu erheben, die anderen Thesen zu überholen und zu aktualisieren“ (Stein 2002, S. 129). Diese These beginnt gleich mit einem Widerspruch zu den ersten sechs – vor Kriegsende – geschriebenen Thesen: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr“ (Horkheimer/Adorno 2003, S. 209) schreiben Adorno und Horkheimer, darum wissend, dass sich nach Auschwitz niemand mehr selbst als Antisemiten bezeichnen würde. Umgekehrt benötigt der Antisemitismus, selbst ein Ticket-Denken, das aus einer Urteilsunfähigkeit und stereotypen Denken resultiert, keine konkrete Erfahrung mit ‚echten’ Juden. „Wenn die Massen das reaktionäre Ticket annehmen, das den Punkt gegen die Juden enthält, gehorchen sie sozialen Mechanismen, bei denen die Erfahrungen der Einzelnen mit Juden keine Rolle spielen“ (a.a.O. S. 210). Nicht aber erst das antisemitische Ticket ist antisemitisch, „sondern die Ticketmentalität überhaupt. Jene Wut auf die Differenz, die ihr teleologisch innewohnt, steht als Ressentiment der beherrschten Subjekte der Naturbeherrschung auf dem Sprung gegen die natürliche Minderheit“ “ (a.a.O. S. 217). Das ‚Ticket’, deren ideologischer Inhalt austauschbar ist, nimmt den Menschen die Notwendigkeit, eigenständig zu urteilen, ab, da von diesen ohnehin nichts als eine blinde Anpassung an die höchst arbeitsteilige Industriegesellschaft gefordert wird. „Realitätsgerechtigkeit, Anpassung an die Macht, ist nicht mehr Resultat eines dialektischen Prozesses zwischen Subjekt und Realität, sondern wird unmittelbar vom Räderwerk der Industrie hergestellt“ (a.a.O. S. 215). Das Subjekt passt sich völlig der gesellschaftlichen Verrücktheit an, ja es fällt mit dieser zusammen und wird somit als Subjekt ausgelöscht. Die vormalige Spannung zwischen dem Kollektiv und den Einzelnen wird vernichtet, „aber der ungetrübte Einklang zwischen Allmacht und Ohnmacht ist selber der unvermittelte Widerspruch, der absolute Gegensatz von Versöhnung“ (ebd.).

Kaum ein anderer Text hat das theoretische Niveau der ‚Elemente des Antisemitismus’ erreichen können (vgl. Rensmann 1998, S. 175). Dieser Text war der erste, der die verschiedenen konstitutiven Momente des Antisemitismus konsistent miteinander zu verbinden wusste. Nur mit dieser Theorie im Hinterkopf, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur angedeutet werden konnte, kann der Autoritarismus als Gegenstand der Forschung in der kritischen Theorie verstanden werden.

3.3 Auschwitz als Zäsur für die Kritische Theorie

Zentrales Moment jenes Umschlags in die Barbarei ist die Erfahrung des praktischen Destruktionspotentials, welches dem naturwissenschaftlichen Fortschritt innewohnt. Die Entfaltung der Produktionskraft und die technische Entwicklung der Industrialisierung machen eben nicht nur ein Leben jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung möglich, sondern schufen beispielsweise die technischen Möglichkeiten eines planmäßigen, systematisch organisierten Massenmord an den Juden. Ohne die Entwicklung von Zyklon B, ohne ein reibungslos funktionierendes Bahnsystem usw. wäre Auschwitz allein technisch gar nicht möglich gewesen und unterscheidet sich bereits hierin von den Pogromen des Mittelalters. Der Ursprung dieser Zerstörung von Vernunft sei, so referiert Dan Diner Horkheimer zustimmend, „die besondere Form herrschender Vernunft, eine Rationalität, die als Instrument, als Mittel zur Erlangung von Zwecken diene und sich so von einer umfassenderen, einer seinsgebundenen Vernunft abgelöst habe“ (Diner 1988, S. 39. f.). Inwiefern die Vernunft sich an die Kandare nehmen lässt, analysiert Horkheimer in ‚Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‚ (Horkheimer 1989) und weist dort deren negatives Potential nach. Das Resultat von instrumenteller Vernunft zeitigen die Nazis, denen es gelungen ist, „durch die im Schatten des Krieges vollzogene industrielle Massenvernichtung sogar das die westliche Zivilisation bestimmende Prinzip subjektiver Vernunft und Selbsterhaltung schrecklich zu widerlegen“ (Diner 1988, S. 42). Es bestätigt den instrumentellen Wahn der Vernunft, dass sich derartig Irrationales technisch rational organisierte (vgl. ebd.).

Das ohnehin prekäre Gleichgewicht von Produktions- und Destruktionskräften ist in Auschwitz letztendlich umgeschlagen in die „absolute Destruktion, die unmittelbare Produktion des Todes“ (Claussen 1988, S. 63).

Wie sehr die Shoa zur Zäsur für die Kritischen Theoretiker wird und wie tief greifend diese von dem Grauen berührt waren, ist in sehr vielen ihrer Schriften, Briefe und Reden nach dem Zweiten Weltkrieg – insbesondere bei Adorno – offenkundig[16]. So wenig spurlos wie der Massenmord an den Theoretikern vorbeiging, so sehr hat sich auch die Theorie selbst verändert. „War es einst Lust die Gesellschaft nach harter intellektueller Gangart zu durchschauen, weil dadurch Hoffnung auf Veränderung begründet werden konnte, wird die Last, Geschichte zu erinnern, mit dem Wissen größer, daß vor der Schuld des Verschontseins weder das Exil noch das Nachgeborensein schützt“ (Claussen 1988, S. 66).

1959 konstatiert Adorno in seinem vielzitierten Aufsatz ‚Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit’ eine Kontinuität vom Nationalsozialismus bis in die Gegenwart: „Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern“ (Adorno 1959, S. 10).

Das Ungeheuerliche, welches sich in Deutschland zutrug, ist mit der Zerschlagung des Nationalsozialismus nicht verschwunden; die objektiven Vorraussetzungen, die es ermöglichte bestehen fort. Die Kritischen Theoretiker ließen Zeit ihres Lebens nie davon ab, den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Herbert Marcuse, Franz Neumann und Otto Kirchheimer beispielsweise taten dies neben ihren theoretischen Anstrengungen auch praktisch, indem sie für den amerikanischen Geheimdienst bzw. das State Department arbeiteten, um aktiv die USA in ihrem Kampf gegen Nazi-Deutschland zu unterstützen. Eben auch jener Aspekt steht nicht im Widerspruch zu den theoretischen Arbeiten und Sozialforschungen des Instituts, sondern für die dialektische Verknüpfung von verschiedenen Arbeitsbereichen. Bezüglich dieser historisch interessanten Allianz in Form der Mitarbeit einiger Institutsmitglieder für die amerikanische Regierung gab es den Antifaschismus als Schnittpunkt. „Die politischen-intellektuellen Interessen des aus Deutschland vertriebenen >Instituts für Sozialforschung< und die Erkenntnisinteressen des amerikanischen Geheimdienstes trafen sich für einen kurzen Zeitraum. So kam es zu einer einmaligen Konstellation [...]“ (Claussen 1998, S.15).

Ein vereinigendes Anliegen aller Institutsmitglieder – ob nun im Staatsdienst in Washington, oder in Kalifornien, wo Adorno und Horkheimer zu dieser Zeit an der ‚Dialektik der Aufklärung’ arbeiteten – ist das, was Adorno später, als einen neuen Imperativ formulierte, welcher zwar oft zitiert wird, an der Alltagspraxis des Nachkriegs-Deutschlands jedoch vorbei gegangen ist: „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: Ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Adorno 2003a, S 358).

Dass jedoch, „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher [zu betrachten sei (C.U.)], denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie [Hervorh. i. Original]“ (Adorno 1959, S.10), wirft nicht nur einen Schatten darauf, dass die Bedingungen, die den Massenmord ermöglichten, fortbestehen, sondern auch das, wogegen sich Adornos Imperativ richtete, zwar bislang einzigartig blieb, aber eine Wiederholung dennoch nicht unmöglich ist.

Die Erklärung, warum jene Vernichtungspotentiale aktualisiert wurden, findet in der Kritischen Theorie auf verschiedenen – mit einander eng verwobenen – Ebenen statt. Zum einen wird der Umschlag in Barbarei, wie oben dargelegt, aus der ‚Dialektik der Aufklärung’ deduziert, zum anderen aus der Marxschen ‚Kritik der politischen Ökonomie’. Es wird festgestellt, dass die Vernichtung selbst, „Ausdruck einer überaus mächtigen gesellschaftlichen Tendenz“ (Adorno 1966a, S. 89) ist. Obwohl die Gründe objektiv sind, müssen andere Faktoren als die angegebenen hinzukommen, da beispielsweise in Großbritannien oder in den Vereinigten Staaten von Amerika etwas Vergleichbares unmöglich erscheint. Notwendig, um das Grauen zu erklären und um diesem vorzubeugen, ist daher eine ‚Wendung aufs Subjekt’ (vgl. a.a.O., S. 90), da die Möglichkeit, die objektiven Vorraussetzungen solcher Ereignisse zu verändern „heute aufs äußerste beschränkt ist“ (a.a.O. S. 89). Das, was zwanzig Jahre nach den ‚Studien zum autoritären Charakter’ in der ‚Erziehung nach Auschwitz’ gesagt wird, nämlich, dass man die Mechanismen erkennen muss, „die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden“ (a.a.O. S. 90), dass man ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen müsse und dass man zu verhindern trachten müsse, dass sie abermals so werden (vgl. ebd.), wirkt wie die nachträgliche Erklärung der Motivation zur Erforschung des Autoritarismus.

Hiermit wird jener Punkt angedeutet, der für das große Verdienst der Kritischen Theorie steht: für die Einbindung der Freudschen Psychoanalyse in den Marxismus, synthetisiert zur einer Kritischen Theorie der ganzen Gesellschaft. Wie dies theoretisch bewerkstelligt wird, soll nachfolgend erörtert werden.

4 Die Integration der Psychoanalyse in die Kritische Theorie der Gesellschaft

4.1 Die Notwendigkeit der Psychoanalyse zur Erklärung der Gesellschaft

Im vergangenen Kapitel wurden die Methodik und die Inhalte der Kritischen Theorie im Hinblick auf die Autoritarismusforschung dargestellt. Nun soll zunächst die theoretische Einbindung der Psychoanalyse in die Kritische Theorie in ihrer Frühphase dargestellt werden, auf deren theoretischen Fundament sich die Autoritarismusforschung der 30er und 40er Jahre bewegt. Besonders in der Frühphase der Theoriebildung der Frankfurter Schule fällt vor allem Erich Fromm die Aufgabe zu, den theoretischen Stillstand der Arbeiterbewegung und des Marxismus durch eine sozialpsychologische Erweiterung des historischen Materialismus zu überwinden. Die ausbleibenden Revolutionen im Westen, die ‚Stalinisierung’ der Revolution und die damit einhergehende Unterdrückung emanzipatorischer Bewegungen in der Sowjetunion, sowie der zunehmende Einfluss autoritärer und faschistischer Massenbewegungen in ganz Europa offenbaren ein theoretisches Defizit der Marxisten, die diese Phänomene mit ihren versteinerten Theorien nur unzureichend erklären konnten. Das Nicht-Eintreten der Revolution, welche das Proletariat als Motor aufgrund seiner Stellung im Produktionsprozess vorantreiben sollte, belegt nicht nur den theoretischen Bankrott dogmatischer Marxisten, sondern verlangt zusätzlich noch andere Erklärungen.

Horkheimer, der als Leiter des Instituts die inhaltlichen Rahmenrichtlinien für die Arbeit vorgibt, sucht die Gründe für das Handeln gegen die objektiv eigenen Interessen der Arbeiterschaft auf der Ebene irrationaler und emotionaler Bindekräfte, die eben nur durch eine „Psychologie des Unbewußten“ (Horkheimer 1988, S. 59) rational zu erfassen sind:

Dass die Menschen ökonomische Verhältnisse, über die ihre Kräfte und Bedürfnisse hinausgewachsen sind, aufrecht erhalten, anstatt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist (ebd.).

Um den Einfluss der verfälschenden Triebmotorik auf das Bewusstsein zu erkennen, ist es notwendig „die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken“ (ebd.). Dies meint aber nicht, dass gesellschaftliche Prozesse auf die Psyche des Individuums reduziert würden:

Der Psychologismus jeglicher Gestalt, der umstandslose Ansatz beim Individuum ist Ideologie. Er verzaubert die individualistische Form der Vergesellschaftung in eine außergesellschaftliche, naturhafte Bestimmung des Individuums. […] Sobald die in Wahrheit den Einzelspontaneitäten entrückten, zwischen abstrakten Subjekten anhängigen Prozesse aus der Seele erklärt werden, vermenschlicht man tröstlich das Verdinglichte (Adorno 1955, S. 56).

Die Psyche der Menschen kann also nur unter Einbeziehung gesellschaftlicher Wirklichkeiten analysiert werden; das heißt, der Gegenstand der Sozialpsychologie kann nur das Individuum unter den Bedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung sein. Alles andere wäre Ideologie und würde gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen der Menschen anthropologisieren.

4.2 Genese einer analytischen Sozialpsychologie

Mit einer Reihe von Aufsätzen, die zum Teil in der ‚Zeitschrift für Sozialforschung’ erschienen sind, entwirft Erich Fromm, der selbst praktizierender Psychoanalytiker und Dozent am Frankfurter Psychoanalytischen Institut[17] war, das Paradigma einer analytischen Sozialpsychologie. Grundlegend hierbei ist die dialektische Vermittlung von Individuum und Gesellschaft sowie analog hierzu; die zwischen Psychologie und Soziologie. Bereits 1929 weist Fromm die Psychoanalyse bei der Erklärung soziologischer Phänomene da in ihre Schranken, wo diese Antworten zu geben versucht, wo ökonomische, technische und politische Tatsachen die wirkliche und ausreichende Erklärung abgeben (vgl. Fromm 1929, S. 11). Dies bedeutet, dass die Psyche des Einzelnen durch mehr konstituiert wird, als eine isolierte Individualpsychologie zu erfassen vermag. In Anknüpfung an Marxs Postulat, der im Kapital schrieb: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“ (Marx 1985, S.21) weiß auch Fromm, dass der einzelne Mensch tatsächlich nur als „vergesellschafteter Mensch existiert“ (Fromm 1929, S.12). Sozialpsychologie meint hier nicht, wie es heute eher gefasst wird, dass die Psychologie von Gruppen untersucht wird, sondern das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft. Entgegen Freuds Präferenz von physiologischen Ätiologien von neurotischen Symptombildungen, die hereditär veranlagt seien, betont Fromm in seinem gleichnamigen Aufsatz viel stärker als Freud ‚die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie’ (Fromm 1935; hier vor allem S. 63 ff.). Es geht hier weniger um die Therapie neurotischer Symptome, sondern vielmehr um den Nachweis von deren objektiven Bedingungen und deren Abschaffung[18]. Dies vermag vor allem die Psycho analyse zu leisten, die analog der Erklärung irrationalen Handelns Einzelner „den Schlüssel zum Verständnis des oft ähnlich gelagerten gesellschaftlichen Handelns, des oft irrationalen politischen Geschehens liefern könne [Hervorh. i. Original (C.U.)]“ (Fromm 1931, S. 15). In Übereinstimmung mit den übrigen Mitgliedern des Instituts[19] geht Fromm davon aus, dass es triebbedingtes, unvernünftiges, zwanghaftes Handeln auch im gesellschaftlichen Leben gibt. Die Vermittlung der Psyche und der Gesellschaft, das „Herzstück der frühen Kritischen Theorie“ (Bierhoff 1993, S. 19), zeigt, dass einerseits die Psychologie mit vergesellschafteten Menschen zu tun hat und andererseits dass die Soziologie nicht die Gesellschaft zum Gegenstand hat, sondern mit einer Vielfalt von Einzelnen zu tun hat, deren seelische Struktur und Mechanismus von der Soziologie berücksichtigt werden müssten (vgl. Fromm 1932, S. 25).

Ein weiterer Aspekt der analytischen Sozialpsychologie beschäftigt sich mit der Frage, wie sich die psychischen Antriebe der Menschen (Triebstruktur bzw. libidinöse Struktur) mit den ökonomischen Bedingungen verbinden; also welchen Einfluss die Ökonomie auf die Psychen der Menschen hat und wie dies in die Gesellschaft rückwirkt (vgl. Bierhoff 1993, S. 20)[20]. Das Handeln der Einzelnen wird also nicht isoliert, sondern in Abhängigkeit von der Ökonomie betrachtet. Dies basiert auf einer Grundannahme des historischen Materialismus, die zugleich wesentlicher Schnittpunkt mit der analytischen Sozialpsychologie ist, „nämlich die, daß es die Menschen sind, die ihre Geschichte machen und daß die Menschen aus der Notwendigkeit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse heraus handeln“ (Fromm 1931, S.18). Laut Fromm habe der historische Materialismus nicht nur die Abhängigkeit der sozialen und politischen Tatbestände von den ökonomischen Bedingungen aufgezeigt, sondern auch die der ideologischen (vgl. ebd. f.). Wesentlich für die Sozialpsychologie ist die Triebstruktur als unter der Oberfläche liegender Motor gesellschaftlichen Handelns: „Analytische Sozialpsychologie heißt also: die Triebstruktur, die libidinöse, zum großen Teil unbewußte Haltung einer Gruppe aus ihrer sozial-ökonomischen Struktur heraus zu verstehen (im Original kursiv)“ (Fromm 1932, S. 26). Dies bedeutet, dass die konkrete Form der Triebe selbst, die Richtung und konkrete Objektwahl der libidinösen Energie durch die Ökonomie beeinflusst werden. Bei der Frage, was das falsche Ganze, also die gegenwärtige Gesellschaft, zusammenhält, kann weder bei den durchaus vehementen repressiven Machtapparaten (Justiz, Polizei), noch bei zweckrationalen und egoistischen Interessen als Begründung stehen geblieben werden, vielmehr müssten – so Fromm – die libidinösen Strebungen der Menschen hinzukommen, um ein Funktionieren der Gesellschaft zu garantieren (vgl. Fromm 1932, S. 32). „Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen“ (ebd.). Dieser Kitt funktioniere jedoch nicht zufällig, sondern „ist der Ausdruck der libidinösen Anpassung der Menschen an die ökonomisch notwendigen Lebensbedingungen“ (Fromm 1932, S. 33). Neben bestimmten ökonomischen, sozialen, politischen und geistigen Strukturen hat jede Gesellschaft auch eine spezifische libidinöse Struktur, welche wiederum selbst „[…]das Produkt der Einwirkung der sozial-ökonomischen Bedingungen auf die Triebtendenzen [ist]“ (a.a.O. S. 34).

Der Triebapparat, welcher durch die ökonomische Struktur bestimmt ist, ist daher bei veränderten äußeren Bedingungen auch modifizierbar. Er selbst ist zwar biologisch gegeben, aber dennoch weitgehend veränderbar, „den ökonomischen Bedingungen kommt die Rolle als primär formenden Faktoren zu [im Original kursiv]“ (a.a.O. S. 31). Bei kleinen Kindern, die ja außerhalb des Produktionsprozess stehen, sind es vor allem die Eltern, über welche jene äußeren Einflüsse das Kind prägen, da innerhalb der familialen Struktur selbst alle durch sie vertretenen Erziehungsideale ihrerseits vom gesellschaftlichen und klassenmäßigen Hintergrund der Familie bedingt sind (vgl. a.a.O. S. 27). Auf Grund ihrer Vermittlung gesellschaftlicher Einflüsse auf das Kind bezeichnet Fromm die Familie als die „psychologische Agentur der Gesellschaft und Klasse“ (a.a.O. S. 27). Sie ist das wesentlichste Medium, durch welches die ökonomische Situation ihren formenden Einfluss auf die Psyche des Einzelnen ausübt (vgl. a.a.O. S. 31). Die Aufgabe der Sozialpsychologie ist es daher, „die gemeinsamen – sozial relevanten – seelischen Haltungen und Ideologien – und insbesondere deren unbewußten Wurzeln – aus der Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen Strebungen zu erklären (im Original kursiv)“ (ebd.).

Nachdem nun die theoretischen Vorraussetzungen für die Verknüpfung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse so herausgestellt wurde, wie sie auch für die Autoritarismusforschung relevant ist, sollen nun in einem weiteren Exkurs einige Grundbegriffe der Psychoanalyse erklärt werden, da dies zum Verständnis psychoanalytisch fundierter Theorien wie die des autoritären Charakters notwendig ist.

Exkurs II: Grundbegriffe der Psychoanalyse

Aufgrund Freuds umfangreicher Theorien, die sich zum Teil (z. B. im Bezug auf die verschiedenen Triebarten) im Laufe der Zeit modifizierten, werden hier nur jene Aspekte der Psychoanalyse vorgestellt, die für den Gegenstand vorliegender Arbeit von Bedeutung sind.

Das große Verdienst der Psychoanalyse nach Freud ist zum einen der Nachweis, welche fundamentale Rolle dem Unbewussten beim Handeln zu kommt[21], zum anderen hatte Freud die Existenz non-genitaler und infantiler Sexualität sowie deren große Bedeutung belegt, welche von Geburt an bestehen würde. Vor allem die Existenz einer kindlichen Sexualität wurde in der Folgezeit von Freud-Kritikern immer wieder in Frage gestellt, da eine non-genitale Sexualität generell über deren Vorstellungsvermögen herauszugehen scheint.

Das topographische Modell

Über das Verhältnis vom Unbewussten und Bewussten und deren Bedeutung sagt Freud: „Die Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes ist die Grundvorraussetzung der Psychoanalyse […]. Die Psychoanalyse kann das Wesen des Psychischen nicht ins Bewußtsein verlegen, sondern muß das Bewußtsein als eine Qualität des Psychischen ansehen, die zu anderen Qualitäten hinzukommen oder wegbleiben mag“ (Freud 1923, S. 300 f.). Das Bewusstsein ist zunächst ein deskriptiver Terminus, „der sich auf die unmittelbarste und sicherste Wahrnehmung beruft“ (a.a.O. S. 301). Psychische Elemente wie Erinnerungen oder Vorstellungen sind normalerweise nicht dauerhaft bewusst. Wenn sie im Moment nicht bewusst sind, sondern unter geringeren Umständen ins Bewusstsein gebracht werden können, sind diese Vorstellungen und Erinnerungen nicht als unbewusste, sondern als vorbewusste zu bezeichnen. Das Unbewusste ist also weit komplexer; es geht um die Verarbeitung von Erfahrungen, in denen die seelische Dynamik eine Rolle spielt. Solche Vorstellungen können auch nicht bewusst gemacht werden, „weil eine gewisse Kraft sich dem widersetzt“ (a.a.O. S. 302). Gewisse Vorstellungen, die vom Bewusstsein ins Unbewusste verschoben werden, nennt Freud ‚Verdrängung’. „Die Kraft, welche die Verdrängung herbeigeführt und aufrechtgehalten hat“ (ebd.), wird von Freud als ‚Widerstand’ bezeichnet. In diesem auch topographisches Modell genannten Verhältnis vom Bewussten, Vorbewussten und Unbewussten werden die verschiedenen Formen von einer Art Zensor reguliert. Einmal Verdrängtes bleibt jedoch nicht im Unbewussten verborgen, sondern versucht auf verschiedenen Wegen mit unterschiedlichem Erfolg und einigen Modifikationen wieder an die Oberfläche zu kommen.

Das Instanzenmodell

Aus dem eben skizzierten topographischen Modell entstehende theoretische Unzulänglichkeiten kompensierte Freud mit dem Instanzenmodell, um überhaupt erst erklären zu können, wie Verdrängtes aus dem Unbewussten geholt werden kann oder warum verdrängt wird. Freud unterscheidet hier in drei Instanzen: Das Es, das Ich und das Über-Ich. Da die Instanzen und deren Verhältnis untereinander für die weitere Arbeit wichtig sein werden, wird nachfolgend eine umfangreiche Beschreibung Freuds zitiert, die diesen Sachverhalt auf den Punkt bringt:

Die älteste dieser psychischen Provinzen oder Instanzen nennen wir das Es; sein Inhalt ist alles, was ererbt, bei Geburt mitgebracht, konstitutionell festgelegt ist, vor allem also die aus der Körperorganisation stammenden Triebe, die hier einen ersten uns in seinen Formen unbekannten psychischen Ausdruck finden.

Unter dem Einfluß der uns umgebenden realen Außenwelt hat ein Teil des Es eine besondere Entwicklung erfahren, […] der nun zwischen Es und Außenwelt vermittelt. Diesem Bezirk unseres Seelenlebens lassen den Namen des Ichs.

[…] Es hat die Aufgabe der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach außen die Reize kennenlernt, Erfahrungen über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch Flucht), mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) und endlich lernt, die Außenwelt in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, indem es die Herrschaft über die Triebansprüche gewinnt, entscheidet, ob sie zur Befriedigung zugelassen werden sollen, diese Befriedigung auf die in der Außenwelt günstigen Zeiten und Umstände verschiebt oder ihre Erregungen überhaupt unterdrückt [Hervorh. i. Original (C.U.)] (Freud 1938, S. 7 f.).

Bereits hier deutet sich die höchst schwierige Aufgabe des Ichs bei der Meisterung der Realität einerseits und der eigenen Triebansprüche andererseits an. Das Ich, an welchem das Bewusstsein hängt, bewirkt die Verdrängungsleistungen von bestimmten Erinnerungen ins Unbewusste. Der Versuch Verdrängtes unter der psychischen Oberfläche, also im Unbewussten zu lassen, von wo es auszubrechen versucht, kostet das Ich viel Energie. Wie spannungsreich das Verhältnis vom Ich und Es ist, beschreibt Freud mit folgender Metapher, in der dieses Verhältnis mit dem eines Reiters zu seinem Pferd verglichen wird: „Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet sich allzu häufig der nicht ideale Fall, daß der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es selbst gehen will“ (Freud 1933, S. 514).

Wichtig für die Konstitution des Ichs ist neben den Kräften des Es die dritte intrapsychische Instanz: das Über-Ich:

Als Niederschlag der langen Kindheitsperiode, während der der werdende Mensch in Abhängigkeit von seinen Eltern lebt, bildet sich in seinem Ich eine besondere Instanz heraus, in der sich dieser elterliche Einfluß fortsetzt. Sie hat den Namen des Über-Ichs erhalten. Insofern dieses Über-Ich sich vom Ich sondert und sich ihm entgegenstellt, ist es eine dritte Macht, der das Ich Rechnung tragen muß [Hervorh. i. Original (C.U.)] (Freud 1953, S. 8).

[...]


[1] Mit ‚Kritische Theorie’ ist in vorliegender Arbeit das gemeint, was gelegentlich auch unter den Begriffen ‚Frühe Kritische Theorie’ oder ‚Klassische Kritische Theorie’ (vgl. Dubiel 1992) firmiert. Das Pendant, die ‚Späte Kritische Theorie’, die vor allem von Jürgen Habermas geprägt wurde, hat m.E. zu stark mit den kritischen Impulsen von Adorno, Horkheimer und den anderen Wissenschaftlern gebrochen, als dass diese ebenfalls unter ‚Kritische Theorie’ subsumiert werden könnte.

[2] Gewiss trifft dieser Vorwurf auch auf viele andere wissenschaftliche Disziplinen zu. Am Beispiel Paffraths soll nur stellvertretend für viele Wissenschaftler verschiedener Provenienz gezeigt werden, wie Elemente aus der Kritischen Theorie heraus gebrochen werden.

[3] So lautet der Untertitel.

[4] In Abgrenzung zum orthodoxen Marxismus sowjetischer Prägung werden eher philosophische Marx-Rezeptionen mit diesem Begriff bezeichnet.

[5] Im Gegensatz zu Friedrich Pollock und Henryk Grossmann, den beiden anderen möglichen Kandidaten und engeren Mitarbeitern Felix Weils und Grünbergs, die bereits als Kommunisten öffentlich in Erscheinung traten.

[6] Eine Klausel in der Institutskonstitution, die mit der Universität ausgehandelt wurde, besagt, dass nur Inhaber einer ordentlichen Professur die Leiterposition übernehmen dürfen.

[7] So der standesamtliche Name von Theodor Wiesengrund. Erst im Exil in den Vereinigten Staaten verzichtete er auf den Doppelnamen und nahm den heute eher bekannten Namen Theodor W. Adorno an.

[8] Franz Neumann behauptete noch 1944, dass seiner persönlichen Einschätzung nach, „das deutsche Volk, so paradox das auch erscheinen mag, noch das am wenigsten antisemitische sei“ (Neumann 1984, S. 159).
Auch Löwenthal gibt an, dass er einem alltäglich erfahrbaren Antisemitismus erst in Amerika begegnet sei (vgl. Löwenthal 1980, S. 35).
Auch Horkheimer schenkte dem Antisemitismus zunächst wenig Beachtung. In marxistischer Tradition reduzierte er dieses Phänomen mit ökonomistischen Begründungen. So zum Beispiel in ‚Die Juden und Europa’ (Horkheimer 1939) wo er den Antisemitismus zunächst eher utilitaristisch als Ablenkung von Herrschaft begreift. Der auch später von verschiedensten Rezipienten vielzitierte Satz, dass wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, auch vom Faschismus schweigen solle (vgl. Horkheimer 1939, S. 2), reduziert den Antisemitismus fast ausschließlich auf ein Instrument des Klassenkampfes und einen Aspekt der kapitalistischen Krise (vgl. Rensmann 1998, S. 28). „Demnach handelt es sich beim Antisemitismus im orthodox-marxistischen Sinn um ein unaufgeklärtes, falsches Bewußtsein, ein Überbau-Phänomen, das lediglich dazu dient, über Klassenantagonismen hinwegzutäuschen und gleichzeitig antikapitalistische Interessen umzulenken“ (ebd.). Basierend auf dieser Grundannahme folgten eine Reihe weiterer theoretischer Fehleinschätzungen über den Antisemitismus, die eigentlich für eher traditionelle Marxisten typisch waren/sind. So verkannten die Kritischen Theoretiker den Antisemitismus der Deutschen vor Auschwitz und schrieben 1939: „Während der Antisemitismus der Regierung bei den deutschen Volksmassen offene Empörung hervorruft, werden die Versprechungen des Antisemitismus gerade dort begierig aufgenommen, wo eine faschistische Machtübernahme nie versucht wurde“ (zit. nach Jay 1979, S. 442). Diner erklärt dieses theoretisches Manko in der frühen Kritischen Theorie damit, dass kein mit westlicher Vernunft ausgestatteter Verstand sich vor dem Eintritt jener Zäsur anheischig machen konnte, von ihr eine Vorstellung gehabt zu haben (vgl. Diner 1988, S. 33). Antisemitismus blieb in den ersten Jahren des Instituts mehr oder weniger kein relevantes Thema. Das wortwörtlich Unvorstellbare war eben nicht zu antizipieren. Horkheimer und seinen Mitarbeitern könne daher nicht der Vorwurf gemacht werden, „sie hätten den Faschismus in Deutschland nicht schon damals, in den 30er Jahren, als das Besondere, als Nationalsozialismus auf dem Weg nach Auschwitz erkannt“ (Diner 1988, S. 38). In diesem Essay stellt Diner den Bedeutungswandel des Antisemitismus in Horkheimers Theorie anhand einiger ausgewählter Texte überzeugend dar.

[9] Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung (Fromm 1983)

[10] Adorno wurde, wenngleich Mitarbeiter, erst 1937 in New York Vollmitglied des Instituts.

[11] Später im Exil in den USA und nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ist dieser Bezug aus taktischen Gründen verhaltener, aber dennoch wesentlicher Bestandteil der Theoriebildung.

14 Martin Jay nennt die ‚Elemente’ die „objektive Ergänzung des subjektiven Ansatzes der >Studies [in Prejudice (C.U.)]<“ (Jay 1979, S.447).

[13] Die ‚Dialektik der Aufklärung’ wurde 1944 verfasst und erst 1947 in Amsterdam veröffentlicht. Einzig die siebente These wurde erst kurz vor der Veröffentlichung entworfen. Inhaltlich ist diese These stark von der Erfahrung geprägt, dass nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus eine Rückkehr zur bürgerlichen Gesellschaft der Vorkriegsjahre unmöglich war.

[14] In der zweiten These scheint wieder ein altes Verständnis des Antisemitismus durch, insofern dieser als ein Instrument der Herrschenden begriffen wird, die mit ihm hantieren: „er [der Antisemitismus (C.U.)] wird als Ablenkung, billiges Korruptionsmittel, terroristisches Exempel verwandt. Die respektablen Rackets unterhalten ihn, und die irrespektablen üben ihn aus“ (a.a.O. S. 179).

[15] Gemeint ist hier, dass den Juden lange Zeit Handwerksberufe verwehrt blieben und sie daher vermehrt als Händler arbeiteten. Während die Nicht-Juden vermeintlich produktiv arbeiteten, assoziierten sie die Juden mit Geld, Schulden, Wucher und schließlich später mit der Zirkulationssphäre insgesamt. Vgl. hierzu Schatz/Woeldike 2001, S. 13 ff.

[16] Wie sehr die Vernichtung der Juden Europas Adorno getroffen hat, beschreibt er besonders in den ‚Minima Moralia’, in welchen in Aphorismen nicht nur zentrale Momente von Adornos Theorie zum Tragen kommen, sondern immer wieder autobiographische Elemente integriert werden.

Ein resignativer Grundton und ein eindringlicher Pessimismus bestimmen die Aphorismen angesichts des Grauen, welches die Deutschen begangen: „Der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben >normal< weitergehen oder gar die Kultur >wiederaufgebaut< werden könnte – als wäre nicht der Wiederaufbau von Kultur allein schon deren Negation -, ist idiotisch. Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur noch?“(Adorno 1986, S. 65). Die Verbrechen affizieren jeden Gedanken und lassen die Vergangenheit und Zukunft nicht unberührt. „Man kann nicht Auschwitz auf eine Analogie mit der Vernichtung der griechischen Stadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahme des Grauens, der gegenüber man den eigenen Seelenfrieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zuvor erfahrenen Marter und Erniedrigung der in Viehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit, in deren stumpfer und planloser Gewalt die wissenschaftlich ausgeheckte teleologisch bereits mit ausgeheckt war“ (Adorno 1986, S. 315).

[17] Das Frankfurter Psychoanalytische Institut (das zweite überhaupt, nach dem 1920 in Berlin entstandenen) kam aufgrund einer Reihe persönlicher Bekanntschaften von Erich Fromm, Frieda Reichmann (Fromms spätere Frau), Leo Löwenthal, Max Horkheimer und Karl Landauer in den Räumen des Instituts für Sozialforschung unter (vgl. Wiggershaus 1988, S. 69). Es war somit das erste psychoanalytische Institut mit einer –wenn auch lockeren – Anbindung an eine deutsche Universität (vgl. ebd.). Dass das Psychoanalytische Institut räumlich im Institut für Sozialforschung unterkommt, hat durchaus auch symbolischen Charakter für die Integration von Freuds Lehre in die Kritische Theorie.

[18] „Das quasi-neurotische Verhalten der Massen, das ein adäquates Reagieren auf aktuelle, reale, wenn auch schädliche und unzweckmäßige Lebensbedingungen ist, wird sich also nicht durch >Analysieren<, sondern nur durch die Veränderung und Beseitigung eben jener Lebensbedingungen >heilen< lassen. (Hervorh. i. Original)“ (Fromm 1931, S. 21)

[19] Zu diesem Zeitpunkt, also noch lange vor der Emigration, war Erich Fromm neben Horkheimer einer der wichtigsten Mitglieder im Institut. Besonders seine psychoanalytischen Beiträge waren von großer Bedeutung. Löwenthal bezeichnete Fromm später als „[...] sicher einen der wichtigsten Einflüsse [in der damaligen Zeit]“ (Löwenthal 1980, S. 60) und die Verbindung mit ihm sei „außerordentlich anregend“ (ebd.) gewesen.

[20] Fromm der später vor allem Freuds Annahmen zur Triebtheorie und Libidostruktur ‚revidierte’, bearbeitete diese Themen im Laufe der Zeit immer weniger und unter sich ändernden Vorzeichen. Nun sind es Marcuse (1969) und Adorno (1952), die sich nach Fromms Ausscheiden aus dem Institut, der Rolle der Triebe in der gesellschaftlichen Realität widmeten.

[21] Dies drückt sich beispielsweise in den so genannten Freudschen Fehlleitungen (Versprecher) oder in Träumen aus, wodurch die Existenz einer tiefer liegenden Bewusstseinsform offenbar wird.

Ende der Leseprobe aus 127 Seiten

Details

Titel
Die Kritische Theorie des Autoritarismus. Empirische Untersuchungen über Autorität und die Aktualität von Autoritarismus
Untertitel
Am Beispiel des Frankfurter Instituts für Sozialforschung
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Institut für Erziehungswissenschaften)
Note
2+
Autor
Jahr
2006
Seiten
127
Katalognummer
V65730
ISBN (eBook)
9783638582353
ISBN (Buch)
9783656800163
Dateigröße
918 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kritische, Theorie, Autoritarismus, Empirische, Untersuchungen, Autoritarismus, Frankfurter, Institut, Sozialforschung, Relevanz, Gegenwart
Arbeit zitieren
Christian Uhrheimer (Autor:in), 2006, Die Kritische Theorie des Autoritarismus. Empirische Untersuchungen über Autorität und die Aktualität von Autoritarismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65730

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