Kindesvernachlässigung in den ersten Lebensjahren. Hintergründe, Risikofaktoren und sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten


Diplomarbeit, 2006

105 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Hauptteil
1. Begriffsdefinition und Abgrenzung zu anderen Gewaltformen
1.1 Formen der Kindesmisshandlung
1.1.1 Körperliche Misshandlung
1.1.2 Emotionale Misshandlung
1.1.3 Sexueller Missbrauch
1.2 Kindesvernachlässigung
1.2.1 Abgrenzung Kindesvernachlässigung – Kindesmisshandlung
1.3 Zusammenfassung
2. Kindliche Lebensbedürfnisse und Folgen von Bedürfnisrestriktionen
2.1 Kindliche Grundbedürfnisse
2.2 Bedürfnisse aus Sicht der Bindungstheorie und elterliche Fähigkeiten
2.3 Auswirkungen auf Bindungsqualität und Beziehung
2.4 Folgen früher Kindesvernachlässigung
2.5 Zusammenfassung
3. Hintergründe der Kindesvernachlässigung
3.1 Familie im Wandel
3.2 Soziale Isolation
3.3 Charakteristische Merkmale von Vernachlässigungsfamilien
3.3.1 Lebensgeschichtliche Erfahrungen der Eltern
3.3.2 Familiäre Beziehungsmuster
3.3.3 Struktur und Dynamik in Vernachlässigungsfamilien
3.4 Zusammenfassung
4. Belastende Lebensumstände als Kontextfaktoren der Kindesvernachlässigung
4.1 Risikofaktoren für Kindesvernachlässigung
4.2 Ergebnisse der Forschung
4.2.1 Die Mannheimer Risiko-Kinder-Studie
4.2.2 Studie des Instituts für soziale Arbeit (ISA)
4.3 Darstellung ausgewählter Risikofaktoren
4.3.1 Kindliche Merkmale
4.3.2 Armut
4.3.3 Eltern mit Suchterkrankungen
4.3.4 Psychisch kranke Eltern
4.3.5 Jugendliche und allein erziehende Mütter
4.4 Schutzfaktoren der kindlichen Entwicklung
4.5 Zusammenfassung
5. Sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten
5.1 Prävention und Intervention im Rahmen des KJHG
5.2 Die Bedeutung frühzeitiger Prävention und Intervention
5.3 Beratung und Therapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern
5.4 Darstellung ausgewählter früher Präventions- und Interventionsprogramme
5.4.1 Entwicklungspsychologische Beratung
5.4.2 Beratungsstelle „MenschensKind“
5.4.3 Familienhebammen
5.4.4 Frühförderprogramm „Opstapje – Schritt für Schritt“
5.5 Zusammenfassung

III. Schlusswort

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

„Ein Kind verhungert – mitten in Deutschland

Es schien, als habe es das Mädchen Jessica nie gegeben. Nach dem schrecklichen Tod fragen sich alle: Warum haben weder Nachbarn noch Ämter die Tragödie bemerkt?“ (Süddeutsche Zeitung, 3.3.2005)

„Kinderleiche bei Stendal gefunden – tragischer Hungertod im Jerichower Land“

(www.heute.de, 1.3.2006)

„Benjamin, Lydia, Tobias und Jessica sind verhungert und verdurstet – in Stendal, Osnabrück, Frankfurt/Oder und Hamburg. Die Schicksale dieser Kinder lassen aufschreien: warum hat niemand etwas getan?“ (Westdeutsche Zeitung online, 26.7.2006)

Diese Meldungen haben gemeinsam, dass sie über die extremsten Fälle von Kindesvernachlässigung berichten. In der Regel ist die Vernachlässigung von Kindern ein wenig beachtetes Phänomen. In der öffentlichen Berichterstattung und der fachlichen Diskussion tritt sie häufig zugunsten der Kindesmisshandlung und des sexuellen Missbrauchs zurück. Kindesvernachlässigung ist ein schleichender Prozess, der häufig im Intimbereich der Familie verborgen bleibt. Auf Grund der relativen Unsichtbarkeit des Phänomens ist die Vernachlässigung kaum medienwirksam, es sei denn, ein Kind stirbt an den Folgen der Vernachlässigung. In diesen Fällen lösen die Schlagzeilen in den Zeitungen Gefühle von Wut, Trauer, Unverständnis und Ohnmacht in der Öffentlichkeit aus. Wie im Fall der siebenjährigen Jessica, die nach jahrelanger Qual in der elterlichen Wohnung verhungerte. Schnell sucht die Öffentlichkeit dann nach den Schuldigen der Tat und geht der Frage nach, warum Nachbarn und Ämter nichts Verdächtiges bemerkt haben. Dabei ist die Berichterstattung der Medien oftmals geprägt von einseitigen Schuldzuschreibungen an die „Horror-Mutter“ (Bild-Zeitung, 31.8.2005) und nach den Ursachen der Kindesvernachlässigung wird kaum gefragt.

In dieser Arbeit untersuche ich daher das Thema Kindesvernachlässigung in den ersten Lebensjahren in Bezug auf Hintergründe und Risikofaktoren dieser Gewaltform sowie hinsichtlich der sozialpädagogischen Handlungsmöglichkeiten, die

sich daraus ergeben. Ich gehe der Frage nach, wie es zur Vernachlässigung eines Kindes kommen kann und warum dieser Sachverhalt lange verborgen bleiben kann.

Die Arbeit ist in fünf Kapitel unterteilt. Zunächst beschreibe ich die einzelnen Formen der Gewalt, um die Besonderheiten der Kindesvernachlässigung besser herausarbeiten zu können. Dafür vergleiche ich die Gewaltformen untereinander und grenze die Vernachlässigung als einen eigenständigen Problembereich von den anderen Misshandlungsformen ab.

Im zweiten Kapitel betrachte ich den Begriff der Kindesvernachlässigung anhand der Grundbedürfnisse von Kindern genauer. Mit Hilfe der Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth stelle ich die Bedeutung der frühen Eltern-Kind-Beziehung dar und erläutere wichtige elterliche Fähigkeiten für den Umgang mit dem Säugling. Anschließend schildere ich die Folgen, die frühe Vernachlässigung auf die kindliche Entwicklung und Bindungsqualität hat.

Im folgenden Kapitel betrachte ich die Hintergründe der Kindesvernachlässigung ausführlicher. Dazu stelle ich die veränderten familiären Lebensbedingungen dar, unter denen Eltern ihre Kinder heutzutage großziehen und erkläre die Bedeutung sozialer Unterstützungssysteme für Familien. Im Anschluss betrachte ich die charakteristischen Merkmale von Vernachlässigungsfamilien, wobei der Schwerpunkt auf der Eltern-Kind-Beziehung sowie auf der Dynamik und Struktur der Familien liegt.

Im vierten Kapitel erläutere ich auf welche Art und Weise belastende Lebensumstände die Gefahr für Kindesvernachlässigung erhöhen. Als Belege für den Einfluss von Risikofaktoren auf die Lebenssituation von Familien stelle ich Ergebnisse der Mannheimer Risiko-Kinder-Studie und Ergebnisse einer Studie des Instituts für soziale Arbeit vor. Um zu verstehen, wie belastende Lebenssituationen Eltern in ihren Fähigkeiten einschränken können, ausreichend für ihr Kind zu sorgen, beschreibe ich ausgewählte Risikofaktoren ausführlicher. Dabei habe ich mich für folgende fünf Risikofaktoren entschieden: kindliche Merkmale, Armut, Suchterkrankungen, psychische Erkrankungen der Eltern sowie jugendliche und allein erziehende Mütter. Im Anschluss erläutere ich noch die Bedeutung von Schutzfaktoren für die kindliche Entwicklung.

Im letzten Kapitel stelle ich, ausgehend von meinen bisherigen Ergebnissen, geeignete sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten vor. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Hilfsangeboten, die die Beziehung zwischen Eltern und Kind unterstützen und stärken. Anhand von vier Beispielen, dem entwicklungspsychologischen Beratungsmodell, der Beratungsstelle „MenschensKind“, dem Konzept der Familienhebamme und dem Frühförderprogramm „Opstapje“, beschreibe ich eingehend Hilfeformen, die frühzeitig Unterstützung für Familien anbieten. Dabei liegt der Fokus verstärkt auf der Prävention von Kindesvernachlässigung.

II. Hauptteil

1. Begriffsdefinition und Abgrenzung zu anderen Gewaltformen

1.1 Formen der Kindesmisshandlung

BLUM-MAURICE (2000, zit. n. DEEGENER 2005, S. 37) definiert Kindesmisshandlung als eine „nicht zufällige, gewaltsame psychische und/oder physische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung des Kindes durch Eltern/ Erziehungsberechtigte oder Dritte, die das Kind schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt oder zu Tode bringt“.

Somit stellt Kindesmisshandlung eine Kombination vielfältiger Handlungen und Unterlassungen dar. Es ist ein Syndrom, welches sich aus mehreren Elementen negativer Einwirkungen auf ein Kind zusammensetzt. In der Regel ist Kindesmisshandlung kein einmaliger Akt, auch wenn eine einzige gewaltsame Handlung erhebliche Folgen nach sich ziehen kann (zum Beispiel Hirntrauma durch heftiges Schütteln des Säuglings). Unterschieden werden meist vier Formen der Kindesmisshandlung:

1. Körperliche Misshandlung
2. Emotionale Misshandlung
3. Sexueller Missbrauch
4. Vernachlässigung

Häufig treten diese Misshandlungsformen nicht allein auf, sondern in komplexen Mischformen. Auch bei den Folgen der Misshandlung wirken die einzelnen Gewaltformen zusammen (vgl. KINDERSCHUTZZENTRUM-BERLIN 2000, S. 27).

1.1.1 Körperliche Misshandlung

Unter dem Begriff der körperlichen Misshandlung versteht man Schläge oder andere gewaltsame Handlungen (Stöße, Schütteln, Verbrennungen, Stechen etc.), die beim Kind körperliche Verletzungen zur Folge haben können. Ob und in welchem Ausmaß ein Kind dabei zu Schaden kommt, hängt nicht nur von der Intensität und Härte der Gewalthandlung ab. Eine große Rolle spielt ebenfalls die Verletzbarkeit des kindlichen Organismus (zum Beispiel Schütteln des Säuglings) und situative Umstände, etwa wenn das Kind mit dem Kopf nicht auf den Teppich, sondern auf eine harte Kante schlägt (vgl. ENGFER 1986, S. 10).

Eine Sonderform der körperlichen Misshandlung stellt das seltene Münchhausen-by-proxy-Syndrom dar. Hierbei täuschen die Eltern bei ihrem Kind eine Krankheit vor, deren Krankheitssymptome sie entweder erfinden oder manchmal selbst herbeiführen (zum Beispiel durch Medikamente, Verletzungen, Nahrungsentzug). Diese Misshandlungsform ist schwer feststellbar und die Kinder werden oft etlichen schmerzhaften Behandlungen unterzogen, die alle ohne krankhaften Befund bleiben (vgl. KINDERSCHUTZ-ZENTRUM BERLIN 2000, S. 73).

1.1.2 Emotionale Misshandlung

Mit diesem Begriff sind Äußerungen und Handlungen gemeint, die das Kind terrorisieren und ängstigen, es in sadistischer Weise herabsetzen, isolieren und überfordern sowie dem Kind emotionale Unterstützung und Zuwendung verweigern. Umgekehrt zählt auch ein überbehütendes Verhalten und Erdrücken des Kindes mit Fürsorge zur emotionalen Misshandlung. Hierbei engen die Eltern die kindlichen Erfahrungsräume ein und es besteht die Gefahr, dass die Kinder in ihrer Entwicklung stehen bleiben, sich unsicher, ängstlich und abhängig fühlen. Häufig müssen die Kinder zu früh die Rolle von Erwachsenen übernehmen und sich um ihre Geschwister kümmern oder ihre Eltern versorgen (vgl. DEEGENER 2005, S. 38).

Bereits bei der körperlichen Misshandlung lässt sich schwer zwischen „harmlosen“ und exzessiven körperlichen Züchtigungen unterscheiden. Dieses Problem ist bei der emotionalen Misshandlung noch gravierender, denn die Handlungen, in denen sich elterliche Ablehnung ausdrücken kann, sind subtiler als Schläge. Demnach kann diese Misshandlungsform nur als etwas definiert werden, was dem Kind Angst macht, es bedroht und in der Entwicklung seines Selbstwertgefühls beeinträchtigt (vgl. ENGFER 1986, S. 11f.).

Für GARBARINO und VONDRA (1987, zit. n. ENGFER 2005, S. 7) ist die emotionale Misshandlung der Kern jeder Misshandlung und Vernachlässigung sowie die

schädlichste Form der Gewalt. Alle Misshandlungsformen weisen eine psychische Komponente auf, denn Eltern, die ihre Kinder verprügeln, tun dies in der Regel nicht wortlos, sondern die Kinder werden angeschrieen und beschimpft. Die emotionale Misshandlung drückt sich bei der Kindesvernachlässigung zum Beispiel im elterlichen Desinteresse am Kind aus und beim sexuellen Missbrauch dadurch, dass der Täter seine sexuellen Bedürfnisse über die Interessen des Kindes stellt.

Emotionale Misshandlung ist somit oft mit anderen Gewaltformen verknüpft und erhöht die Gefahr für das Kind später Opfer sexueller Gewalt zu werden, denn die Bedürfnisse des Kindes nach Liebe und Anerkennung können von pädophilen Tätern erkannt und ausgenutzt werden.

1.1.3 Sexueller Missbrauch

Unter sexuellem Missbrauch versteht man jede sexuelle Handlung, die an einem Kind oder in Gegenwart eines Kindes vollzogen wird. Sie wird entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen oder, weil das Kind auf Grund seiner körperlichen, geistigen oder sprachlichen Unterlegenheit nicht ablehnen kann. Der Missbraucher nutzt dabei seine Macht- und Autoritätsposition sowie die Liebe und Abhängigkeit des Kindes aus, um seine Bedürfnisse auf Kosten des Kindes befriedigen zu können (vgl. DEEGENER 2005, S. 38).

Durch den Missbrauch kann die körperliche und seelische Entwicklung des Kindes, seine Unversehrtheit und Autonomie beeinträchtigt werden und es kann zu einer nachhaltigen Störung seiner Gesamtpersönlichkeit kommen. Diese Misshandlungsform tritt häufig mit emotionaler Misshandlung und in gravierenden Fällen mit Kindesvernachlässigung auf (vgl. KINDERSCHUTZ-ZENTRUM BERLIN 2000, S. 29).

1.2 Kindesvernachlässigung

Die Kindesvernachlässigung in den ersten Lebensjahren erhält in der öffentlichen und fachlichen Diskussion im Gegensatz zur Kindesmisshandlung und dem sexuellen Missbrauch wenig Aufmerksamkeit. Eine Ausnahme stellen diejenigen Fälle

dar, in denen die Vernachlässigung lebensbedrohliche oder tödliche Folgen für das Kind hatte. Ein Grund für die „Vernachlässigung der Vernachlässigung“ ist, dass Kindesvernachlässigung oftmals unter dem Begriff der Kindesmisshandlung erfasst wird (vgl. SCHONE, GINTZEL, JORDAN, KALSCHEUER & MÜNDER 1997, S. 14f.).

Engelbert (2000, S. 6) nennt hierfür zwei weitere Gründe. Zum einen gibt es ein Forschungs- und Informationsdefizit sowie wenig deutschsprachige Fachliteratur zu diesem Thema. Zum anderen bleibt die Vernachlässigung von Säuglingen und Kleinkindern größtenteils im Intimbereich der Familie verborgen.

Nach ENGFER (2005, S. 4f.) werden Kinder vernachlässigt, „wenn sie von ihren Eltern oder Betreuungspersonen unzureichend ernährt, gepflegt, gefördert, gesundheitlich versorgt, beaufsichtigt und/oder vor Gefahren geschützt werden“.

Sie betont, dass die Definition der Vernachlässigung, wie bei anderen Gewaltformen, von gesellschaftlichen Maßstäben eines angemessenen, geforderten und noch akzeptierten Elternverhaltens abhängt.

In der Regel wird zwischen emotionaler und körperlicher Vernachlässigung unterschieden, obwohl beide Vernachlässigungsformen meistens nicht getrennt voneinander auftreten. Unter physischer Vernachlässigung versteht man die unzureichende Achtung auf Gesundheit, Schutz und das Wohlergehen des auf Pflege und Ernährung angewiesenen Kindes. Psychische Vernachlässigung ist dadurch gekennzeichnet, dass dem Kind verlässliche Beziehungen, emotionale Zuwendung und Anregung vorenthalten werden sowie seine motorischen, geistigen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten nicht ausreichend gefördert werden (vgl. AMELANG & KRÜGER 1995, S. 18).

Als eine Unterform der Vernachlässigung gilt die so genannte „nicht-organische Gedeihstörung“, bei der die Kleinkinder in ihrer körperlichen Entwicklung zurückbleiben, ohne dass eine organische Ursache für diesen Entwicklungsrückstand festgestellt werden kann. Es handelt sich um eine psychosozial bedingte Entwicklungsverzögerung infolge mangelnder Fürsorge oder auf Grund psychischer Belastungen (vgl. BUNDESÄRZTEKAMMER 1999, S. 126).

CANTWELL (2002, S. 518) nennt als eine weitere Form der frühen Kindesvernachlässigung die pränatale Vernachlässigung. Sie äußert sich dadurch, dass die Mutter sich während ihrer Schwangerschaft nicht ausreichend um das Wohlergehen des Fetus kümmert. Zu den schädigenden Verhaltensweisen in der Schwangerschaft zählen der Konsum von Alkohol und Drogen, Rauchen und die Nichtinanspruchnahme ärztlicher Betreuung.

Kinder, die von pränataler Vernachlässigung betroffen waren, wiesen vermehrt körperliche und geistige Behinderungen auf (vgl. BLUM-MAURICE 2002, S. 114).

Kindesvernachlässigung kann aktiv oder passiv (unbewusst) erfolgen. Bei passiver Vernachlässigung werden die Bedürfnisse des Kindes auf Grund mangelnder Einsicht, aus Unkenntnis oder Unfähigkeit der sorgeverantwortlichen Personen nicht wahrgenommen und befriedigt (zum Beispiel Mangelernährung, Alleinlassen des Kindes über einen langen Zeitraum). Verweigern die Betreuungspersonen wissentlich ihrem Kind Handlungen, die der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse dienen (zum Beispiel Nahrung und Schutz), spricht man von aktiver Vernachlässigung. Die Grenzen zwischen diesen beiden Vernachlässigungsformen sowie zwischen aktiver Vernachlässigung und Misshandlung sind fließend. Für die Handlungsstrategien der Jugendhilfe sind sie jedoch sehr bedeutsam, da es einen Unterschied macht, ob Kindesvernachlässigung das Ergebnis von Überforderung und Unkenntnis ist, oder ob Eltern im schlimmsten Fall die mangelhafte Versorgung ihres Kindes bewusst herbeiführen (vgl. SCHONE et al. 1997, S. 22).

ENGELBERT (2000, S. 9) kritisiert in diesem Zusammenhang, dass durch die Trennung in aktive und passive Vernachlässigung eine Unterteilung in verschuldete und unverschuldete Vernachlässigung suggeriert werde. Diese Schuldzuweisung an einen bestimmten Teil der sorgeverantwortlichen Personen sieht sie als wenig hilfreich an, da die Ursachen der Vernachlässigung mehrdimensional seien.

Die chronische Unterversorgung des Kindes beeinträchtigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu bleibenden Schäden oder gar zum Tod des Kindes führen. Kinder, die auf Grund ihres Alters (Säuglinge und Kleinkinder) oder wegen einer Behinderung in besonderer Weise auf Schutz, Fürsorge und Förderung angewiesen sind, sind besonders von Vernachlässigung betroffen (vgl. SCHONE et al. 1997, S. 21). Sie können Vernachlässigungssituationen nicht aus eigener Kraft kompensieren und sich dieser Unterversorgung auch nicht entziehen. Angesichts ihres Entwicklungsstandes, ihrer Abhängigkeit und ihrem Bedürfnis nach Zuwendung sind sie gegenüber Bedürfniseinschränkungen besonders verletzlich (vgl. ZIEGENHAIN, FRIES, BÜTOW & DERKSEN 2004, S. 107). Die Gegenreaktionen des Kindes auf die Unterversorgung können sich zum Beispiel in Schreien oder Weinen äußern und führen häufig zu einer Problemverschärfung. Die Eltern reagieren auf die Abwehrreaktionen des Kindes oftmals mit Alleinlassen, Einsperren oder körperlicher Gewalt. Des Weiteren haben die Kinder auf Grund ihres Alters kaum Möglichkeiten, auf ihre Mangelsituation öffentlich hinzuweisen, zum Beispiel durch auffälliges Verhalten in Kindergärten oder Schulen (vgl. SCHONE et al. 1997, S.17ff.).

Besonders auffällig wird Vernachlässigung in deklassierten Familien, in denen sie häufig mit sozialen und beziehungsdynamischen Krisen verbunden ist. Diese so genannten Multiproblemfamilien sind oftmals über Generationen den Behörden und sozialen Diensten bekannt. Damit einher geht ein höherer Grad an sozialer Kontrolle und Familien in sozialen Mangelsituationen geraten somit eher in den Blick der Behörden als wohlhabendere Familien der Mittel- und Oberschicht.

Daneben ist Kindesvernachlässigung in den existentiell besser abgesicherten Familien als Wohlstandsvernachlässigung zu beobachten, die sich jedoch in anderen Verhaltensweisen ausdrückt. Emotionale Defizite, zum Beispiel durch beruflich bedingte Abwesenheit der Eltern, werden durch materielle Angebote oder Konsumzwang ausgeglichen. In der Regel werden diese Fälle nicht bekannt, besonders da das Streben nach Wohlstand in unserer Gesellschaft eher positiv bewertet wird. Die Vernachlässigung der Kinder wird in der Regel erst durch ihr auffälliges Verhalten sichtbar (vgl. BLUM-MAURICE 1998, S. 233).

Es gibt in Deutschland kaum hinreichend empirisch erhobene Daten zur Häufigkeit von Vernachlässigung, im Gegensatz zu den zahlreichen Untersuchungen über körperliche Gewalterfahrungen. Das Ausmaß der Kindesvernachlässigung kann daher nur geschätzt werden (vgl. DEEGENER 2005, S. 46).

ESSER (2002, S. 103) geht davon aus, dass ca. 5-10 Prozent aller Kinder in Deutschland von ihren Eltern vernachlässigt oder abgelehnt werden. Dies würde einer Größenordnung von etwa 250.000 bis 500.000 Kindern unter sieben Jahren entsprechen.

SCHONE et al. (1997, S. 15) ermittelten einen Wert von 50.000 Kindern, der als quantitative Untergrenze angesehen werden kann. Sie bezogen sich dabei auf Daten von unter siebenjährigen Kindern, die sich im Jahr 1994 in Betreuungsverhältnissen der Jugendhilfe befanden.

Auf Grund US-amerikanischer Statistiken kann eine Einschätzung zu den Häufigkeitsverhältnissen zwischen verschiedenen Misshandlungsformen vorgenommen werden, da für sie in den USA eine Meldepflicht besteht. Im Jahr 1995 wurden ca. drei Millionen Misshandlungsfälle registriert, von denen jedoch nur etwa ein Drittel für die Statistik verwertet wurde. Somit ergaben sich folgende Prozentangaben zu den einzelnen Misshandlungsformen: 54 Prozent körperliche Vernachlässigungsfälle, 25 Prozent körperliche Misshandlung, 11 Prozent sexueller Missbrauch, 3 Prozent emotionale Vernachlässigung und 7 Prozent der Fälle waren nicht eindeutig klassifizierbar (vgl. EMERY & LAUMANN-BILLINGS 1998, zit. n. ENGFER 2005, S. 4).

Kindesvernachlässigung kommt demnach wesentlich häufiger vor als körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch. Allerdings bestehen zwischen diesen Gewaltformen erhebliche Überschneidungen und zeitliche Verkettungen (vgl. ebd., S. 4).

1.2.1 Abgrenzung Kindesvernachlässigung - Kindesmisshandlung

Die Kindesvernachlässigung unterscheidet sich in einigen wesentlichen Punkten von physischer Misshandlung.

Von Vernachlässigung spricht man, wenn dem Kind über einen längeren Zeitraum wichtige Versorgungsleistungen materieller, emotionaler oder kognitiver Art vorenthalten werden und es zu einem chronischen Zustand der Mangelversorgung kommt. Dagegen kann Kindesmisshandlung durch einmalige Akte erfolgen.

Zu Unterlassungen und Fehlhandlungen bei Vernachlässigung kommt es in der Regel durch Unwissenheit, Überforderung und Unvermögen der sorgeverantwort-lichen Personen, angemessen auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingehen zu können. Ihr Verhalten ist im Allgemeinen passiv. Körperliche Misshandlung zählt hingegen zu den aktiven Formen der Kindesmisshandlung (vgl. SCHONE et al. 1997, S. 19). Sie kann einerseits die Folge gezielter Gewaltausübung sein (Disziplinierung oder Strafe) und andererseits eine impulsive Form der Gewalttätigkeit darstellen, die auf Grund eines Kontrollverlustes beim Misshandler in Stresssituationen entsteht (vgl. KINDERSCHUTZ-ZENTRUM BERLIN 2000, S. 28).

Physische Gewalt gegen Kinder kann grundsätzlich von jedem Erwachsenen ausgehen. Bei der Kindesvernachlässigung ist der Personenkreis auf die sorgeberechtigten Erwachsenen eingegrenzt. Dies hat eine weitere Besonderheit in der Wahrnehmung der Vernachlässigung zur Folge, denn Versorgungsaufgaben für kleine Kinder werden meistens den Müttern zugeschrieben. Daher sind sie es in der Regel, die die von ihnen erwarteten Versorgungsleistungen nicht erbringen und denen es nicht gelingt, sich ausreichend um ihr Kind zu kümmern. Durch die gesellschaftliche Rolle, die ihnen damit zugewiesen wird, werden sie zu den primär Verantwortlichen. Obwohl die Väter vor dem Gesetz ebenfalls sorgeverpflichtet sind, können sie sich durch Flucht nicht nur der Verantwortung sondern auch dem Vorwurf der Kindesvernachlässigung entziehen (vgl. SCHONE et al. 1997, S. 19f.).

„Die Tragik liegt (…) darin, dass die Mütter auf Grund dieser letzten – wenn auch nicht gelingenden - Verantwortungsübernahme überhaupt als Vernachlässigerinnen definiert und identifiziert werden können. Hieraus eine Täterinnenrolle zu konstruieren – wie es heute oft passiert – stellt diese Situation auf den Kopf, heißt auch, die gesellschaftliche Verantwortung für individuell nicht mehr beherrschbare Situationen zu leugnen“ (ebd., S. 20).

WEISS (2003, S. 22) ergänzt, dass sich die Dynamik der Vernachlässigung von der Dynamik des sexuellen Missbrauchs und der körperlichen Gewalt unterscheidet. Kinder, die sexuell missbraucht oder misshandelt werden, bekommen viel Aufmerksamkeit von ihren Eltern, wenn diese auch unangemessen, exzessiv und zerstörerisch ist. Vernachlässigte Kinder werden dagegen nicht wahrgenommen und erhalten kaum Anregungen. Ihre Eltern lassen ihnen selten körperliche und emotionale Zuwendung zukommen. Die Folge ist, dass die Bedürfnisse des Kindes oft falsch wahrgenommen werden und dass sie mit unangemessenen Reaktionen von Seiten der Eltern beantwortet werden.

1.3 Zusammenfassung

Obwohl Kindesvernachlässigung die häufigste Misshandlungsform darstellt, tritt sie in der öffentlichen Diskussion meist gegenüber der körperlichen Misshandlung und dem sexuellen Missbrauch zurück. Eine Ausnahme stellen die Fälle dar, bei denen die Vernachlässigung lebensbedrohliche oder tödliche Folgen für den Säugling oder das Kind hatte.

Kindesvernachlässigung bedeutet, dass die sorgeverantwortlichen Personen ständig oder wiederholt ihrem Kind das für seine physische und psychische Versorgung lebensnotwendige fürsorgliche Verhalten vorenthalten. Vernachlässigung ist ein chronischer Mangelzustand, der bereits pränatal einsetzen kann. In der Regel sind die Eltern mit der Versorgung ihres Kindes überfordert.

Die Kindesvernachlässigung ist im Säuglings- und Kleinkindalter von besonderer Bedeutung, da die jüngeren Kinder auf Fürsorge und Schutz angewiesen sind. Bis zum Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule bleibt sie häufig unerkannt.

Im folgenden Kapitel soll der Begriff der Kindesvernachlässigung konkretisiert werden. Dafür werden die kindlichen Grundbedürfnisse und die elterlichen Fähigkeiten im Umgang mit Kindern ausführlicher beschrieben sowie die Folgen der frühen Kindesvernachlässigung dargestellt.

2. Kindliche Lebensbedürfnisse und Folgen von Bedürfnisrestriktionen

2.1 Kindliche Grundbedürfnisse

Wie kindliche Bedürfnisse definiert sind, ist in hohem Maße von geltenden Normen und vom jeweiligen Lebensstandard abhängig (vgl. ENGELBERT 2000, S. 6). In unserer Gesellschaft haben sich in den letzten 200 Jahren Werte wie Liebe und Verständnis, Schutz und Geborgenheit, Versorgung, Verlässlichkeit und Kontinuität als Voraussetzungen einer gelingenden Entwicklung von Kindern herausgebildet. Daher ist es als besonders alarmierend zu werten, dass Kindesvernachlässigung wieder eine verschärfte Brisanz erhält (vgl. Schone et al. 1997, S. 23). Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie haben diese Maßstäbe bestätigt und zu einer Konkretisierung der kindlichen Bedürfnisse beigetragen. Im Folgenden werden die elementaren Bedürfnisse von Kindern nach SCHMIDTCHEN (1989, S. 106) aufgeführt:

- „ physiologische Bedürfnisse – Bedürfnisse nach Essen, Trinken, Ausscheidungen, Schlaf, Wach-Ruhe-Rhythmus, Sexualität etc.
- Schutzbedürfnisse – Bedürfnisse nach Schutz vor Gefahren, vor Krankheiten, vor Unbilden des Wetters, vor materiellen Unsicherheiten etc.
- Bedürfnisse nach einfühlendem Verständnis und sozialer Bindung - Bedürfnisse nach Empathie für verbale und nichtverbale Äußerungen und nach dialogischer Kommunikation, nach sicherer Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft etc.
- Bedürfnisse nach seelischer und körperlicher Wertschätzung – Bedürfnisse nach bedingungsloser Anerkennung als seelisch und körperlich wertvoller Mensch, nach körperlicher und seelischer Zärtlichkeit, nach Unterstützung der aktiven Liebesfähigkeit, nach Anerkennung als autonomes Wesen etc.
- Bedürfnisse nach Anregung, Spiel und Leistung – Bedürfnisse nach Unterstützung des Neugierverhaltens, nach Anregungen und Anforderungen, nach Unterstützung des Umwelt-Beherrschungsverhaltens etc.
- Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Bewältigung existentieller Lebensängste – Bedürfnisse nach Entwicklung eines Selbstkonzeptes, nach Unterstützung der eigenständigen Durchsetzung von Bedürfnissen und Zielen, nach Bewusstseinsentwicklung, nach Bewältigung von Lebensängsten und Lebenskrisen etc.“

Nach MASLOW (1978, S. 95ff.) lassen sich diese Bedürfnisse hierarchisch anordnen (vgl. Abb. 1). Ihm zufolge müssen zunächst die Bedürfnisse der unteren Ebenen (zum Beispiel die physiologischen Bedürfnisse) bis zu einem gewissen Grad befriedigt werden, damit sich auf der nächst höheren Stufe überhaupt Bedürfnisse entwickeln können.

Abb. 1: Grundbedürfnisse einer gesunden seelisch-körperlichen Entwicklung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Quelle: Schone et al. 1997, S. 24)

Hierauf bezogen bedeutet Vernachlässigung, dass die Bedürfnisse auf einer oder mehreren Ebenen dauerhaft unzureichend erfüllt werden. Je niedriger die verweigerten Bedürfnisse in der Pyramide angesiedelt sind, desto schwerwiegender sind die Folgen dieser Unterversorgung. So führt die Verweigerung physiologischer Bedürfnisbefriedigung nach einer gewissen Zeit zum Tod des Kindes. Dahingegen kann die Befriedigung höherer Bedarfsebenen auch aufgeschoben werden (vgl. SCHONE et al. 1997, S. 24f.).

Für die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist in unserer Gesellschaft die Familie zuständig. Sie ist dazu verpflichtet, für das Kind zu sorgen und seine Erziehung zu gestalten. Dies ist im Grundgesetz und im Kinder- und Jugendhilfegesetz festgelegt (vgl. ENGELBERT 2000, S. 7): „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“ (Art. 6 Abs. 2 GG; § 1 Abs. 2 SGB VIII–KJHG).

2.2 Bedürfnisse aus Sicht der Bindungstheorie und elterliche Fähigkeiten

Der Säugling hat ein Grundbedürfnis nach Schutz, emotionaler Sicherheit und Nähe im Rahmen einer vertrauensvollen und verlässlichen Bindungsbeziehung. Die Bindungstheorie von John Bowlby und Mary Ainsworth liefert wichtige Erkenntnisse über die Bedeutung der frühen Eltern-Kind-Beziehung.

Im Verlauf des ersten Lebensjahres entwickeln alle Säuglinge eine oder mehrere Bindungsbeziehungen zu engen Bezugspersonen ihrer Umgebung, meist Vater oder Mutter. Die von John Bowlby und Mary Ainsworth begründete Bindungstheorie geht davon aus, dass dieses Bindungssystem angeboren ist. Bei innerer Belastung (zum Beispiel Schmerz, Müdigkeit, Hunger) oder äußerer Bedrohung (zum Beispiel Abwesenheit der Bezugsperson, Unsicherheit) wird es aktiviert und Bindungsverhalten beim Kind ausgelöst. Dieses Verhalten umfasst das Suchen der Bindungsperson, Weinen, Nachlaufen und Anklammern (vgl. CHRIST 2002, S. 90f.).

Für den unselbstständigen Säugling und das Kleinkind ist die Schutzfunktion durch eine Bezugsperson von lebenserhaltender Bedeutung. Werden die Bedürfnisse nach Schutz und Hilfe befriedigt, beruhigt sich das Bindungssystem und das diesem komplementär entgegen gesetzte System der Erkundung kann aktiviert werden. Das Kind nutzt enge Bindungspersonen als „sichere Basis“, von der aus es Räume, Menschen oder Spielzeug erkundet (vgl. BRISCH 2000, S. 91).

Kleinkinder regulieren demnach ihr Bindungsbedürfnis durch Nähe, Körperkontakt und Distanz zur Bindungsperson (vgl. ZIEGENHAIN 1996, S. 85).

Mary Ainsworth begründete das Konzept der Feinfühligkeit für das Pflegeverhalten der Bezugsperson. Feinfühliges Verhalten beinhaltet das Wahrnehmen der Signale des Kindes, richtiges Interpretieren dieser Zeichen und angemessenes und promptes Beantworten der kindlichen Bedürfnisse. Kennzeichen des feinfühligen Umgangs zwischen Eltern und Kind sind viel Blick-, Stimm- und Körperkontakt sowie überwiegend positive Reaktionen aufeinander. Mangelnde Feinfühligkeit äußert sich im Kleinkindalter in der unzureichenden oder fehlenden Unterstützung von Bindungs- und Explorationsbedürfnissen oder in der Unterstellung feindseliger Absichten des Kindes gegen seine Eltern (vgl. ZIEGENHAIN et al. 2004, S. 49f.).

Von entscheidender Bedeutung für die psychische Entwicklung des Kindes ist die Fähigkeit der Eltern zur Empathie. Dies bedeutet, dass sie in der Lage sind, die Bedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen, auch wenn sie den eigenen Wünschen zuwiderlaufen und sich darüber bewusst sind, dass das Kind auch unter dem Elternverhalten leiden kann. Diese selbstreflexive Funktion der Eltern ist ein wichtiger Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung. Sie ist bei gesunden Eltern vorhanden und bildet die Basis für eine sichere Bindung (vgl. DENEKE 2005, S. 149).

Werden die Bedürfnisse des Säuglings in feinfühliger Art und Weise von seiner Bindungsperson beantwortet, entwickelt er eine sichere emotionale Bindung. Dies bedeutet, dass er seine Bezugsperson bei Bedrohung und Gefahr mit der Erwartung von Schutz und Geborgenheit aufsucht. Ungefähr zwei Drittel aller Kinder, entwickeln während des ersten Lebensjahres eine sichere Bindungsbeziehung.

Ein Kind, dessen Bindungsperson sich in einer für ihn wechselhaften und wenig nachvollziehbaren Weise verhält, entwickelt eine unsicher-ambivalente Bindung. Manchmal werden seine Signale zuverlässig und feinfühlig beantwortet und ein anderes Mal reagiert seine Bezugsperson mit Ablehnung und Zurückweisung. Das Kind hat nicht die Gewissheit, dass seine Eltern verfügbar und hilfsbereit sind, wenn es sie braucht.

Falls die Bezugsperson von dem Kind als emotional zurückweisend oder feindselig erlebt wird, entsteht meist eine unsicher-vermeidende Bindung. Bei Hilfebedarf hat das Kind kein Vertrauen auf die Unterstützung der Bindungsperson, sondern es erwartet Zurückweisung und fühlt sich unzureichend emotional aufgefangen.

Auch wenn die sichere und die unsicheren Bindungsbeziehungen unterschiedliche Auswirkungen auf die weitere sozial-emotionale Entwicklung des Kindes haben, sind alle Strategien als Ausdruck einer normalen Verschiedenartigkeit von Bindungserfahrungen zu verstehen (vgl. BRISCH 2000, S. 92ff.).

Im Laufe der weiteren Forschung wurde eine vierte Form von Bindungsverhalten bei Kindern gefunden. Diese Kinder fielen dadurch auf, dass sie sich keiner der drei anderen Bindungskategorien zuordnen ließen. Sie zeigen bizarres oder konflikthaftes Verhalten gegenüber ihrer Bezugsperson, so zum Beispiel Bewegungsstereotypien, Erstarren oder Verstecken. Sie haben keine Strategie um ihre Bindungserfahrungen zu organisieren. Dieser vierte Bindungstyp wird als desorganisiert/desorientiert bezeichnet und mit weiteren Subtypen unter dem Begriff der hochunsicheren Bindung zusammengefasst. Kinder mit diesem Bindungsverhalten haben in der Regel hochgradig negative Interaktionserfahrungen mit ihren Bezugspersonen gemacht (vgl. ZIEGENHAIN et al. 2004, S. 48).

Ziegenhain et al. (2004, S. 57f.) nehmen an, dass Kinder innere, mentale Arbeitsmodelle über ihre Bindungserfahrungen entwickeln. Sie dienen der Organisation und der Regulation von Gefühlen, Einschätzungen und Erwartungen. Ihre Beziehungserfahrungen werden bewusst und unbewusst gespeichert und mit Gefühlen und Bewertungen über diese Erfahrungen verknüpft: „Wenn ich unglücklich bin, werde ich getröstet“ oder aber „wenn ich unglücklich bin, muss ich alleine zurechtkommen“ (ebd., S. 57).

Erlebt das Kind seine Bindungsperson vorwiegend als emotional verfügbar und unterstützend, so wird es eine Vorstellung von sich selbst als kompetent und liebenswert entwickeln. Reagiert die Bindungsperson wiederholt mit Zurückweisung auf die Bedürfnisäußerungen des Kindes, so begünstigt dies die Entwicklung eines Bildes beim Kind als wenig liebenswert und akzeptiert. Diese inneren Vorstellungen beeinflussen die Haltung gegenüber anderen Menschen und den Umgang mit ihnen. So werden neue Beziehungen vor dem Hintergrund bisheriger Beziehungserfahrungen und –erwartungen geknüpft.

Die Eltern üben großen Einfluss auf die Bildung solcher Arbeitsmodelle aus. Etwa bis zum vierten Lebensjahr übernimmt das Kind die Bewertung der Eltern bei der Repräsentation von Erfahrungen oder Ereignissen. Die Entwicklung des kindlichen Selbstkonzeptes ist eng mit elterlicher Kritik und Abwertung oder Wertschätzung und Würdigung verbunden (vgl. ebd., S. 57f.).

2.3 Auswirkungen auf Bindungsqualität und Beziehung

Vernachlässigte Kinder zeigen vor allem unsichere oder hochunsichere Bindungsverhaltensweisen, meist des vermeidenden Typs. Ihre Eltern reagieren vorwiegend in zu geringem Maße auf sie und sind emotional sehr zurückgezogen. Sie gehen zu selten auf die Bedürfnisäußerungen ihres Kindes ein und regen von sich aus kaum Spiele und Aktivitäten mit ihm an. Ein vernachlässigtes Kind erlebt seine Eltern häufig als unzuverlässig und kaum verfügbar. In dieser Situation besteht die Gefahr, dass das Kind eine vermeidende Beziehungsstrategie entwickelt, in der es seine Gefühle und seine gesamte kommunikative Aktivität unterdrückt. Es ist bei der Regulation seiner Gefühle, Bedürfnisse und in seiner ganzen sozialen und kognitiven Entwicklung auf sich allein gestellt. In Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass vernachlässigte Kinder um das erste Lebensjahr sehr passiv waren und bereits kognitive Entwicklungsverzögerungen aufwiesen (vgl. ZIEGENHAIN 1996, S. 90).

Des Weiteren betonen ZIEGENHAIN et al. (2004, S. 102), dass eine hochunsichere Bindung in der Regel mit weiteren Risikofaktoren einhergeht, die unheilvoll zusammenwirken. Hochunsichere Bindungen wurden, abgesehen von Kindern mit Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrungen, ebenfalls bei Kindern mit psychisch kranken Eltern sowie bei Familien mit hohen psychosozialen Risiken gefunden. Zu letzteren Risikofaktoren zählen vor allem Armut, fehlende soziale Unterstützung und mangelnde Bildung. Eigene negative Kindheitserfahrungen der Eltern können sich ebenfalls ungünstig auf die Bindungsbeziehung zu ihrem Kind und auf dessen Entwicklung auswirken.

STRAUSS (2005, S. 112) hebt hervor, dass Vernachlässigung und Missbrauchserfahrungen in der frühen Kindheit unsichere oder hochunsichere Bindungsstrategien zur Folge haben können und einen erheblichen Risikofaktor für die Entwicklung psychopathologischer Veränderungen darstellen. Auf Grund von traumatischen Erfahrungen zeigen diese Kinder auffällige Bindungsstrategien als durchgängiges Verhaltensmuster.

In den diagnostischen Manualen (ICD-10, DSM-IV) sind diese Formen schwerwiegender Psychopathologie des Kleinkindalters als Bindungsstörungen definiert. Dabei werden zwei Formen von Bindungsstörungen unterschieden. Zum einen die „reaktive Bindungsstörung des Kleinkindalters“ (WHO 2006, F94.1) und zum anderen die „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung“ (WHO 2006, F94.2). Mit der ersten Störung werden Kinder beschrieben, die in ihrer Bindungsbereitschaft gegenüber fremden Personen sehr gehemmt sind und mit Ambivalenz und Furchtsamkeit reagieren. Sie zeigen eine verminderte Ansprechbarkeit, Rückzugsverhalten oder aggressives Verhalten gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen Personen. Kinder vom Typ II weisen ein entgegengesetztes Verhalten auf. Ihre Kontaktbereitschaft gegenüber fremden Personen ist enthemmt und distanzlos. Auf Grund undurchschaubarer Bindungsbeziehungen äußern sie Bindungsbedürfnisse (vor allem nach Nähe und Trost) unterschiedslos gegenüber Bezugspersonen und fremden Personen. Beide Verhaltensweisen werden als direkte Folge von extremer emotionaler und/oder körperlicher Vernachlässigung und Misshandlung oder als Folge eines ständigen Wechsels der Bezugspersonen angesehen (vgl. BRISCH 2000, S. 96).

STRAUSS (2005, S. 112) weist darauf hin, dass es bis heute keine genauen Angaben darüber gibt, wie häufig diese Störungen als Folge von Traumatisierungen auftreten.

BRISCH (2000, S. 100) hebt hervor, dass ein in der frühen Kindheit erworbenes sicheres Bindungsmuster als ein wichtiger Schutzfaktor für die weitere kindliche Entwicklung anzusehen sei. Somit würde der sicheren Bindungsenwicklung eine primär präventive Funktion zufallen.

Egeland (2002, S. 321) ergänzt, dass der Einfluss der ersten Bindungsbeziehungen von Kindern auf deren spätere Entwicklung wichtige Ansatzpunkte für Interventionen biete. Die Hilfsangebote müssten Eltern dabei unterstützen, eine positive Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen.

2.4 Folgen früher Kindesvernachlässigung

Das Ausmaß der Vernachlässigung und deren Folgen hängen von verschiedenen Faktoren ab. So spielt es eine große Rolle, ob die Unterversorgung auf bestimmte Ebenen der kindlichen Bedürfnisse eingeschränkt bleibt (zum Beispiel körperliche Verwahrlosung) oder alle Versorgungsbereiche umfasst. Des Weiteren ist die Dauer der Vernachlässigung von Bedeutung. Die Unterversorgung des Kindes kann entweder situativ sein, als Folge einer vorübergehenden Lebenskrise, oder chronisch verlaufen und somit zur täglichen Beziehungserfahrung für ein Kind werden. Je länger die Vernachlässigung andauert, desto schwerwiegendere Folgen hat sie für das Kind. Treten die Schädigungen früh ein, wirken sie sich auf seine ganze noch unentwickelte Persönlichkeit aus. Je nachdem, wie stark die körperliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes beeinträchtigt ist, führt die Vernachlässigung zu bleibenden Schäden und kann vor allem für Säuglinge und Kleinkinder lebensbedrohlich sein (vgl. Blum-Maurice 2002, S. 113ff.).

Wie bereits erwähnt, hat die Bindungsforschung die Auswirkungen ablehnender oder unzuverlässiger Beziehungserfahrungen für die Sozialisation und Entwicklung von Kindern verdeutlicht. Vernachlässigte Kinder sind insbesondere in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt, Beziehungen einzugehen und zeigen im Umgang mit Gleichaltrigen ein aggressives oder passives Verhalten. Diese Kinder sind im Alter von zwei bis sechs Jahren weniger einfühlsam und reagieren auf den Kummer anderer häufig mit Aggression statt mit Empathie. Ihnen fällt es schwer, um Hilfe zu bitten und sie sind neuen Bekanntschaften gegenüber distanzlos oder misstrauisch. Es besteht die Gefahr, dass sie kein sicheres Vertrauen in ihre primären Beziehungen entwickeln können, das sie jedoch benötigen, um weitere Entwicklungsschritte leisten zu können (vgl. ebd., S. 119f.).

RENÉ SPITZ (1967, S. 289ff.) hat die Auswirkungen mangelnder Bedürfnisbefriedigung unter dem Begriff „Hospitalismussyndrom“ beschrieben. Die deprivierten Kinder fielen ihm durch Inaktivität und Mattigkeit, einen leeren Gesichtsausdruck, verlangsamte und verzögerte motorische Reaktionen und eine verzögerte Entwicklung auf. Er kam zu dem Schluss, dass „ein krasser Mangel an Objektbeziehungen die Entwicklung in allen Bereichen der Persönlichkeit zum Stillstand bringt“ (ebd., S. 296). Die neuere Säuglingsforschung bestätigt ebenfalls diesen Zusammenhang zwischen Apathie und Vernachlässigung. Die motorische Entwicklung und die Sprachentwicklung der Kinder leiden unter der fehlenden Stimulation und dem fehlenden Feedback durch die Bezugsperson (vgl. WEISS 2003, S. 23).

Eine Längsschnittstudie von ESSER (1984, zit. n. ENGFER 2005, S. 5) gibt eine Übersicht über die Folgen der Vernachlässigung in den ersten vier Jahren eines Kindes. Demnach zeigten sich bei Säuglingen und Kleinkindern im Alter von drei Monaten deutliche Anzeichen von Dysphorie[1] und Probleme bei der Ausbildung einer Routine beim Trinken, Schlafen und bei der Verdauung. Als die Kinder zwischen zwei und vier Jahren alt waren, wiesen sie schwere Rückstände in ihrer kognitiven Entwicklung auf und mit viereinhalb Jahren waren sie auffallend aggressiver, impulsiver und schlechter steuerbar als die Kinder der Kontrollgruppe.

[...]


[1] Unter Dysphorie versteht man eine bedrückte, gereizte und freudlose Stimmung. In der amerikanischen Psychiatrie bezeichnet der Begriff weiterhin eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Leben oder mit sich selbst sowie Unglücklichsein (vgl. PETERS 1990, S. 138).

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Kindesvernachlässigung in den ersten Lebensjahren. Hintergründe, Risikofaktoren und sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten
Hochschule
Universität Münster
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
105
Katalognummer
V65198
ISBN (eBook)
9783638578288
ISBN (Buch)
9783656793878
Dateigröße
842 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindesvernachlässigung, Lebensjahren, Hintergründe, Risikofaktoren, Handlungsmöglichkeiten
Arbeit zitieren
Diplom-Pädagogin Astrid Linnemann (Autor:in), 2006, Kindesvernachlässigung in den ersten Lebensjahren. Hintergründe, Risikofaktoren und sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65198

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