Das Phänomen Sammeln: Zur Kultivierung des Sammeln in der Schule


Examensarbeit, 2005

102 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Zur Entwicklung des Phänomen Sammeln
2.1 Anthropologie des Sammelns
2.2 Geschichte
2.2.1 Reliquienschätze des 12. – 15. Jahrhunderts
2.2.2 Die Kunst- und Wunderkammern des 15.-18. Jahrhunderts
2.2.3 Bürgerliche Sammlungen und erste öffentliche Museen des 18. - 19. Jahrhunderts
2.2.4 Staatliche Museen des 20. - 21. Jahrhunderts

3 Zur Kultur des Sammelns
3.1 Sammlertypen
3.2 Formen der Sammeltätigkeit
3.3 Sammelobjekte
3.4 Zur Funktion des Sammelns: Psychologische Perspektiven
3.5 Pathologische Aspekte des Sammelns

4 Zum Sammeln der Kinder
4.1 Entwicklung des kindlichen Sammelns
4.2 Formen und Objekte kindlichen Sammelns
4.3 Funktionen des kindlichen Sammelns

5 Zum Sammeln in der Schule (Aspekte kindlicher Entwicklung in der Grundschule)
5.1 Argumente für und wider das Sammeln in der Schule
5.2 Sammeln als Didaktik
5.3 Sammeln als Gegenstand

6 Schlussbetrachtung und Ausblick

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Als Justus Jonas, der erste Detektiv der drei Fragezeichen, zu seinem Onkel auf den Schrottplatz zieht, hat der ihm ein Zimmer eingerichtet. Darin steht ein Bett mit einem angeschraubten Nachtkästchen, das sei für die Unterbringung seiner Sammlung gedacht, erklärt der Onkel. „Welche Sammlung“ fragt Justus. „Na, jeder sammelt doch irgendetwas, Schmetterlinge oder Käfer oder Modellautos“, antwortet sein Onkel. Der erste Detektiv muss lange überlegen bis ihm seine Sammlung einfällt: er sammelt mit seinen Detektivkollegen Fälle, also selbst gelöste Geheimnisse. Die werden dann zu den einzelnen Bänden und Kassetten der Serie Die drei Fragezeichen.

Als ich die Stelle mit dem Nachtschränkchen im ersten Buch der Detektivserie las, konnte ich nicht verstehen, warum Justus noch überlegen musste, was er sammelte. Mich beschäftigte daraufhin eher die Frage, welche meiner vielen Sammlungen Einzug in das Nachtschränkchen gehalten hätte. So ein „geheimer Ort“ in Bettnähe wäre mir sehr gelegen gekommen, um meine Kostbarkeiten aufzubewahren. Wahrscheinlich hätten mehrere Sammlungen darin Platz gefunden, denn zwar waren sie alle in meinen Augen kostbar, meist aber nur von geringer Größe. Mit einer Ausnahme, meiner Sammlung von Drei Fragezeichen Büchern und Kassetten.

Zum Stand der Forschung ist zu bemerken, dass allgemein bereits sehr viele Publikationen zum Sammeln veröffentlicht wurden. In der Kulturwissenschaft erschienen viele Beiträge über das Phänomen Sammeln, meist mit Konzentration auf einen historischen Typus der Sammlung: die Kunst- und Wunderkammer der frühen Neuzeit.[1] Psychoanalytische Forschung zum Sammeln veröffentlichte Werner Muensterberger in seinem Buch Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft. Im Zuge meiner Recherchen bin ich auch auf eine große Anzahl philosophischer Abhandlungen zum Thema gestoßen. Nur mit dem Sammeln in der Kindheit und der schultheoretischen Bedeutung des Sammelns befasst sich lediglich eine nicht allzu große Menge an Zeitschriftenbeiträgen. Viele Publikationen zur pädagogischen Bedeutung des Sammelns beruhen, laut ihrer Autoren, auf Hypothesen oder Befragungen von SchülerInnen.

Das Sammeln hat der Menschheit vor der Sesshaftigkeit als Existenzsicherung gedient. Heute ist dies nur noch selten der Fall: es überwiegt der Bedeutungsaspekt der gesammelten Gegenstände vor dem Gebrauchsaspekt.[2] Sammeln dient der Kulturaneignung, der Wissensgenerierung, der Klassifizierung und dem Erstellen von Ordnungen, der Sicherung von Kulturgut, ist Teil unseres Freizeitbereichs oder ästhetischen Bedürfnises, künstlerische Technik oder auch Tätigkeit der Kinder.

Eine Anmerkung zur Unterscheidung von Sammlungen und Ansammlungen: In einer Sammlung, im Unterschied zur Ansammlung, sind die Dinge aufeinander bezogen. Sie haben eine Ordnung, die sich auf einen Gestaltungswillen zurückführen lässt.

Das Phänomen Sammeln hat für viele Menschen auch eine persönliche Bedeutung in ihrem Leben. In meinem Bekanntenkreis stellte sich bei Gesprächen über das Thema heraus, dass fast jeder etwas sammelt. In den meisten Fällen war nicht nur eine Sammlung vorhanden, die mehr oder weniger intensiv gepflegt, aufbewahrt und erweitert wird. Aus der Kindheit stammten erfahrungsgemäß die lebhaftesten Erinnerungen an frühere Sammlungen, von denen häufig mehr erzählt wurde als von aktuell bestehenden. Man könnte übertrieben formulieren: „Wer aus seiner Kindheit kein Sammelerlebnis kennt, hat ein schlechtes Gedächtnis oder aber sehr viel versäumt.“[3] Dass die Leidenschaft Sammlungen anzulegen im Grundschulalter besonders ausgeprägt ist, konnte ich auch bereits während meines ersten Praktikums in einer Grundschule feststellen. Nachdem wir in der Klasse über Museen und Sammlungen gesprochen hatten, verging kein Tag, an dem nicht ein Schüler seine Sammlung mit in die Schule brachte und ausführlich von ihr erzählte.

Bereits zu diesem Zeitpunkt stellte sich mir die Frage, ob, und falls ja, wie man diese Tätigkeit für den Unterricht nutzen kann.

Ziel dieser wissenschaftlichen Hausarbeit ist es, die geschichtliche Entwicklung des Sammelns aufzuzeigen, das Phänomen des Sammelns zu durchleuchten und schließlich auf seine Qualitäten hinsichtlich einer sinnvollen Einbindung in den Unterricht an der Grundschule zu untersuchen.

In der ersten Hälfte meiner Arbeit werde ich mich mit den Ursprüngen des Sammelns beschäftigen, mit den anthropologischen und geschichtlichen Aspekten. Über unterschiedliche Sammlertypen, ihre Objekte und die verschiedenen Formen zu Sammeln, komme ich zur Funktion des Sammelns und ihrer psychoanalytischen Betrachtung bis hin zu krankhaften Aspekten der Sammelleidenschaft, denn wie schon Fontane bemerkte, ist „alles Sammeln […] überhaupt verrückt.“

Die zweite Hälfte der Arbeit beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Sammeln der Kinder, ihrer Entwicklung bezüglich sammlungsrelevanter Funktionen sowie den Gegenständen und Formen ihrer Sammlung. Hierbei soll der Unterschied zwischen offenen und kommerziellen Sammlungen sowie die Bedeutung von Objekten für Kinder untersucht werden. Weiter befasse ich mich mit den Beweggründen der Kinder, eine Sammlung anzulegen und deren lernpsychologischer Funktion. Von diesem Punkt aus soll auf die Schule eingegangen werden und auf die Frage, wie und ob sich das Sammeln sinnvoll in den Unterricht integrieren lässt. Hierbei gehe ich auf die Positionen der Gegner und der Fürsprecher des Sammelns in der Schule ein, um dann zu versuchen, eine Unterscheidung zwischen den didaktischen und gegenstandsbezogenen Aspekten des Sammelns zu treffen. In der Schlussbetrachtung werde ich mich dann den Möglichkeiten einer Einbindung des Phänomens Sammeln in den Grundschulunterricht widmen.

Abbildung 1: Meine drei Fragezeichen-Kassettensammlung Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2 Zur Entwicklung des Phänomen Sammeln

2.1 Anthropologie des Sammelns

In vielen Publikationen über das Sammeln findet sich keine ausführliche Abhandlung über die Kultur der Jäger und Sammler. Fast ausnahmslos wird hingegen im Zusammenhang mit den Ursachen unserer Sammeltätigkeit auf die Rolle dieser Kultur für die Entwicklung und Kultivierung des „modernen“ Menschen hingewiesen.[4] Da die Aktivität des Sammelns auch heute noch Teil unseres Handlungsrepertoires ist - in einer Zeit, in der wir nicht mehr Lebensmittel anhäufen müssen, um zu überleben (allein in Deutschland haben 98% der Haushalte einen Kühlschrank)[5] - scheint diese Beschäftigung für den Menschen in der heutigen Zeit noch eine andere Bedeutung zu haben. In dem ausführlichen Werk zur Anthropologie des Sammelns stellt Scholz zu dieser Frage fest:

Das [….] Sammeln hat seine handlungsbezogene Ursächlichkeit in frühester Vorzeit, […] dies findet [aber] mit dem bloßen Hinweis auf „Sammler und Jäger“ keine einleuchtende Erklärung, wo etwas so „früh“ ins Gattungsleben eintritt, müssen die Wirkungen weitreichend [sic] sein.[6]

Sammeln ist immer eine Frage nach den Dingen, bzw. „ den Verhältnissen und Beziehungen von Menschen zu Dingen“[7]. Während der Neolithischen Revolution[8], als aus umherziehenden Jägern und Sammlern sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter wurden[9], stellte die Tätigkeit des Sammelns einen bedeutenden Aspekt der menschlichen Kultur dar. In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit setzte sich der Homo sapiens gegenüber anderen Hominiden durch. Vielleicht lag der Vorteil, der sein Überleben sicherte, im Umgang und im Verhältnis zu den Dingen. Der Begriff des Sammelns soll im Folgenden auf seine mutmaßliche Ursache in der Entwicklung des Menschen zurückgeführt werden. Möglicherweise verhilft mir die Sicht auf den „frühen Menschen“ dazu, Rückschlüsse auf das kindliche Sammeln zu ziehen und mögliche entwicklungsgeschichtliche Hintergründe für Sammlungen zu erkunden.

Der Mangel

Dass der Mensch sich auf der Erde behaupten konnte und sich entwickelte, verdankt er seiner genetischen Veranlagung zum Hordenwesen. Das überlebensnotwendige Zusammenleben bildet einen Raum des Schutzes in emotionaler und sozialer Hinsicht, der die Entwicklung des menschlichen Handelns erst ermöglichte.[10] Die Natur wird in diesem Zusammenhang als monumentale Bedrohung wahrgenommen, der Mensch ist ihr, selbst in seiner Horde, direkt ausgeliefert.

Zu Beginn des Sammelns muss die Erkenntnis stehen, dass mehrere zusammengetragene Dinge eine andere Qualität haben als durch Raum oder Zeit getrennte Einzelobjekte. Wild muss gejagt werden und Beeren, Früchte und Kräuter müssen gesammelt werden. Die Nahrung soll für die ganze Horde ausreichend sein und innerhalb der Gruppe geteilt werden.

Die positive Erfahrung von vereinzeltem Überfluss „wird als Wiederholungsverlangen reizwirksam und zielbildend [sic]“.[11] So wird die Findigkeit bei der Vermeidung von Mangelsituationen das Lernvermögen aktiviert haben. Das Sammeln diente so einer Absicherung der Horde und stellte eine Entlastung im Existenzkampf des frühen Menschen dar. Mit dem Anlegen von Vorräten, in welchem Ausmaß auch immer, gehen materielle Vorteile und soziale Fähigkeiten einher. Neben Techniken der Konservierung muss eine gerechte Verteilung der Vorräte, Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten geregelt werden. Von einer ausgeprägten Vorratshaltung, so wie wir sie heute kennen, kann erst nach beginnender Sesshaftigkeit die Rede sein.[12]

Eine Auswahl zu treffen zwischen verschiedenen Dingen oder Handlungsweisen setzt die Fähigkeit voraus, unterscheiden und vergleichen zu können. Hierfür wird zusätzlich noch ein Überschusspotential benötigt, nämlich an Zeit und Objekten. So werden bei ausreichender Auswahl und ohne Zeitdruck nur die zweckdienlichsten Steine zum Werkzeugbau verwendet oder nur die reifen Beeren gegessen.

Die Neugierde

Durch die Geborgenheit im Binnenraum der Gruppe wird es dem Menschen möglich, der Natur auf eine andere, neugierige Art zu begegnen. Durch den sozialen Verbund werden die einzelnen Mitglieder mental und zeitlich entlastet, dadurch entsteht die Möglichkeit der Wahrnehmung neuer und fremder Erfahrungen. Neugierde beginnt das menschliche Verhalten zu bereichern, „die Welt [wird] in ihren Qualitäten erfasst, […] der mentale und emotionale Binnenraum des menschlichen Wesen[s] [wird] geöffnet für Begehren und Wunsch“.[13]

Die Aufmerksamkeit für einen Gegenstand kann sich festmachen an dessen Gestalt, seinen Materialeigenschaften, seinen Besonderheiten oder dessen „Schönheit“. Der rund geschliffene Stein, die farbenprächtige Blume oder eine besonders große Frucht. Wo ein Stein oder eine Blume eine solche Aufmerksamkeit erfahren, für wert empfunden werden, sich damit zu befassen, werden mehrere Exemplare folgen, obwohl nicht für die Existenzsicherung notwendig.[14] Die Dinge werden durch die eingebrachte Aufmerksamkeit des Menschen mit Bedeutung „aufgeladen“.

Das Sakrale

Irgendwann wird der Mensch die Welt als nicht mehr „mit sich eins“ betrachtet haben. Die Natur mit ihrer ganzen klimatischen Gewalt und Energie wurde zum Gegenüber der eigenen Person, welches man nicht berechnen kann. Unsicherheit und Furcht werden die Folge gewesen sein. Um sich mit dieser Angst zu arrangieren, wird das furchteinflößend Fremde mit den vertrauten, bekannten Objekten verbunden.[15] So entsteht aus dem Unbegreiflichen, im rituellen Nachvollzug, für die Menschen eine neue Vertrautheit.[16] Es ist davon auszugehen, dass schon sehr früh Objekte im Zentrum ritueller Handlungen standen. Dies zeigt vor allem die frühgeschichtliche Grabkultur.[17] Vor einem kultisch-religiösen Hintergrund sammelten bereits die Pharaonen der ersten Dynastie um 3000 v. Chr. Beigaben für ihre Gräber.[18] Andere Quellen verweisen auf Funde, die zeitlich noch früher anzusiedeln sind.[19]

Rituelle Objekte sind Dinge, die als Zeichen oder Quelle von Kraft und höchster Potenz dienen. Diese Eigenschaften sind in einem bestimmen Gegenstand versammelt: An solche Objekte knüpft sich die Erfahrung, dass Dinge über Macht verfügen können und mit ihnen irgendwann auch ihr Besitzer. Solche Objekte werden bewahrt, gepflegt und geschützt, sie sollen helfen, die menschliche Gemeinde zu schützen. Als erste „menschliche“ Dinge werden sie wohl über Generationen hinweg erhalten worden sein. In der sozialen Gemeinschaft vermögen die sakralen Gegenstände zu zentrieren und zu vereinen.

Allen sakralen Objekten wohnt eine transzendentale Mittlerfunktion inne, anders als den Objekten, die nützlich sind: Ihre Funktion als Mittler beschränkt sich darauf, Verlängerung der Hände zu sein. Rituelle Gegenstände hingegen sind abgelöst von einer konkreten Gebrauchsfähigkeit und werden in neue soziale Zusammenhänge und veränderte Zwecke eingebunden.

Die ursprüngliche, verbundene Welt ist nun geteilt in Objekte mit einer Nützlichkeit und Objekte mit einer Bedeutsamkeit und Repräsentanz.[20] Je mehr Bedeutung ein Gegenstand aufweist, desto größer ist sein Wert und desto weniger interessiert man sich für seine Nützlichkeit.[21]

Die Gestaltung

Nachdem Dinge von den Menschen aufgesammelt wurden, konnten sie zweckhaft geformt (Steine als Werkzeuge, Felle als Wetterschutz, etc.) oder über eine zweckhafte Notwendigkeit hinaus gestaltet und geschmückt werden.

Wahrscheinlich wurde zuerst der Körper des Menschen selbst zum Objekt der Gestaltung, durch Hervorhebung von Körperteilen oder Verwandlung, durch Übernahme von auffälligen Attributen aus der Pflanzen- oder Tierwelt. Der Mensch tritt so aus seiner Umgebung heraus und macht sich zu etwas Besonderem, er wird unterscheidbarer, hebt sich aus der Gruppe hervor und zieht so Aufmerksamkeit auf sich.

Der schöpferische Ausdruck der frühen Menschen war unmittelbar in deren Existenzverlauf eingebunden und somit eher nicht dauerhafter Art. (bemalte Haut, Linien und Zeichen in Sand und Erde, etc.) Insofern stellen alle Funde, die uns erhalten sind, rare Besonderheiten dar.

Die Objekte werden durch den Menschen gestalterisch aufgeladen, indem er sich selbst einbringt in die Handlung an der Materie und „Markierungen“ anbringt.[22] Das Objekt wird zum Träger einer Botschaft, erfährt durch die menschliche Bearbeitung eine Anreicherung und kann so zum Zeichen werden, das mehr ist als ein bloßer Gegenstand.

Ein Grund für das Gestaltungsbegehren lässt sich in dem spielerischen und der Neugier entspringenden Objektverhältnis finden, durch Reiz und Anziehung der Gegenstände. Die Anmutung auffällig geformter, eigentümlicher, bemerkenswerter, bunter, gleichartiger, seltener, etc. Objekte, ist Reiz genug, sich mit ihnen zu befassen. Erst die direkte haptische Aneignung ermöglicht eine tiefer gehende innere Auseinandersetzung mit den Dingen, durch Greifen, in die Hand nehmen, drehen und wenden, etc.[23]

Früher oder später wird sich im Umgang mit den Gegenständen herausgestellt haben, dass gerade durch die Verbindung mehrerer gleichartiger Dinge etwas schmückendes Neues entsteht. Ab diesem Moment wurden dann Federn zu Büscheln gefasst oder Muscheln zur Kette aufgereiht. Das Mehrfache eines Dinges vermag dessen „Gewicht“ zu steigern und die Nachdrücklichkeit eines Zeichens zu erhöhen.

Die Gestalt eines Gegenstandes geht nun mit einer gefühlsbezogenen Besetzung einher, zum Gefälligen und Nützlichen kommen Freude und Neid, Bewunderung, Eitelkeit und Erfurcht. Diese Darstellung legt nahe, dass die „Dinge“ eine zentrale und ursächliche Rolle in der Entstehung und dem Fortschreiten des Sozialwesens Mensch spielen und über ihren Wert und ihre Sinnqualität seine emotionale Welt anreichern und formen.[24]

Der Tausch

Mit Beginn der Sesshaftigkeit werden die angesammelten Dinge nicht nur zahlreicher, sondern auch in ihrer Art vielfältiger und differenzierter. Die Gegenstände stammen nun nicht mehr unbedingt aus dem eigenen, begrenzten Umfeld. Sie bilden ein besonderes Wertverhältnis zum Menschen, nicht nur durch ihre Qualitäten, sondern vor allem durch das Näheverhältnis des Eigentums. Der Besitz und die Anhäufung von Dingen erleichterten sich grundlegend mit der Sesshaftigkeit. Die gesteigerte Produktivität durch Ackerbau, Viehzucht und Handwerk begünstigt den Güteraustausch. Bei dem Tausch von Dingen muss das Tauschgut einen für jeden akzeptierten Eigner haben, der auch die Absicht hat, sich von ihm zu trennen. Es müssen sich zwei Interessenten finden, die das jeweilig andere brauchen oder begehren. Für einen Handel muss eine Einigung erzielt werden über Menge und Anzahl oder Güte. Wenn Menschen etwas Fremdes ihr Eigen machen wollen, dann besitzen sie eine Haltung dazu, was für sie als Objekt notwendig, brauchbar, wichtig, schön, begehrenswert ist oder einen symbolischen Wert hat. Der Tauschende muss, um das jeweils andere Gut zu erlangen, entsprechend viel anhäufen, um die mutmaßliche „Tausch-Schwelle“ zu erreichen. Dies erfordert Weitblick und Zielstrebigkeit, gleichzeitig Zurückhaltung und Beschränkung.

Fraglich ist, ob die Anfänge des Tausches im Zufälligen liegen oder ob die Ursprünge in räuberischer Aneignung bestanden, der Tausch von Gegenständen wird schon in frühester Zeit zum wiederholten Ereignis.[25] Nicht sofort, aber später verbinden sich mit dem Tausch ein definierter Ort, bestimmte Bräuche, feste Zeiten und besondere Personen.

Die Begebenheit des Güteraustauschs dient der Kommunikation der Menschen untereinander und schafft die Möglichkeit eines sozialen Miteinanders.[26]

Im weitesten Sinne sind rituelle Opfergaben auch Tauschwaren, als Gegenleistung wird für sie die Gunst der Götter erhofft und erwartet.

Während bei einem Tausch von Dingen nach einer Gabe eine „Gegengabe“ erwartet wird, ist die Schenkung eine einseitige Handlung. Gerade wenn es sich um Gegenständliches handelt, ist die Schenkung eine offensive Gebärde, ein aktives Zugehen auf ein Gegenüber, begleitet von einem emotionalen Einsatz. Ziel, bzw. die erhoffte Wirkung, ist, eine Verbindung mit dem Anderen herzustellen. Durch Geschenke können Differenzen und Distanzen überwunden werden, sie stützen die Ausbildung von Emotionen und fördern damit die soziale Verbundenheit.[27]

Das Anhäufen von Objekten - ob durch Tausch, Raub oder Funde - kann die Funktion haben, die soziale Stellung des Betroffenen hervorzuheben, sie zu stützen und zu legitimieren. Mit dem Horten geht ein Gewinn an Prestige, Rang und Würde einher. Sammlungen von stofflichen Objekten wurden früh zu Insignien von Macht und Führerschaft.

Im Bezug auf die gegenständliche Welt wird ein Muster erkennbar: um seiner eigenen Abhängigkeit von der Natur mit der Erfahrung von Mangel und Begrenztheit zu begegnen, sucht der Mensch das Gegenteil, den stofflichen Überfluss. „Der Mensch versucht, seiner „in-die-Welt- Geworfenheit“ Paroli zu bieten“.[28]

Die Anziehung

Wenn die Nützlichkeit eines Objektes nicht mehr der einzige Grund ist, sich mit ihm zu befassen, muss es noch andere Handlungsanreize geben: es muss etwas ähnliches wie ein Versprechen in stofflichen Dingen liegen. Ein Versprechen, welches eine Entlastung von Sorgen, eine Befriedigung der Suche nach Fülle im Leben oder eine Stützung des Bedürfnisses nach Teilhabe erhoffen lässt. Die sinnliche Seite eines Objekts, mit seinen Geräuschen, seiner Handhabung und Eindrücklichkeit, gewinnt an Gewicht. Durch diese Objektanziehung wird die emotionale Ausrüstung des Menschen nachhaltig beeinflusst, indem Gegenstände zu sozialen Mitteln werden, formen sie die Beziehung zwischen den Menschen. Neben dem Trieb zur Selbsterhaltung spielt nun auch der sinnliche Reiz der Gegenstände eine Rolle.[29]

Im Zusammenhang mit der Anziehung von Objekten fragt Schloz in seinem Buch zur Anthropologie des Sammelns nach dem Sammeltrieb. Gibt es einen Sammelinstinkt, eine Zwanghaftigkeit im Handeln? Wohl nicht einseitig, im Sinne einer existentiellen Selbsterhaltung, aber durchaus im Sinne eines „getrieben seins“[30], als langfristig ausgerichtete Begierde. Stünde der Gier Dinge anzuhäufen nicht die Aussicht auf eine wahrscheinliche Belohnung gegenüber, wie sinnliche Eindrücke, Macht oder Anerkennung, könnte sie sich gesellschaftlich wahrscheinlich nicht durchsetzen und hätte kaum solche Wirksamkeit erlangt.[31]

Die Nutzung von Gegenständen eröffnete dem Menschen mehr und mehr eine Sonderstellung auf der Erde. Das Sammeln in seinen unterschiedlichen Formen und Ausprägungen stellt eine tätige Geste gegenüber der dinglich vorhandenen Welt dar. Es macht den Menschen zu einem Gestalter dieser, indem er deren Objekte zu nutzen sucht und dadurch die Welt und sich selbst verändert.

In der Beziehung zu den Gegenständen gibt es also insgesamt unterschiedliche Wertigkeiten: den Gebrauchs- und Nutzwert, den Bedeutungs- und Symbolwert, den Wert als selbstbezogene innere Erfahrung und soziales Bindeglied sowie den Tauschwert.

2.2 Geschichte

Diese Ausführung hat zum Ziel, die Geschichte des bewahrenden und musealen Sammelns anschaulich zu machen und verschiedene Formen und Methoden des Sammelns, vom ungeordneten Sammelsurium bis zur wissenschaftlichen Schausammlung, darzustellen.

Wie bereits oben beschrieben, kann man frühste, historisch fassbare Sammeltätigkeit ab der Neolithischen Revolution in Form von Grabbeigaben nachweisen. Diese Form des Sammelns erfolgte vor einem kultisch-religiösen Hintergrund, persönlich motiviertes Sammeln dürfte man zu dieser Zeit noch nicht angetroffen haben.[32]

Die ersten privaten Sammler sind ab 600 v. Chr. bekannt: Polykrates von Samos und der Tragiker Euripides. Nach Berichten von Archäologen handelte es sich bei ihren Sammlungen um Anhäufungen von Kunstwerken aller Art.[33]

Mit Alexander dem Großen (356-323 v. Chr.) beginnt die Zeit, in der das Kunst-Sammeln für Herrscher allgemein üblich wird. Sein Sammeln hatte eine egozentrische Note, er liebte Malerei, die ihn selbst zeigte und Statuen, die ihn selbst darstellten.[34]

In der Zeit der Römer wurde das Kunst-Sammeln zum Prestige-Maßstab. Durch Eroberungen und Belagerungen (ab ca. 212 v. Chr.) eigneten sie sich griechische Kunst an. Seitdem beraubten die Römer fast systematisch angrenzende Länder um deren Kunstschätze. In Rom stand so die Kriegsbeute am Ursprung der Privatsammlungen.[35]

Durch ihre aufstrebende wirtschaftliche und politische Macht verstärkte sich die Vorliebe der Römer, in Prunksucht zu leben. Öffentliche Plätze wurden mit Statuen und Bildsäulen versehen, Privatvillen und Gärten mit Kunstgegenständen angefüllt.[36] In dieser Zeit war die Mode des Sammelns derart verbreitet, dass sogar Grundrisse für den Hausbau eigene Orte vorsahen, um Gemälde und Skulpturen unterzubringen.[37] Sammlungen, so scheint es, dienten hier nicht der Liebe zur Kunst, sondern eher als Statussymbol. Julius Cäsar wird ebenfalls als leidenschaftlicher Sammler beschrieben, der sogar die Idee einer ersten öffentlichen Bibliothek hegte, die er aber vor seinem Tod nicht mehr umsetzen konnte.[38]

Im vierten nachchristlichen Jahrhundert setzte die kulturelle Bedeutung des Christentums ein.[39] Die Kirche wurde zum eigentlichen Kulturträger und zur künstlerisch tragenden Kraft. Diese zentrale Stellung behielt sie fast während des gesamten Mittelalters. In fast allen Klöstern und Bischofskirchen waren Bibliotheken oder Büchersammlungen vorhanden. Private Sammler, die zugleich kirchliche Vertreter waren, sind eher selten ausfindig zu machen; aber auch sonst gibt es von Privatsammlern in dieser Zeit wenig Spuren.[40]

2.2.1 Reliquienschätze des 12. – 15. Jahrhunderts

Vorläufer der Wunderkammern waren die kirchlichen Reliquienschätze, deren Geschichte auf den Anfang des 12. Jahrhunderts zurückgeht. Nachdem die Kreuzzüge den Zugang zum Nahen Osten, dem „Gelobten Land“, eröffnet hatten, blühte der Handel mit Reliquien auf.[41]

Unter Reliquien versteht man jeden Gegenstand, von dem man glaubte, dass er mit einer Gestalt aus der Geschichte der Heiligen in Berührung gekommen sei. Man findet unter ihnen vor allem Teile des Körpers, oft sehr winzig, aber von großer Bedeutung für die Besitzer, beispielsweise abgeschnittene Fingernägel, Haare, Kreuzsplitter und Nägel, Barthaare, Lendentücher und Tränen.[42]

Reliquien sollten die Ausbreitung von Krankheiten verhindern, den Ort heiligen, an dem sie aufbewahrt wurden, und Städte und Königreiche vor Feinden schützen. Sie sorgten für den Beistand des Heiligen und damit für Wohlfahrt. Ihre Funktion war der Austausch der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt, wie es früher die Aufgabe der Grabbeigaben und Opfergaben war. Die Verehrung von Reliquien wurde durch die Kirche systematisch gefördert.

Bei den Aschaffenburger Kultur Tagen 2004 zum Thema „Faszination Sammeln“ konnte man im Stiftsmuseum ganze Reliquien-Koffer bewundern. Sie waren in Besitz der Kirchen und für die Gottesdienste vorgesehen. In den Koffern war für jeden Tag im Jahr ein winziges Fach zum Schutz der einzelnen Objekte eingelassen. Durch die stete und sehr regelmäßige Verwendung der Reliquien im Gottesdienst hatte die Kirche natürlich großen Einfluss auf die Sammelkultur der damaligen Zeit. Die wertvollsten Schätze in den Sammlungen waren die Reliquien.

Viele Religionen verehren Reliquien, sie spielen beispielsweise eine wichtige Rolle im Buddhismus, aber keine ist in dieser Hinsicht dem Christentum ebenbürtig. Noch heute kennt man Reliquien erster, zweiter und dritter Klasse, die entweder lediglich von Heiligen besessen oder aber berührt wurden und bestenfalls ein Teil von ihnen sind.[43]

Die Kirchen bewahrten neben Reliquien auch Raritäten aus dem Bereich der Natur, Opfergaben wie Altäre und Kelche, Messgewänder, Grabmale, Gaben und Kirchenfenster auf.[44]

2.2.2 Die Kunst- und Wunderkammern des 15.-18. Jahrhunderts

Zwischen dem 15. Jahrhundert und dem Beginn des 18. Jahrhunderts gehörte es zum kultivierten Lebensstil von Fürsten und Adeligen (später auch wohlhabenden Bürgern), sich in besonderen Räumen ihrer Schlösser bzw. Häuser Sammlungen anzulegen. Selbst Puppenhäuser dieser Zeit waren nicht komplett ohne Kleinformate der Sammlerkabinette.[45]

Geprägt waren die Sammlungen zwar von den Vorlieben und Interessen ihrer Besitzer, in den Grundbeständen waren sie jedoch durchaus vergleichbar, so dass man sie als Erscheinungsform eines bestimmten historischen Typs bezeichnen kann. Sie werden und wurden Kunst- und Wunderkammer, Raritäten- oder Kuriositätenkabinett, Naturalien- und Artificialienkammer genannt.[46] Wobei durch die Benennung schon deutlich wird, dass es sich bei diesen Sammlungen um ein Nebeneinander von Gegenständen aus der Natur wie von künstlich oder künstlerisch gefertigten Objekten handelt.

Durch technische Neuerungen wurde das Reisen erleichtert und der Handel ausgeweitet.[47] Innovationen wie der Druck mit beweglichen Lettern, ein immer effizienteres System von Banken, die den finanziellen Austausch erleichterten, förderten das Sammeln. Die Exponate der Wunderkammern wurden durch die Faszination an der Entdeckung neuer Länder angeregt. Die immer reichlicher sprudelnden Nachschubquellen ermöglichten eine größere Differenzierung und Spezialisierung auf bestimmte Interessensgebiete. Sammeln wird bereits in dieser Zeit zum wesentlichen Ausdruck des Individuellen.[48]

Beim Betrachten der damaligen Sammlungen hätte man heute sicher den Eindruck eines bunt zusammengewürfelten Sammelsuriums. Die Wände waren geschmückt mit Bildern, Geweihen und Skeletten. Die meisten Objekte der Sammlung waren in speziell getischlerten Sammlungsschränken untergebracht, größere Exponate standen frei im Raum oder hingen unter der Decke. Meist gehörten zu den Inhalten der Kabinette auch ausgestopfte Reptilien und präparierte Tiere, wobei abstruse Objekte und Anormalitäten[49] bevorzugt wurden. Sehr beliebt waren auch kunsthandwerkliche Erzeugnisse, wissenschaftliche Instrumente, Spielzeuge, Entdeckungen aus fremden Kulturen und exotische Naturobjekte.[50]

Krzysztof Pomian führt in seinem Buch der Ursprung des Museums aus, dass in den Schatzkammern der Fürsten vor allem Gegenstände im Inventar waren, welche einen Verwendungszweck hatten und entweder zeremonielle oder profane Zwecke erfüllten. Das Zusammentragen der Gegenstände durch die Fürsten lasse sich nicht auf bloße Schatzbildung reduzieren: zu der Zeit werde der Inhalt der Schatz- und Wunderkammern unterschieden zwischen Kleinodien und Ersparnissen. Die Kleinodien dienten dazu, die Blicke auf sich zu ziehen, sie waren die Blickfänge der Sammlungen.[51] In den zahlreichen Beschreibungen der Wunderkammern und ihrer Kuriositäten kann man wirklich eine Teilung in Objekte, die der Bereicherung dienten, und Objekten, die zur Belustigung, zum Staunen etc. ausgestellt wurden, entdecken.[52]

Welchem Verwendungszweck (profan wie zeremoniell) allerdings Dinge wie ein „Schildkrötenautomat mit Uhrwerk für Fortbewegung“[53], Muscheln, Elfenbein Statuen, verzierte Straußeneier oder Kokosnuss-Pokale dienten, bleibt bei dieser Sichtweise fraglich. Wichtig im Bezug auf die Sammlungsgegenstände ist außerdem, dass die Objekte niemals nur eine einzige, begrenzte Bedeutung innehatten. Im 16.-18. Jahrhundert gehörten Allegorien und bildhafte Analogien zu den geläufigen Formen der Reflexion über Gegenstände. Eine Kanone stand beispielshalber nicht nur für „Kriegskunst“, sondern auch für das Element Feuer und für physikalische Prinzipien wie Dynamik und Mechanik.[54]

In den Kunst- und Wunderkammern wurde versucht, einen universell gültigen Gesamtplan der Schöpfung an Beispielen vorzuführen und zu veranschaulichen. Sie waren jeweils ein Mikrokosmos, Sinnbild der ganzen Natur und Kultur. In diesem Zusammenhang diente oft ein Globus als symbolischer Repräsentant der wirklichen Welt.[55]

Gleichzeitig trug auch der Hang zum Kategorisieren, Systematisieren und Analysieren bereits teilweise zur Vereinzelung der Gegenstände bei. So wurzeln die Wunderkammern zum einen tief in der mythisch-christlichen Vergangenheit und weisen zum anderen schon in die wissenschaftlich-säkularisierte Zukunft.[56] Der Wunder- und Aberglaube spiegelte sich in oft phantastisch-wissenschaftlichen Theorien, welche die Verzahnung von mystischen und wissenschaftlichen Auffassungen zeigen. So gibt es Berichte von dem Mathematiker Leibnitz, der im 18. Jahrhundert in einem seiner Werke die fossilen Knochen eines Einhorns beschreibt und abbildet.[57]

Die Wunderkammern sollten bei ihren Betrachtern die Kräfte des Verstandes anregen und die Sinne animieren, sie dienten als Treffpunkte, Orte der Kommunikation, Tauschbörsen und waren häufig Zentrum sozialer Beziehungen.[58] Gesellschaftlich lag ihre Hauptaufgabe sicherlich auch in einer Darstellung des eigenen Reichtums und Macht. Eine gut ausstaffierte Kunst- oder Wunderkammer verlieh ihrem Besitzer, ob Fürst oder wohlhabendem Bürger, Prestige und Anerkennung.[59] Die Sammlung war ein Instrument für Fürsten, auch im irdischen Leben dauerhaft Ansehen zu erlangen.[60] „Wenigstens ein Kabinett mit seltenen Steinen, Drucken und ausgestopften Vögeln gehörte für Bildungsbürger zum guten Ton wie heute die Klassiker-Gesamtausgabe.“[61]

Die Entwicklung der Kunst- und Wunderkammern vom 15.-18. Jahrhundert nahm tendenziell bei den späteren Sammlungen, vor allem auch bei bürgerlichen Sammlern, immer ausgeprägtere enzyklopädische Grundzüge an. Die Konzentration auf ein bestimmtes Wissensgebiet nahm zu. Schließlich erfolgte die Trennung der Kunst- von der Naturalienkammer.

2.2.3 Bürgerliche Sammlungen und erste öffentliche Museen des 18. - 19. Jahrhunderts

Bis ins 18. Jahrhundert waren die überwiegend feudalen und großbürgerlichen Sammlungen mehr oder weniger exklusiv. Sie dienten zuerst der Erbauung ihrer Besitzer, welche dann gelegentlich Besuchsmöglichkeiten für private Personen einräumten. So lag die Aufgabe der Sammlung auch darin, Geschmack und Finanzkraft ihrer Besitzer nach außen hin zu präsentieren.

Erst nach den gesellschaftlichen und politischen Umstürzen um 1800 wurden, zumindest in Frankreich und Deutschland, viele Sammlungen von Seiten des Staates zur allgemeinen Nutzung zugänglich gemacht oder überhaupt erst ins Leben gerufen. Der Umgang mit den Sammlungsobjekten veränderte sich, sie waren nicht mehr in ein Netz von naturgeschichtlichen und persönlichen Bedeutungen eingebunden, sondern ihr systematischer und lehrhafter Charakter wurde hervorgehoben. Die Besitzer der Sammlungen waren zunehmend mit deren Komplexität überfordert. Der Sammlungs- und Archivierungsprozess aller für relevant gehaltener Daten konnte nur noch in einer kollektiv organisierten Anstrengung erfolgen.[62]

Dies war der Beginn der Institution Museum und das Ende der großen naturhistorischen Privatsammlungen.

Die Zurschaustellung von natürlichen und künstlichen Objekten, die Neigung zu einer großen Anzahl an Sammelobjekten, die unter den Begriff Abnormitäten und „Abstrusitäten“ zusammenzufassen sind, führte schließlich dazu, dass über die Kunst- und Wunderkammern im Zeitalter der Aufklärung höhnisch von „unnützem Plunder“ gesprochen wurde.[63] Die Epoche der nüchternen Sachforschung war angebrochen. Nur wenige Erinnerungen waren an den wichtigen Beitrag der Kunst- und Wunderkammer zur Entwicklung des abendländischen Zivilisationsprozess, und eben auch zur Aufklärung, zurückgeblieben. Die Sammlungsgegenstände wurden zerstreut und wanderten in die Spezialabteilungen der Museen, die in ihrer extremen Spezialisiertheit nichts mehr von dem ganzheitlichen Sinnkomplex ahnen lassen, der in Kunst- und Wunderkammern aus den Objekten sprach.[64]

Eine Zusammenschau von Kunst und Natur war, nach der Scheidung der sinnlichen Erfahrung von den Erkenntnissen des Verstandes, nur noch ästhetisch möglich.

Schon für Goethe[65] bestand der Zusammenhalt von Objekten aus der Natur wie der

Kunst in dem sinnlichen Reiz, einer „Art geistiger Geselligkeit“[66], er schätze nicht den Gewinn der „Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie“.[67]

Für die Zeit der Aufklärung ist bezeichnend, dass versucht wurde, das gesamte menschliche Wissen nach seinen verschiedenen Richtungen und Gegenständen enzyklopädisch als geordnetes System darzustellen. Die hierfür benötigte Methode war die der analytischen Wissenschaft und generell war eine ausgeprägte Sammeltätigkeit dafür Vorraussetzung. Dieses Konzept ist bis heute maßgeblich und wird in öffentlichen Museen wie in Privatsammlungen angewandt.

Die erste große öffentliche Bibliothek Bodleiana eröffnete 1602 in Oxford, sie war jedoch nur zugänglich für Studenten und Mitarbeiter der Hochschule. 1643 eröffnete Kardinal Mazarin in Frankreich die erste wirklich öffentliche Bibliothek.

Das erste Museum eröffnete 1683 die Universität Oxford, welches wieder ausschließlich für seine Studenten geöffnet war. Halböffentliche Museen hat es seit Jahrhunderten gegeben, so zeigten Fürsten und Zaren gerne hochrangigen Persönlichkeiten ihre Sammlungen. Zar Peter ließ verfügen, dass sein Kabinett der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte, es wurden dem Besucher sogar Kaffee, Zuckerbrot und Wodka gereicht.[68] 1710 beschloss der Kürfürst von Pfalz-Neuburg, seine Sammlung in Düsseldorf als erster in Deutschland in ein öffentliches Kunstmuseum zu verwandeln.1734 öffnete in Rom das Museo Capitolino, eine Stiftung des Papstes, der breiten Öffentlichkeit die Tore. Die Institution des Archivs tauchte erstmals 1794 auf. Durch Erlass der Nationalversammlung wurde das französische Nationalarchiv als erstes und für eine zeitlang einziges Archiv ins Leben gerufen.

Erneuten Aufschwung erfuhren die Museen im 19. Jahrhundert. Die Objekte beschränkten sich nun nicht mehr auf Zufallsfunde, sondern wurden gezielt durch Expeditionen[69] und Ausgrabungen angeschafft. Durch den technischen Fortschritt förderten neue Verkehrsmittel die koloniale Aufteilung der Welt, die Erschließung neuer Handelsmärkte und Rohstoffquellen sowie die Erforschung bisher unzugänglicher Lebensräume wie Polargebiete, Wüsten und Urwälder.[70]

Das charakteristischste Merkmal von Museen gegenüber Privatsammlungen ist ihre Permanenz. Sie werden nach dem Tod des Museumsdirektors nicht aufgelöst, auch unterliegen sie weniger starken Vermögensschwankungen als Privatsammlungen.

[...]


[1] Assmann/Gomille (1998:7)

[2] Vgl. Assman/Gomille (1998:9f.)

[3] Wasem (1991:46)

[4] Vgl. u.a. Assmann/Gomille (1998); Bleyl (1981); Sommer (1999)

[5] Vgl. Schloz (2000:12)

[6] Schloz (2000:68)

[7] Schloz (2000:67)

[8] Neolithikum: 5600-2200 v. Chr. Der Prozess der Neolithisierung beginnt 12000 v. Chr. im Vorderen Orient und breitet sich von dort nach Süd- und Mitteleuropa aus. (www.uni.leipzig.de)

[9] Vgl. Sommer (1999:88f.)

[10] Schloz (2000:75)

[11] Schloz (2000:79)

[12] Vgl. Schloz (2000:80f.)

[13] Schloz (2000: 92)

[14] Vgl. Schloz (2000:93f.)

[15] Z.B. Gegenstände des täglichen Gebrauchs wie Werkzeuge, Waffen, Schmuck und Kunstwerke. Vgl. Pomian (1998:20)

[16] Vgl. Scholz (2000:96f.)

[17] Vgl. Assmann/Gomille (1998:11f.)

[18] Vgl. Segeth (1989:4)

[19] In einer Stadt in Anatolien, zwischen 6500 und 5700 v. Chr. Vgl. Pomian (1998:20)

[20] Vgl. Schloz (2000:96ff.)

[21] Vgl. Pomian (1998:51)

[22] Vgl. Schloz (2000:101ff.)

[23] Vgl. Schloz (2000:104)

[24] Vgl. Schloz (2000:106f.)

[25] Vgl. Schloz (2000:120f.)

[26] Vgl. Schloz (2000:124f.)

[27] Vgl. Schloz (2000:126f.)

[28] Schloz (2000:134)

[29] Vgl. Schloz (2000:151ff.)

[30] Schloz (2000:155)

[31] Vgl. ebd.

[32] Vgl. Segeth (1989:4f.)

[33] Vgl. ebd.

[34] Vgl. ebd.

[35] Vgl. Pomian (1998:26)

[36] Vgl. Segeth (1989: 6f.)

[37] Vgl. Pomian (1998:28)

[38] Vgl. ebd.

[39] Nach dem Toleranzedikt von Mailand 313, war das Christentum auf dem Weg zur Staatsreligion. Vgl. Segeth (1989:7)

[40] Vgl. Segeth (1989:8f.)

[41] Vgl. Blom (2004:230f.)

[42] Vgl. Blom (2004:232f.)

[43] Vgl. Blom (2004:235ff.)

[44] Vgl. Pomian (1998:31f.)

[45] Vgl. Blom (2004:185ff.)

[46] Vgl. Wolbert (1981:9f.)

[47] Durch Fortschritte in der Seefahrt mittels Kartographen und neuem Kartenmaterial, sowie der Etablierung des Kompasses.

[48] Muensterberger (1995:183ff.)

[49] Von tierischen Fehlbildungen und seltsamen Naturgebilden bis zu kuriosem Menschenwerk. Vgl. Bleyl (1981:27)

[50] Vgl. Wolbert (1981:13f.)

[51] Vgl. Pomian (1998:35f.)

[52] Vgl. u.a. ebd.; Wolbert (1981:11ff.); Kemper/Seggelke (2003:36f.)

[53] Wolbert (1981:11)

[54] Vgl. Wolbert (1981:12ff.)

[55] Vgl. Muensterberger (1995:188f.)

[56] Vgl. Wolbert (1981:12)

[57] Vgl. Wolbert (1981:16f.)

[58] Te Heesen/ Spary (2001:16f.)

[59] Vgl. Blom (2004:26ff.)

[60] Vgl. Pomian (1998:59)

[61] Blom (2004:34)

[62] Vgl. Te Heesen/Spary (2001:18ff.)

[63] Vgl. Wolbert (1981:25ff.)

[64] Vgl. ebd.

[65] Goethe wuchs bereits in einer Sammlerfamilie auf und war seit seiner Geburt selbst Sammler. Seine Sammlung zählt mit 40 000 Objekten zu einer der umfangreichsten Privatsammlungen. Unter den Gegenständen seiner Sammlung befinden sich viele naturwissenschaftliche Bücher, Gegenstände aus der Natur und dem Kunsthandwerk. Sie dienten Goethes Arbeit, um Thesen zu bestätigen, als Beleg- und Anschauungsmaterial. Alle Objekte wurden von ihm beschriftet, sortiert und absichtlich zusammengetragen. Für Goethe war der sinnliche Kontakt mit den Dingen grundlegend für die ästhetische Erziehung. (Kemper/Seggelke 2003:84f.) Im Sammeln sieht der Dichter auch die Möglichkeit zur therapeutischen Befreiung von der Fetischisierung einzelner Objekte: Durch die Vielzahl der Objekte kann Sammeln den als krankhaft erkannten „Affekt gegen ein einzelne Kleinod“ aufheben. (Vgl. Assmann/Gomille 1998:215ff.) In seiner Dissertation führt Segeth an, dass Goethe sich auf den Bildungsgedanken als Sammelgrund beruft, Bildung aber auch in Bibliotheken oder Museen erworben werden könne, die schon zu seiner Zeit dem Publikum zugänglich gewesen seien. (Vgl. Segeth 1989:30f.) Dieser These widersprechen zum Einen die mit der heutigen Zeit nicht zu vergleichende geringe Anzahl an Museen und deren oft kurze Öffnungszeiten und zum Anderen die Tatsache, dass es Goethe auf den sinnlichen Kontakt mit den Gegenständen seiner Sammlung ankam, der in öffentlichen Museen wohl kaum gewährleistet gewesen wäre.

[66] Goethe (1997:66)

[67] Goethe (1997:67)

[68] Vgl. Blom (2004:184)

[69] Z.B. die britische Tiefsee-Expedition der Challenger (1873-1876); deutsche Expeditionen mit den Forschungsschiffen Valdvia, Gauss und Deutschland; die norwegische Nordpolar-Expedition der Fram (1893-1896)

[70] Vgl. Pomian (1998:66f.)

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen Sammeln: Zur Kultivierung des Sammeln in der Schule
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Erziehungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
102
Katalognummer
V65635
ISBN (eBook)
9783638581523
ISBN (Buch)
9783656770961
Dateigröße
908 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Examensarbeit zur ersten Staatsprüfung, Entwicklung des Phänomen Sammeln, Kultur des Sammeln, das Sammeln der Kinder und Sammeln in der Schule.
Schlagworte
Phänomen, Sammeln, Kultivierung, Sammeln, Schule
Arbeit zitieren
Laura Ullrich (Autor:in), 2005, Das Phänomen Sammeln: Zur Kultivierung des Sammeln in der Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65635

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