Paul Nizons Stolz - Das Leben verpassen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

17 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Paul Nizons Stolz: Mann ohne Eigenschaften auf der Flucht vor dem Leben
2.1 1. Teil: Warten auf das Leben
2.2 2. Teil: Die Leere
2.3 Motive, Symbolik und Sprache in Stolz

3 Schlußbemerkung

4 Bibliographie

Man lebt nicht, wenn man nicht für etwas lebt.

(Robert Walser)

Fürchte nicht, daß dein Leben enden wird, sondern fürchte lieber, daß es nie beginnen wird.

(John Henry Kardinal Newman)

1 Einleitung

Paul Nizons Roman Stolz erscheint 1975. Die Prosaerzählung berichtet in zwei Abschnitten von Iwan Stolz, dem „Lebenskandidaten“.[1] Der Leser begleitet Stolz von seiner Schulentlassung mit zwanzig bis zu seinem Tod mit fünfundzwanzig.

Im ersten Teil gibt Nizon Einblicke in ein Leben ohne „Ansichten und Aussichten“[2]. Der Protagonist Stolz trägt gerne Mäntel und empfindet seine ganze Lebenssituation wie Einkleidungen, „die ein anderer ohne sein Zutun für ihn vorgenommen hatte.“[3] Stolz befindet sich in einem dauerhaften Wartezustand, er wartet auf Ereignisse, ohne selbst zu handeln. Nizon verwendet das wiederkehrende Motiv des Zugfahrens als Metapher für diese Haltung Stolz‘ gegenüber seinem eigenen Leben. Stolz beobachtet vom Zugfenster aus die Veränderung der vorbeieilenden Landschaften und genießt diese Veränderung, die ohne sein Zutun geschieht.[4] Er verharrt sein Leben lang in der Position des Wartenden, als stiller Beobachter der Dinge, die da kommen mögen. So handelt der erste Teil des Romans davon, wie Stolz nach diversen Gelegenheitsarbeiten ein Kunststudium beginnt und in eine Ehe „hineinschlittert“.

Im zweiten Teil zieht sich Stolz in den Spessart zurück, um in der Abgeschiedenheit und fern der Familie eine Studiumsarbeit über van Gogh zu verfassen. Dabei erkennt er, daß er das Gegenteil des empathischen Malers ist, der die Berufung spürte, der Welt etwas zu hinterlassen. Die Passion van Goghs steht im direkten Gegensatz zu Stolz‘ Haltung. Schon zu Anfang des Romans drängt es Stolz, sich auszulöschen.[5] Durch die Erkenntnis seiner inneren Leere und die zunehmende Entfremdung seiner selbst schließlich legt er sich bei einem Waldspaziergang in den Schnee und erfriert.

2 Paul Nizons Stolz: Mann ohne Eigenschaften auf der Flucht vor dem Leben

2.1 1. Teil: Warten auf das Leben

Im ersten Teil gewinnt der Leser den Eindruck, die Romanfigur Stolz sei auf einer Suche; Kilchmann beschreibt dies als Lebenskrise.[6] Nach Beendigung seiner Schullaufbahn nimmt Stolz verschiedene Gelegenheitsarbeiten an, jedoch ohne einen Gedanken an eine möglicherweise erfüllende Tätigkeit zu verschwenden. Er kann sich nicht zu einem Studium durchringen, und so macht er sich während der Arbeit auf einer Baustelle einen Spaß daraus, „[...] die zu frischgebackenen Studenten avancierten Schulkameraden [...] nicht mehr zu kennen.“[7]

Der Verdacht eines Initiationromans drängt sich auf. Der junge Mann Iwan Stolz lebt in einem kahlen Zimmer nahe der Tramschienen: „Das Ächzen, Knirschen und gelegentliche Kreischen, das aus dem kalten Straßenschacht tönte, spürte er in den Gliedern, wie wenn er die Bahn wäre, die sich an den Schienen rieb und schliff.“[8] Stolz muß also noch geschliffen werden, dies wird an mehreren Formulierungen Nizons deutlich. Doch bald wird klar, daß Stolz‘ Suche nicht wirklich eine Suche oder eine Initiation ist. Schließlich macht er keine erkennbare Entwicklung durch, eine Initiation findet nicht statt. Eigentlich sehnt sich Stolz eben nicht nach sinnstiftendem Tun, nach einem sinnvollen Leben. Die Sehnsucht wäre eine aktive Haltung dem Leben gegenüber. Stolz aber hüllt sich in Leere, strebt nichts an und liebt es, unauffällig zu sein: „Er war jung, hatte keine Ansichten, keine Aussichten, spürte nur dieses Dehnen in sich, spürte es physisch wie Gliederreißen, manchmal quälend, aber trotzdem war es das Eigenste, das er in sich aufzuspüren verstand.“[9]

Was aber ist mit dem Dehnen gemeint? Eine Initiation würde die Suche nach etwas beinhalten, und zwar die Suche nach Sinn oder Erfahrung. Stolz macht gewisse Erfahrungen, die er aber nicht bewertet beziehungsweise für sich nicht zu nutzen versteht. Er ist vielmehr in einer Warteposition, wartet auf eine Wende, eine neue Erfahrung, und schließlich auch auf das Leben. Die Haltung des Wartens bestimmt Stolz‘ Befindlichkeit im Roman. Stolz lebt nicht im eigentlichen Sinne, stattdessen wartet er am Leben vorbei, weil er nichts mit sich anzufangen weiß. Er „schlittert“ in ein Studium, ohne vorher genau zu überlegen, wofür er es aufnimmt.

Stolz, so Spiegelberg, sei die „Geschichte einer gescheiterten Anpassung eines Einsamen, die Geschichte auch einer Depression, die mit dem Tode des 25-jährigen Iwan Stolz endet.“[10] Desweiteren benennt Spiegelberg Stolz‘ Defekt als Motivationslosigkeit. Doch das ist es nicht allein, es ist nicht fehlende Motivation, die Stolz so am Leben vorbei existieren läßt. Von vornherein ist Stolz nicht klar, worum es im Leben geht. Ihm fehlt scheinbar alles, was das Dasein eines am Leben beteiligten Menschen ausmacht. Er denkt nie über seine eigenen Schritte nach, überdenkt auch nicht den Sinn dessen, was er tut. Auch die Gedanken und Taten der ihn umgebenden Menschen hinterfragt er nicht. Stolz läßt keinen an sich heran, will nur in Ruhe gelassen werden und ist völlig ohne Motivation.

Die von Nizon verwandte Kleidermetapher macht diese Perspektivlosigkeit deutlich: „Seine ganzen Lebensumstände empfand er wie Einkleidungen, die ein anderer ohne sein Zutun für ihn vorgenommen hatte. Er lebte wie außerhalb derselben. Er schämte sich grundlos und viel. Er trug gerne Mäntel.“[11] Damit nicht genug: bei der Beschreibung eines Fotos von Stolz hebt Nizon hervor, daß der vom Romanhelden getragene Regenmantel schief an ihm herunterhängt und ihm zu groß ist. Er paßt nicht in seine Kleider, folglich paßt er nicht in das Leben - zumindest nicht in das konventionelle. Er lebt sogar nicht wirklich, man könnte vielmehr sagen: er existiert.

Ein gutes Beispiel für sein einfaches, schlichtes „Dasein“ oder „Existieren“ ist Stolz‘ Reise nach Kalabrien. Mit dem Ersparten aus seinen Gelegenheitsarbeiten reist er mit dem Zug in eine heiße „fremde Stadt“[12]. Eigentlich würde man einen sonnigen Urlaub erwarten, doch Stolz erscheint die Stadt gespenstisch und unwirklich:

Seine Augen brannten und sahen zuerst abwechselnd nur weißlohendes Licht und Schwärze. Über den großen Platz fegten und fetzten Gefährte, die er für Spuk hielt, weil er lange keinen Ton, kein Geräusch auszumachen imstande war. Alles schien rasende Bewegung, die aber vom Licht immerzu verzehrt wurde.[13]

[...]


[1] Kilchmann, Martin: „Das Leben schreiben“. Paul Nizons schriftstellerisches Werk als Spiegelung eines heutigen Poetenlebens. In: Paul Nizon. Hg. v. Martin Kilchmann. Suhrkamp Taschenbuch Materialien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985. S. 38.

[2] Siehe Paul Nizon: Stolz. 5. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. S. 8. (hiernach zitiert als Stolz)

[3] Stolz, S. 9.

[4] Siehe Stolz, z. B. S. 19.

[5] Siehe Stolz, S. 11.

[6] Stolz, S. 39.

[7] Paul Nizon: Stolz. 5. Auflage. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. S. 11.

[8] Stolz, S. 7.

[9] Stolz, S. 8.

[10] Spiegelberg, Sven: Diskurs in der Leere. Aufsätze zur aktuellen Literatur der Schweiz. Europäische Hochschulschriften (Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Band 1222). Bern: Verlag Peter Lang 1990. S. 101.

[11] Stolz, S. 9f.

[12] Stolz, S. 13.

[13] Stolz, S. 13-14.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Paul Nizons Stolz - Das Leben verpassen
Hochschule
Universität Paderborn  (Germanistik)
Veranstaltung
Paul Nizon, Stolz
Autor
Jahr
2000
Seiten
17
Katalognummer
V6573
ISBN (eBook)
9783638141130
Dateigröße
491 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paul Nizon, Stolz
Arbeit zitieren
Daniela Esser (Autor:in), 2000, Paul Nizons Stolz - Das Leben verpassen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/6573

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