Verstärkte Zusammenarbeit - differenzierte Integration in der Praxis

Eine Antwort auf die erweiterte EU?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

33 Seiten, Note: 1.3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die Debatte um „Kerneuropa“

III. Differenzierte Integration – oder „Im Westen nichts neues“

IV. Die verstärkte Zusammenarbeit im Vertrag von Amsterdam
4.1. Die Ausgangslage
4.2. Vertragliche Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit
4.3. Bilanz nach Amsterdam: „inflexible Flexibilität“

V. Die verstärkte Zusammenarbeit im Vertrag von Nizza
5.1. Das vierte „left-over“ von Amsterdam
5.2. Vertragliche Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit
5.3. Bilanz nach Nizza: begrenzte Reform

VI. Die verstärkte Zusammenarbeit im Verfassungsentwurf
6.1. Bestimmungen zur verstärkten Zusammenarbeit
6.2. Bilanz: differenzierte Integration in der zukünftigen EU

VII. Fazit und Ausblick

VIII. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Die politischen Entwicklungen der neunziger Jahre und die damit verbundene Perspektive der Osterweiterung haben die Europäische Union vor das Dilemma Vertiefung versus Erweiterung gestellt. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Heterogenität innerhalb der Gemeinschaft und der voraussichtlichen Entscheidungs­blockaden stellt sich die Frage, wie eine EU mit mehr als 25 Mitgliedern funktionieren soll. Die Befürchtung, die bevorstehenden Erweiterungsrunden könnten den Ausbau der europäischen Integration gefährden oder gar zu einem Rückschritt in Bezug auf den erreichten Integrationsstand führen, entfachten in den letzten Jahren eine komplexe Debatte um die Finalität des Integrationsprozesses.

Im Mittelpunkt dieser Debatte steht das Konzept differenzierter Integration, das einem kleinen Kreis von fähigen und willigen Mitgliedstaaten ermöglichen soll, durch engere Kooperation den europäischen Integrationsprozess - auch unter Zurücklassen anderer Mitgliedstaaten - voranzutreiben Dadurch soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass der Prozess der europäischen Integration durch die Sonderinteressen einzelner Mitgliedstaaten blockiert wird und stagniert. Rechtlich verankert wurde dieses Konzept als das Instrument der sogenannten „verstärkten Zusammenarbeit“ durch den Vertrag von Amsterdam und wurde durch den Nizza-Vertrag und den Verfassungsentwurf des Konvents reformiert und weiterentwickelt. Diese Arbeit geht der Frage nach, ob und inwieweit die verstärkte Zusammenarbeit eine Antwort auf die erweiterte Europäische Union sein könnte.

Das erste Kapitel der Arbeit beschäftigt sich mit der Debatte um das sogenannte „Kerneuropa“ bzw um das Konzept der differenzierten Integration, wobei auf die wichtigsten Differenzierungsvorschläge eingegangen wird, welche im Laufe des letzten Jahrzehnts von Politikern wie Joschka Fischer, Jacques Delors, Jacques Chirac oder Wolfgang Schäuble formuliert wurden. Das zweite Kapitel zeigt anhand von Beispielen wie das Schengener Abkommen und die WWU, dass sich Formen differenzierter Integration schon seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses herausgebildet und sich als erfolgreich erwiesen haben. Im dritten Kapitel gehe ich auf die konkrete vertragliche Verankerung des Konzeptes der verstärkten Zusammenarbeit ein, auf die Umstände seiner Einbeziehung in den Vertrag von Amsterdam sowie auf die Gründe, die zu seiner starken Einschränkung führten. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Reform der verstärkten Zusammenarbeit durch den Vertrag von Nizza. Die zweite Reform des Instrumentes der verstärkten Zusammenarbeit durch den Verfassungsentwurf und die Perspektiven, die sich für die differenzierte Integration in einer erweitereten EU bieten, werden im fünften Kapitel erläutert, bevor ich dann zum Fazit komme.

II. Die Debatte um „Kerneuropa“

Die schwierige Ratifikation des Maastrichter Vertrages sowie der anspruchsvolle Drei-Stufen-Plan für die Währungsunion haben Grenzen der Fähigkeit und der Bereitschaft einiger EU-Staaten erkennen lassen, eine weitere Vertiefung der EU mitzutragen. Als Folge dieser Entwicklungen und im Hinblick auf die bevorstehende Osterweiterung nahm das Interesse an einer Flexibilisierung bzw. Differenzierung der Integration zu und führte Mitte der neunziger Jahre zu der Neubelebung der Debatte um die Finalität des Integrationsprozesses.

Erste Konzepte differenzierter Integration waren schon in den siebziger Jahren formuliert worden, doch war Differenzierung zu der Zeit allein als eine Übergangsstrategie des zeitlich befristeten Zurückbleibens einzelner Mitglieder hinter dem acquis gesehen. Auch war das gemeinschaftliche Leitbild der Integration noch ungeteilt. Hingegen findet die heutige Debatte vor dem Hintergrund diffuser gewordener Vorstellungen von der Finalität der Union statt, sowie vor dem Hintergrund ihrer zunehmenden Heterogenität und der damit verbundenen Abnahme der Kohäsion zwischen den einzelnen Mitgliedern.

Schon 1994 hatten sich Wolfgang Schäuble und Karl Lamers im inzwischen berühmten „Schäuble-Lamers-Papier“ für eine Effizienzsteigerung des Entscheidungs-verfahrens und der Demokratisierung der Willensbildung ausgesprochen, und zwar durch die Verfestigung eines festen Kerns von „integrationsorientierten und kooperationswilligen Ländern“. Dieser Kern habe die Aufgabe, „den zentrifugalen Kräften in der immer größer werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung zwischen einer eher protektionismusanfälligen Süd-West-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Frankreich und einer stärker dem freien Welthandel verpflichteten Nord-Ost-Gruppe unter einer gewissen Anführung durch Deutschland zu verhindern.“[1]

Die Länder des festen Kerns müssten sich an allen Politikbereichen beteiligen und „gemeinsam erkennbar gemeinschaftsorientierter handeln als andere und gemeinsame Initiativen einbringen, um die Union weiterzuentwickeln.“[2] Zu dem festen Kern zählten Schäuble und Lamers fünf Länder: Belgien, Luxemburg und die Niederlande, sowie Frankreich und Deutschland als „Kern des festen Kerns“; prinzipiell müsse es allen EU-Mitgliedern offen stehen, der Kerneuropa-Gruppe beizutreten.

Im Januar 2000 sprach der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, in einem Interview in der Pariser Zeitung „Le Monde“ von der Gefahr, eine EU mit 25 Mitgliedstaaten könne das Projekt der europäischen Integration „verwässern“ und die politischen Fernziele der EU könnten nicht erreicht werden. Daher müsse es einer Avantgarde von Mitgliedstaaten gestattet sein, eine vertraglich festgelegte „Föderation von Nationalstaaten“ innerhalb der EU zu bilden, um vor allem eine bessere Abstimmung der Währungspolitik, eine wirkungsvolle Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Schaffung eines „Raumes der Sicherheit“ weiterverfolgen zu können.[3]

Am 12 Mai 2000 hielt der deutsche Außenminister Joschka Fischer in der Berliner Humboldt-Universität seine vielzitierte integrationspolitische Grundsatzrede. Fischer forderte den „Übergang der Union hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation.“ Zur Verwirklichung dieser Vorstellung verwies Fischer unter anderem auf die Vorschläge Jacques Delors` zur Schaffung einer Avantgarde von Staaten, die den Integrationsprozess vorantreiben sollten, und sprach sich für die Bildung eines „Gravitationszentrums“ aus. Vor diesem Hintergrund sprach Außenminister Fischer von einem „bewusst politischen Neugründungsakt Europas“, wozu sein Modell den Abschluss eines neuen Grundvertrags vorsah, durch den sich die Mitglieder der Avantgarde „eigene Institutionen geben, eine Regierung ... ein starkes Parlament, einen direkt gewählten Präsidenten.“[4] Fischer wies darauf hin, dass angesichts der bevorstehenden Osterweiterung die EU vor die Alternative „Erosion oder Integration“ gestellt wird; deshalb muss eine Gruppe von kooperationsfähigen und -willigen Staaten „aus tiefer europäischen Überzeugung heraus“ mit der politischen Integration voranschreiten und die Zusammenarbeit auf etlichen Gebieten (z.B. beim Umweltschutz, im Bereich der Verbrechensbekämpfung, der Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik, sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik) vertiefen. Er betonte jedoch, dass „verstärkte Zusammenarbeit nicht als eine Abkehr von der Integration verstanden werden darf.“[5]

Ähnlich betonte der französische Staatspräsident Jacques Chirac in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag die Notwendigkeit, die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses durch die Bildung einer „Avantgarde-Gruppe“ zu sichern.[6] Dazu sollten kein neuer Vertrag mit neuen Institutionen geschlossen, sondern als „flexibler Koordinationsmechanismus“ nur ein Sekretariat geschaffen werden, mit der Aufgabe, in dieser Gruppe für Kohärenz zu sorgen. Ähnlich wie Fischer vertrat auch Chirac die Ansicht, die Avantgarde-Gruppe solle „die Rolle eines Wegbereiters spielen, indem sie auf das bei der Regierungskonferenz festgelegte neue Verfahren zur verstärkten Zusammenarbeit zurückgreift oder erforderlichenfalls auch Kooperationen außerhalb des Vertrags eingeht, ohne dabei allerdings die Kohärenz und den Besitzstand der Union je in Frage zu stellen.“[7]

Unmittelbar nach dem Scheitern der EU-Verfassung im Dezember 2003 geriet das Thema „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ erneut in die Schlagzeilen und wurde wochenlang heiß diskutiert. Bundeskanzler Schröder äußerte sich im April dieses Jahres zur bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union und war dabei der Ansicht, dass man sich überlegen müsse, wie die europäische Einigung in einer deutlich vergrößerten EU vorangebracht werden kann. Schröder war der Meinung, im Hinblick auf die Erweiterung müssten Wege gesucht werden, die das Voranschreiten einer Gruppe von Mitgliedstaaten ermöglichen und zwar in den Bereichen, in denen dieses für das Voranschreiten der Integration notwendig ist.

III. Differenzierte Integration – oder „Im Westen nichts neues“

Im Zuge der Debatte um die Flexibilisierung der Integration wurde mit dem Vertrag von Amsterdam das Konzept der „verstärkten Zusammenarbeit" in den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und in den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) festgeschrieben. Diese Form der Zusammenarbeit soll es einem kleinen Kreis von fähigen und willigen Mitgliedstaaten ermöglichen, durch engere Kooperation den europäischen Integrationsprozess unter der Bedingung der Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens der Union voranzutreiben, auch dann, wenn nicht alle Mitgliedstaaten sich daran beteiligten. Dadurch soll der Gefahr vorgebeugt werden, dass der Prozess der europäischen Integration durch die Sonderinteressen einzelner Mitgliedstaaten blockiert wird.

An sich sind weder das Konzept noch die konkrete Anwendung dieser Form der Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union nichts neues. Unterschiedliche Integrationsgeschwindigkeiten durch praktische Verfahrensweisen haben sich seit Beginn des europäischen Integrationsprozesses sowohl im Rahmen der Gründungsverträge als auch außerhalb von bzw. komplementär zu ihnen herausgebildet. Im Rahmen der EU gibt es eine Reihe von Praktiken, die, ohne unbedingt Vorschriften des Vertrags anzuwenden, Elemente eines Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten bilden.[8]

Erstens ergeben sich unterschiedliche Integrationsgeschwindigkeiten aus den längeren Fristen, die in Gemeinschaftsrichtlinien einzelnen Mitgliedstaaten im Hinblick auf bestimmte spezifische Probleme eingeräumt werden. Obgleich diese Fristen in Einzelfällen sehr lang sein können und von ihnen oft Gebrauch gemacht wird, haben sie sich bislang als unproblematisch erwiesen, da stets ein verbindlicher Termin festgelegt wurde, von dem an das Gemeinschaftsrecht für alle Mitgliedstaaten gilt. Übergangsfristen wurden zum Beispiel bei der Errichtung der Zollunion und bei allen Erweiterungsrunden als Instrumente der zeitlichen Abstufung erfolgreich angewandt.

Die Westeuropäische Union war eine Integrationsform, die anfangs außerhalb des vertraglichen Rahmens des Integrationsprozesses stand und erst im Vertrag von Maastricht als „integraler Bestandteil der Entwicklung der Europäischen Union“[9] rechtlich verankert wurde.

Darüber hinaus sind nicht alle Mitgliedstaaten der Union auch Mitglieder der WEU und müssen es auch nicht werden. Insofern erscheint die WEU als eine Form differenzierter Integration auf dem Gebiet der Verteidigungspolitik.

Ein weiteres Beispiel ist das außerhalb der Gemeinschaftsverträge abge­schlossene europäische Gerichtsstandsübereinkommen, das dem Europäischen Gerichtshof Rechtssprechungs-zuständigkeiten zuweist.

Das Schengener Abkommen von 1985 zum Abbau der Kontrollen an den Binnengrenzen wurde ebenfalls außerhalb des rechtlichen Rahmens der Gemeinschaftsverträge geschlossen und durch den Vertrag von Amsterdam in den rechtlichen Rahmen der EU einbezogen. Es ist ein klassisches Beispiel für die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten, da es von Anfang an so konzipiert war, dass es mit den Zielen des EG-Vertrages in Einklang stand und den Beitritt weiterer Staaten ermöglichte. Auch im Bereich der Sozialpolitik wurde das Konzept der Flexibilisierung angewandt. So galten zum Beispiel die Bestimmungen der im Jahre 1989 unterzeichneten Sozialcharta und das darauf aufbauende Sozialprotokoll zum Vertrag von Maastricht nicht für Großbritannien, dass erst bei den Verhandlungen in Amsterdam einlenkte.

Die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein weiteres Beispiel differenzierter Integration. Drei Mitgliedstaaten haben die gemeinsame Währung nicht eingeführt: das Vereinigte Königreich und Dänemark, für die eine Ausnahmeregelung „opt-out" gilt, sowie Schweden, das derzeit nicht alle Kriterien bezüglich der Unabhängigkeit der Zentralbank erfüllt. In den zehn neuen Beitrittsländern wurde der Euro ebenfalls noch nicht eingeführt, da diese Staaten die Konvergenzkriterien bislang nicht erfüllen.

Sobald dieses der Fall sein wird steht den neuen Mitgliedsländern der Beitrtt zum Euro-Raum offen.

[...]


[1] Schäuble, Wolfgang/Lamers, Karl: Überlegungen zur Europäischen Politik, Bonn 1994, S. 5ff.

[2] Ebenda

[3] Vgl. “Jacques Delors critique la stratégie de’élargissement de l’Union”. In „Le Monde” vom 19.01.2000, S. 2. Deutsche Übersetzung in: Zeitschrift für die Zukunft des deutsch-französischen Dialogs, Band 56 (2000), Nr. 3, S. 232-234

[4] Vgl. Joschka Fischer: „Vom Staatenbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“. Rede am 12 Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin

[5] Ebenda

[6] Vgl. Jacques Chirac: „Mit Deutschland und Frankreich eine Avantgarde-Gruppe bilden“. In FAZ vom 28.06.2000

[7] Vgl. Rede des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac vor dem deutschen Bundestag am 27.06.2000

[8] Tsatsos, Dimitris Th. (Hrsg.): Verstärkte Zusammenarbeit: Flexible Institutionen oder Gefährdung der Integration?, 1. Auflage, Baden-Baden 1999, S.37 ff.

[9] EUV, Artikel J4 Abs. 2

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Verstärkte Zusammenarbeit - differenzierte Integration in der Praxis
Untertitel
Eine Antwort auf die erweiterte EU?
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar: EU - ausgewählte Politikaspekte
Note
1.3
Autor
Jahr
2004
Seiten
33
Katalognummer
V65177
ISBN (eBook)
9783638578127
ISBN (Buch)
9783656507413
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verstärkte, Zusammenarbeit, Integration, Praxis, Eine, Antwort, Hauptseminar, Politikaspekte
Arbeit zitieren
Camelia Ratiu (Autor:in), 2004, Verstärkte Zusammenarbeit - differenzierte Integration in der Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65177

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