Die Spätabtreibung in der BRD. Eine Zwischenbilanz


Examensarbeit, 2006

97 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Der § 218 StGB
2.1 Historischer Verlauf des strafrechtlichen Lebensschutzes
2.2 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
2.3 Die Reformen der 1970er Jahre
2.4 Die aktuelle Formulierung der Abtreibungsregelung
2.5 Die Beratungsregelung
2.5.1 Strafrechtliche Grundlagen
2.5.2 Die Beratungsstellen
2.6 Die Indikationsstellungen
2.6.1 Die kriminologische Indikation
2.6.2 Die medizinische Indikation
2.6.3 Die versteckte kindliche Indikation
2.7 Statistische und demographische Entwicklungen

3 Der Begriff Behinderung
3.1 Klassifikationssysteme
3.2 Die Klassifikation von Behinderung im Allgemeinen
3.2.1 Die gesetzliche Klassifikation
3.2.2 Die Klassifikation der WHO
3.3 Die Klassifikation von geistiger Behinderung
3.3.1 Die medizinische Klassifikation
3.3.2 Die pädagogische Klassifikation
3.4 Die Klassifikation von Schwerstbehinderung
3.5 Ethische Aspekte der Klassifikation

4 Medizinische Aspekte zur Frage der Spätabtreibung
4.1 Pränataldiagnostik (PND)
4.2 Pränatale Untersuchungen zur Erfassung einer Schädigung des Kindes
4.3 Die ethische Problematik der Pränataldiagnostik
4.4 Das Recht auf Wissen und Nicht-Wissen
4.5 Methoden der Spätabtreibung
4.6 Früheuthanasie
4.6.1 Aktive Früheuthanasie
4.6.2 Indirekte Früheuthanasie
4.6.3 Passive Früheuthanasie
4.6.4 Die ethische Problematik der passiven Früheuthanasie
4.7 Das Dilemma der medizinischen Indikation und die Medizinisierung eines sozialen Problems
4.8 Die Einbecker Empfehlungen

5 Gesellschaftliche Aspekte zur Frage der Spätabtreibung
5.1 Privatisierung der Abtreibung
5.2 Die Deformation des Rechtsbewusstseins
5.3 Das Problem der Verantwortung

6 Ethische Aspekte zur Frage der Spätabtreibung
6.1 Das heterogene Menschenbild der Gesellschaft
6.2 Die Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Ethik
6.2.1 Die Tugenden- und Werteethik
6.2.2 Der Utilitarismus
6.2.3 Der Präferenzutilitarismus
6.2.4 Der Status des Ungeborenen
6.2.5 Die Diskursethik
6.3 Der unlösbare Konflikt
6.4 Die Möglichkeit der Pränatalen Diagnostik als soziale Herausforderung
6.5 Politische und gesellschaftliche Grundlagen

7 Heilpädagogische Aspekte zur Frage der Spätabtreibung
7.1 Auswirkungen auf das Arbeitsfeld der Heilpädagogen
7.2 Auswirkungen auf das Lebensrecht und Bildungsrecht

8 Schlussbetrachtung

9 Literatur

10 Anhang
Anhang A: Tabelle “ Gezielte invasive Maßnahmen der pränatalen Diagnostik“
Anhang B: Kopie der Online Dokumente

1 Einleitung

Abtreibungen waren seit jeher – nicht nur in Deutschland – ein vorrangig gesellschaftliches Problem. Weder Staat noch Kirche konnten durch sanktionierende Maßnahmen Einhalt gebieten. Die Pluralisierung von Werten, Meinungen und Normen der heutigen Zeit scheinen eine allgemeingültige Regelung in immer weitere Ferne rücken zu lassen. Dennoch versucht der Gesetzgeber, diesen unlösbaren Konflikt durch den § 218 nicht moralisch, aber juristisch zu regeln.

Seit einer Gesetzesänderung im Jahre 1995, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die daraus entstandene Diskussion um die bundeseinheitliche Neuregelung des § 218 StGB ausgelöst wurde, gliedert sich dieser heute in die Beratungsregelung sowie die kriminologische und die medizinische Indikation. Grundlage dieser Reformation soll die Gleichstellung des Lebensrechts von Mutter und Kind sein und ist vom Bundestag mit dem Ziel verabschiedet worden, das Leben ungeborener Kinder, vor allem von Kindern mit einer Behinderung, besser schützen zu können. Dass die Reformation des § 218 an sich bereits paradox, sogar lebensbedrohlich ist, zeigt sich daran, dass einerseits Leben geschützt und dessen Wert innerhalb der Gesellschaft gehoben werden soll, andererseits jedoch ein bereits eigenständig lebensfähiges Kind aufgrund einer unzumutbaren Belastung der Mutter bis zum Tage seiner Geburt abgetrieben werden kann. Diese Möglichkeit lässt Fragen wie „Wann ist der Mensch ein Mensch?“ oder „Was macht einen Menschen zur Person?“ aufkommen und auch danach, worin die ethische Rechtfertigung dieser Gesetzesänderung liegt.

Die schreckliche Konsequenz der so genannten Spätabtreibungen, Abtreibungen jenseits der 23. Schwangerschaftswoche – als staatlich tolerierte Nebenwirkung sozusagen – sind Lebendgeburten, die genaue Anzahl ist jedoch nicht bekannt, da keine hinreichende Meldepflicht besteht.

Das Problem der Abtreibung muss jedoch auch in seinem historischen, gesellschaftlichen, politischen und philosophischen Kontext betrachtet werden, wobei die ethischen und moralischen Beweggründe und das (Un-)Rechtsbewusstsein einer Gesellschaft im Fordergrund stehen, die den Stellenwert von Müttern oder Familien von der “Qualität“ ihrer Kinder abhängig machen.

Welches Bild von Behinderung ermöglicht einer Familie in einem demokratischen Rechtsstaat, einen Arzt erfolgreich(!) auf Schadensersatz zu verklagen, weil sie nach einer misslungenen Spätabtreibung ein “behindertes Kind“ versorgen müssen, das als entstandener Schaden bezeichnet wird? Dabei gilt es, das Konstrukt “Behinderung“ genauer zu betrachten, welche diffusen Vorstellungen, Ängste und Vorurteile damit in Verbindung stehen und wie diese durch die juristische Regelung und die Medizinisierung der Schwangerschaft noch verstärkt werden. Die Wechselwirkung von Gesellschaft und Medizin, Politik und Medien führt zu einem immer einseitiger werdenden, auf die Defektivität und Unzulänglichkeit einer pränatalen Schädigung orientierten Sichtweise von Behinderung, die durch die Projektion eigener Werte und Normen noch verstärkt wird.

Die Forschung schreitet schneller voran als der Mensch ethisch reflektierend folgen kann. Daraus ergeben sich gefährliche, selektierende Tendenzen, die den uneingeschränkten Anspruch auf Menschenwürde in Frage stellen und deren Spätfolgen nicht abzusehen sind. Der Mensch muss sich nicht länger der Natur und ihren Regeln unterordnen, er kann das Natürliche verbessern, verändern, optimieren. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es darum geht, Menschsein neu zu definieren, Grenzen zu ziehen und abzuwägen zwischen dem, was machbar ist und dem, was im Sinne der Menschlichkeit machbar sein darf.

Im Folgenden soll die Entwicklung des § 218 unter Berücksichtigung von historischen, politischen, medizinischen und ethischen Aspekten darstellt werden. Aus diesen verschiedenen Gesichtspunkten entspringen die Fragen nach den übergreifenden sozialen, kulturellen aber auch pädagogischen Zusammenhängen, den Grenzen der wissenschaftlichen Freiheit, der Wertigkeit eines ungeborenen Menschen und der allgemeinen Lebensrechtsproblematik in unserer Gesellschaft.

Bei diesen Ausführungen geht es allerdings nicht darum, das Problemfeld Abtreibung lösen zu wollen. Hinter jeder Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch steht ein Einzelschicksal und es wäre anmaßend, in seiner Komplexität darüber urteilen zu wollen. Es geht alleine um die Fälle der Spätabtreibungen, bei denen ein Kind aufgrund einer pränatal diagnostizierten Schädigung im Sinne einer Normabweichung der embryonalen Entwicklung abgetrieben wird und die extrauterine Lebensfähigkeit bereits vorhanden ist.

Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Kontext der Schwangerschaft, also den Bedingungen, die vor der Geburt des Kindes relevant sind. Auf die damit in Verbindung stehenden Systeme wie Familie und Schule aber auch Bildung und Erziehung kann aufgrund der Komplexität dieses Themas nur in geringem Maße eingegangen werden.

Im Verlauf der Darstellung umfassen die Begriffe “Schädigung“ oder “Normabweichung“ des Kindes den vorgeburtlichen Zeitraum, “Behinderung“ hingegen das aus der Wechselwirkung von individuellen Eigenschaften des Kindes und den Umwelt- und Gesellschaftsfaktoren resultierende Konstrukt.

Dise Begrifflichkeiten sollen den betroffenen Personenkreis nicht diskriminieren, sondern wurden bewusst gewählt, um die medizinischen und gesellschaftlichen Aspekte der Abtreibungsproblematik hervorzuheben.

Unter den Bezeichnungen „Ärzte“, „Mediziner“ und „Pädagogen“ sind aus syntaktischen Gründen sowohl die weiblichen als auch die männlichen Mitglieder dieses Berufsstandes zusammengefasst.

2 Der § 218 StGB

2.1 Historischer Verlauf des strafrechtlichen Lebensschutzes

Es steht außer Frage, dass die Diskussion um die gesetzliche Regelung der Abtreibung Politiker, Ärzte, Juristen, Theologen sowie betroffene Männer und vor allem Frauen schon seit mehreren Jahrhunderten beschäftigt und diese Prozesse ausschlaggebend bzw. wegbereitend für die heute vorliegende Gesetzgebung waren. Da in dieser Arbeit jedoch die Problematik der so genannten Spätabtreibung behandelt werden soll, scheint der Darstellung der Entwicklung des § 218 StGB seit dem Jahre 1976 angemessen, in dem erstmals die kindliche Indikation Teil der westdeutschen Gesetzgebung wurde.

2.2 Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Die Grundlage jeglicher Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland bildet die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Geprägt durch die Erfahrungen des Dritten Reiches und deren menschenverachtenden Vernichtungsmaßnahmen sahen sich die Verfasser des Deutschen Grundgesetzes dazu verpflichtet, den grundsätzlichen Wert eines jeden Menschenlebens und dessen Schutzbedürftigkeit bei gleichwertiger Achtung geborenen und ungeborenen Lebens in diesem zu verankern (Schmid-Tannwald, S. 67). Diese seit dem 23. Mai 1949 gültigen Rechte lauten wie folgt:

Artikel 1
Menschenwürde; Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt

(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Artikel 2
Allgemeine Handlungsfreiheit; Freiheit der Person; Recht auf Leben

(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

(Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland)

Grundgesetze sind ein Kulturgut, von denen die „Qualität der Kultur“ (Speck, 2003, S. 155) abhängt. Sie sind jedoch nicht naturgegeben, sondern müssen „erst erkämpft und gesichert werden“ (Speck, 2003, S. 153). Diesen grundsätzlichen Anspruch auf den Schutz des Lebens untergräbt die Gesetzgebung jedoch zunehmend, obwohl das Grundgesetz den Staat dazu verpflichtet, Bedingungen zur realen „[...] Verwirklichung eines Lebens in Freiheit und menschlicher Würde [...]“ (Speck, 2003, S. 154) bereit zu stellen, „[...] über die der Einzelne u.U. gar nicht oder nur begrenzt verfügt“ (ebd.).

2.3 Die Reformen der 1970er Jahre

Was bis Anfang der 1970er Jahre noch als “Tötung der Leibesfrucht“ bezeichnet wurde, erhielt im Rahmen der neu aufkommenden Diskussion um den § 218 die Bezeichnung “Schwangerschaftsabbruch“ (vgl. Schmid-Tannwald, S. 69). Eine Liberalisierung bzw. Änderung der vorliegenden Gesetzgebung im Zuge der sich ebenfalls wandelnden Gesellschaft Deutschlands war unausweichlich, die gegensätzlichen Standpunkte zu diesem Thema schienen jedoch unvereinbar. 1974 einigte man sich im Plenum des Bundestages auf ein Fristenmodell, bei dem die schwangere Frau innerhalb der ersten drei Monate bei einem von einem Arzt vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch straffrei bleiben sollte. Dieses durfte einstweilen jedoch nicht in Kraft treten. Im Februar 1975 verkündete das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zur Abtreibungsregelung, dass die Fristenregelung gegen Artikel 1 und Artikel 2, Absatz 2, Satz 1 des Grundgesetzes verstoßen würde (vgl. Schmid-Tannwald, S. 70). Daraufhin folgte am 21.06.1976 ein Indikationsmodell, in dem die medizinische Indikation (darunter auch die Notlagenindikation), die kriminologische und die kindliche Indikation enthalten waren. Diese kindliche Indikation sah ausdrücklich vor, dass eine Abtreibung bis zum Ende der 22. Woche nach der Empfängnis straffrei bleibt, wenn

dringende Gründe für die Annahme sprechen, dass das Kind, wenn es zur Welt käme, wegen einer Erbkrankheit oder wegen schädlicher Einflüsse während der Schwangerschaft an einer nicht behebbaren Gesundheitsschädigung leiden würde, die so schwer wiegt, dass von der Frau die Fortsetzung einer Schwangerschaft nicht verlangt werden kann.

(Schmid-Tannwald, S. 69)

Diese berief sich auf die Schädigung eines Kindes und dem damit verbundenen Recht einer Mutter auf Abtreibung bis zur 22. Schwangerschaftswoche.

Die Entscheidung über den Schweregrad, die Lebenslage der Frau und sonstigen Kriterien lag 1976, ebenso wie bis zum heutigen Tage, im Ermessensspielraum des behandelnden Arztes. Verwunderlich ist in Anbetracht dieser Formulierung, warum ein “erbkrankes“ bzw. “geschädigtes“ Kind verfassungsrechtlich nicht schützenswert ist und die in Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verankerten Rechte, die auch für ungeborenes Leben Gültigkeit haben, in diesem Falle nicht relevant zu sein scheinen.

Doch noch viel stärker als die kindliche Indikation war die medizinische bzw. Notlagenindikation, bedingt durch ihre Formulierung, der “Freifahrtschein“ für eine Abtreibung. Im Rahmen der medizinischen Indikation blieb eine Abtreibung straffrei, wenn unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Kenntnis diese unausweichlich ist, um eine Gefahr für ihr Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann (vgl. Schmid-Tannwald, S. 72).

Von 1976 bis 1991 wurden rund 1,5 Millionen Kinder – und dies betrifft nur die gemeldeten Fälle – im Rahmen der Notlagenindikation vor der Geburt getötet (vgl. Schmid-Tannwald, S. 72f.).

2.4 Die aktuelle Formulierung der Abtreibungsregelung

Die Wiedervereinigung Deutschlands und der damit verbundene Einigungsvertrag bildeten das ausschlaggebende Moment für die heutige Formulierung des § 218. Erster Schritt einer bundeseinheitlichen Regelung war das neue Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) (Schmid-Tannwald, S. 73) vom 25. Juni 1992. Dieses wurde durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Mai 1993 abgelehnt, da es „das grundsätzliche Verbot der Tötung des Ungeborenen vor der Geburt und die grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes (BVerfGE 88, 203 ff.)“ (Schmid-Tannwald, S. 74) nicht im vollen Maße berücksichtigen würde.

Das Bundesverfassungsgericht stimmte jedoch einem Beratungskonzept mit einem zielorientierten, aber ergebnisoffenen Gespräch zu, bei dem soziale Hilfen angeboten werden sollen. Zudem soll ein Arzt miteinbezogen werden (vgl. Schmid-Tannwald, S. 72f.). Dies war die Grundlage des Beratungskonzepts, das 1995 in Kraft trat. In der Zwischenzeit erließ das Bundesverfassungsgericht eine in Indikationsfällen straffrei stellende Übergangsregelung, die vom 16. Juni 1993 bis zum 1. Oktober 1995 in ganz Deutschland gültig war.

Ein weiterer ausschlaggebender Faktor für die Umformulierung der Indikationen war die seit dem 15. November 1994 gültige grundgesetzliche Verankerung des Diskriminierungsverbots von Menschen mit einer Behinderung, welches lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" (Art. 3. Abs. 3; Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland). „Insbesondere die Behindertenverbände hatten während der Bundestagsberatungen den Fortfall der Regelung verlangt, weil sie das Lebensrecht Behinderter diskriminiere“ (Antor et al., 2000, S. 21). Seit dem 1. Oktober 1995 bzw. dem 1. Januar 1996 umfasst die juristische Regelung der Abtreibung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland das neue Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG), die Beratungsregelung sowie die kriminologische und medizinische Indikation, die einen Abbruch bis zum Tage der Geburt zulässt.

Alleine der Antrag von 28 Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion des 14. Bundestages zur „Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ (vgl. Deutscher Bundestag, 2001) aus dem Jahre 2001 lässt den Versuch erkennen, die dadurch entstandene Problematik der Spätabtreibungen im Plenum aufzugreifen. Darin fordert die Union, dass die Krankenkassen die Kosten der Pränataldiagnostik nur im Falle einer nachgewiesenen psychosozialen Beratung erstatten sollen. Zudem wird, ebenso wie bei der Beratungsregelung, eine Bedenkfrist von drei Tagen nahe gelegt. Nach einer diagnostizierten medizinischen Indikation sollte jeder Fall von einem interdisziplinären Gutachtengremium geprüft werden, bei dem die Entscheidung nicht länger alleine bei dem betroffenen Arzt, sondern bei einer Expertengruppe liegen soll. An der Formulierung des § 218 an sich wollten sie jedoch nichts ändern (vgl. Spieker, 2006b, S. 101). Bezüglich der Beweggründe für die Antragsstellung äußert sich Hubert Deittert, Mitglied der CDU, wie folgt:

Wer das Recht ungeborener Kinder bedenkenlos zur Disposition stellt, leistet der möglichen Diskriminierung und Ächtung Behinderter und schwer Pflegebedürftiger in der Gesellschaft Vorschub“ (Deittert, S. 1)

Der Antrag der CDU/CSU wurde jedoch im Juli 2002 – nachdem die Regierung Schröder in einem Antwortschreiben mitteilte, keinen Handlungsbedarf bei der Abtreibungsregelung feststellen zu können – von der SPD und den Grünen mehrheitlich abgelehnt (vgl. Spieker, 2006b, S. 101), wobei sie sich auf die Handlungsfreiheit und -kompetenz der betroffenen Ärzte und Frauen beriefen. Im 15. Bundestag stellte die Union 2004 erneut den Antrag auf die Verschärfung der medizinischen Indikation durch die bereits oben angeführten Maßnahmen, wieder ohne Erfolg (vgl. Spieker, 2006b, S. 102; vgl. Deutscher Bundestag, 2004c). Das erklärte Ziel des reformierten § 218 sollte die Verringerung der Abtreibungszahlen sein, was nach dessen über zehnjähriger Gültigkeit de facto nicht erreicht wurde. Vielmehr bleiben die Abtreibungszahlen mit rund 130.000 Abtreibungen pro Jahr (vgl. Statistisches Bundesamt, 1998-2000 & 2002) konstant, wobei deren relative Häufigkeit laut Claudia Kaminski sogar noch zunimmt.

Dies gilt sowohl im Bezug auf die Geburten als auch auf die Frauen im gebärfähigen Alter. So ist zwischen 1996 und 2004 die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter bei annähernd konstanten Abtreibungszahlen von 17,1 Millionen um 0,5 Millionen auf 16,6 Millionen zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum sind daher, wie nicht anders zu erwarten, auch die Geburten zurückgegangen. Nämlich von rund 796.000 im Jahr 1996 um rund 90.000 auf rund 706.000 in 2004.

(Kaminski, S. 10)

Die von der Bundesregierung genannten Zahlen beziehen sich also nur auf die tatsächlichen Fälle der Abtreibung, ohne in Relation mit der gesamten Geburtenrate oder der Anzahl gebärfähiger Frauen gesetzt zu werden.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber in einem Urteil vom 28. Mai 1993 zur Auflage gemacht, den Erfolg des neuen § 218 zu überprüfen und bei negativer Entwicklung zu korrigieren. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsgericht jedoch die Krankenkassen von der Aufgabe der Finanzierung enthoben und sie dem Staat bzw. den Ländern übergeben, die den Krankenkassen die entstandenen Kosten aus Steuergeldern zurück erstatten müssen, um die eine Abtreibung für alle Frauen “finanzierbar“ zu machen (vgl. Philipp, S. 148).

Die fatalen Auswirkungen auf das Lebensrecht aller Kinder, insbesondere auf das der Kinder mit pränatal diagnostizierter Schädigung bzw. Normabweichung werden schlichtweg ignoriert (vgl. Deutscher Bundestag, 2004b). In Bezug auf Kinder mit einer pränatal diagnostizierten Schädigung hat der Gesetzgeber die bis 1995 bestehende Gesetzeslage durch die Neuregelung des § 218 ad absurdum geführt, indem er dem 1994 in das Grundgesetz aufgenommene Benachteiligungsverbot von Menschen mit Behinderung gerecht werden wollte. Gleichzeitig ist die kindliche Indikation, bei der Schädigung des Kindes an sich explizit als Grund für eine Abtreibung galt, in der neuen medizinischen Indikation implizit als unzumutbares Kriterium für das weitere Leben der Mutter subsumiert. An der Möglichkeit, ein Ungeborenes aufgrund einer medizinischen Diagnose abtreiben zu können, hat sich also nicht faktisch, sondern nur formal etwas geändert. Durch den Wegfall der kindlichen zugunsten der medizinischen Indikation werden die Fälle der Abtreibungen, bei denen die Entwicklung des Kindes ausschlaggebend war, statistisch nicht einmal mehr erfasst; somit bestehen keinerlei Kontrollmöglichkeiten der Korrelation von Behinderung und Abtreibung, was jedoch auch von keinem großen Interesse zu sein scheint. Die Erhebung der „Dauer der abgebrochenen Schwangerschaft“ (Deutscher Bundestag, 2004b, S. 3) reicht der Bundesregierung nach eigenen Angaben aus.

In dem Koalitionsvertrag der CDU/CSU und der SPD äußern sich die Parteien in dem Abschnitt über „Familienfreundliche Gesellschaft“ zur Spätabtreibung wie folgt:

5.4 Spätabtreibungen

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber im Jahre 1992 in seinem Urteil bezüglich der Gesetze zum Schwangerschaftsabbruch eine Beobachtungs- und eventuelle Nachbesserungspflicht auferlegt. Wir werden dieser Verpflichtung auch in der 16. Legislaturperiode nachkommen und wollen prüfen, ob und gegebenenfalls wie die Situation bei Spätabtreibungen verbessert werden kann.

(Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, S. 121)

Diese Überprüfung hat bis heute nicht stattgefunden. Es existieren weder einstimmige Zahlen aufgrund fehlender Meldepflicht oder eine Kontrolle der Abreibungsregelung belegende Vorgänge der Bundesregierung. Alleine die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes lassen Rückschlüsse auf die Zahl der jährlichen Schwangerschaftsabbrüche zu.

Dass sich diese Koalition durch SPD, die sich für die Entscheidungsfreiheit der Frau einsetzt, und CDU, die sich auf der Grundlage christlicher Werte für das Lebensrecht jedes (ungeborenen) Menschen ausspricht, bildet, sollte eigentlich Anlass einer erneuten Diskussion innerhalb des Bundestages um diesen Paragraphen sein, was jedoch noch nicht aufgegriffen wurde.

2.5 Die Beratungsregelung

2.5.1 Strafrechtliche Grundlagen

Abtreibungen sind in Deutschland seit der Gesetzesänderung im Jahre 1995 grundsätzlich immer noch rechtswidrig.Im Rahmen der Beratungsregelung (§ 218 a Abs. 1 StGB, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 20) bleiben jedoch alle Beteiligten unter bestimmten Voraussetzungen straflos. Etwa 97% aller Abtreibungen werden in Deutschland durch die Beratungsregelung straffrei gestellt (vgl. Hillgruber, S. 26). Diese sieht vor, dass jede schwangere Frau, die sich in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen und einen Beratungsschein erhalten hat (§ 219 Abs. 2 StGB, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 21f.) innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis eine Abtreibung durch einen Arzt durchführen lassen kann. Zwischen dem Beratungsgespräch und der Abtreibung muss eine mindestens dreitägige Bedenkzeit liegen. Die Bezeichnung von Abtreibungen nach der Beratungsregelung als rechtswidrig erweckt zunächst Eindruck, als würden diese rechtlich nicht gebilligt und vom Staat grundsätzlich abgelehnt. Tatsächlich hat die angebliche Rechtswidrigkeit der Abtreibung für keinen der Beteiligten negative Konsequenzen. Im Gegenteil: der Gesetzgeber ist den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Urteil von 1993 darin gefolgt, alle typischen Unrechtswirkungen in der Beratungsregelung auszuschließen.

Das heißt, dass im Falle der Tötung ungeborener Kinder Unrecht nicht wie Unrecht, sondern wie Recht behandelt wird und die begangene Straftat straffrei bleibt. Vorgeburtliche Kindestötungen bleiben im Beratungskonzept jedoch nicht nur straflos, sondern werden rechtlich gebilligt und sozialstaatlich gefördert.

Demnach werden einer Frau, der „die Aufbringung der Mittel aus wirtschaftlichen Gründen nicht zuzumuten ist“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 14), die Kosten für den Abbruch einer Schwangerschaft im Rahmen der Beratungsregelung von dem jeweiligen Bundesland, beantragt bei der zuständigen gesetzlichen Krankenkasse im Rahmen des Gesetzes „Zur Hilfe für Frauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in besonderen Fällen“, erstattet. Dies wird nach bestimmten Einkommensgrenzen berechnet, die jedes Jahr neu festgelegt „und bei den gesetzlichen Krankenkassen zu erfragen“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 14) sind. 1995 lag diese Einkommensgrenze bei 1700,00 DM, wobei das Einkommen des Partners nicht mit angerechnet wurde (vgl. Philipp, S. 148). Von einer Sozialleistung aufgrund einer Armutsgrenze im eigentlichen Sinne ist man bei dieser Summe jedoch weit entfernt.

Nach Manfred Spieker werden rund 90% aller Abtreibungen nach der Beratungsregelung von den Krankenkassen bzw. den Bundesländern durch Steuergelder finanziert, was im Jahre 2002 42 Millionen Euro betragen hat (vgl. Spieker, 2006a, S. 67).

2.5.2 Die Beratungsstellen

Die Beratungsstellen sollen laut Gesetz eine sich in einem durch die Schwangerschaft ausgelösten Konflikt befindenden Frau durch Beratung und Hilfsangebote bzw. -verweise dahingehend unterstützen, dass sie sich für die Austragung des Kindes entscheidet, ohne diese jedoch unter Druck zu setzen. Das Gespräch ist ergebnisoffen zu führen (SchKG, § 5, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 25). Zur finanziellen Unterstützung hilfsbedürftiger Frauen wurde unter dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die Bundesstiftung Mutter und Kind gegründet (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005a). Abtreibungen sollten also nicht länger – gemäß dem von der SPD propagierten Motto „Hilfe statt Strafe“ (SPD-Wahlprogramm) – durch die Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen, sondern durch Aufklärung und Unterstützung vermieden werden. Die Letztverantwortung und Entscheidungsfreiheit liegt bei der betroffenen Frau, daher ist den Beratungsstellen eine Ausstellungsverweigerung nicht gestattet (SchKG, § 7, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 26). Laut Bundesverfassungsgericht soll dies dazu beitragen, dass die Frauen

Ihre Verantwortung unmittelbarer und stärker empfinden und daher eher Anlass zu ihrer gewissenhaften Ausübung haben können, als wenn ein Dritter einem ihm genannten Grund – mehr oder weniger eingehend – überprüft und bewertet und mit der Feststellung, der Abbruch sei aufgrund eines Indikationsstandes erlaubt, der Frau ein Stück Verantwortung abnimmt. (Hillgruber, S. 13)

Durch diesen Rechtsspruch wird die dem Kind gemäß Verfassung zugestandene Würde und das Recht auf die Unantastbarkeit des Lebens jedoch zugunsten des Lebensrechts und der Entscheidungsfreiheit der Mutter wieder relativiert und deren Verantwortung unterstellt. Für die Beratung gibt es keine gesetzliche Meldepflicht, wodurch Erfolg oder Misserfolg einzelner Beratungsstellen in Bezug auf das Ziel, Abtreibungen zu verhindern, nicht nachvollzogen werden können. Den einzelnen Ländern ist vom Gesetzgeber aufgetragen worden, die Arbeit der Beratungsstellen zu überprüfen – wodurch er seine Aufgabe, formuliert durch das Bundesverfassungsgericht, an die Länder übergab – was aufgrund des Datenschutzes nur anhand von standardisierten Vordrucken ohne Berücksichtigung der Einzelfallproblematik durchgeführt wird (vgl. Ellwanger, S. 128). Der Frau steht es zudem frei, zwischen freien oder kirchlichen Trägern, aber auch Ärzten, die eine Beratung anbieten, zu wählen. Laut BVerfG gilt die Pflicht zur Überprüfung von Vorgehen, Mitteln und der Qualifikation des beratenden Personals (vgl. Hillgruber, S. 14f.).

Der hohe Rang des geschützten Rechtsguts, die Art der Gefährdung ungeborenen Lebens und der in diesem Bereich festzustellende Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse und Anschauungen erfordern es, dass der Gesetzgeber beobachtet, wie sich sein gesetzliches Schutzkonzept in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auswirkt (BVerfGE 88, 203, 310).

(Hillgruber, S. 16)

Dass dieser Nachbesserungs- und Korrekturpflicht nachweislich nicht nachgekommen wird, zeigt die Tatsache, dass Beratungsstellen, die das Lebensrecht der Mutter unverhohlen über das des Kindes stellen, wie es beispielsweise Pro Familia offen propagiert, immer noch aktiv an der Beratung von schwangeren Frauen beteiligt sind. Im Folgenden einige Auszüge aus der Beratungsbroschüre „Kurzinformation: Wann dürfen Sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen?“ von Pro Familia:

Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Es ist nicht erforderlich, dass Sie sich von ärztlicher Seite eine Indikation bescheinigen lassen.

Es wird von Ihnen "erwartet", dass Sie in der Beratung die Gründe nennen, aus denen Sie einen Abbruch erwägen oder wünschen. Die Beraterin (der Berater) wird Ihnen anbieten, über Ihre Gründe zu sprechen und mit Ihnen gemeinsam zu überlegen, welche Entscheidung für Sie richtig ist.

Ob Sie dies Angebot annehmen oder nicht, liegt jedoch allein bei Ihnen.

Die Beurteilung, ob das so ist, bleibt allerdings letztlich bei Ihnen. Es ist nicht Aufgabe der Beraterin (des Beraters), Ihre Situation daraufhin zu überprüfen.

(Pro Familia, o.J.)

Diese Informationen enthalten den Hinweis, dass von der Frau „erwartet“ wird, ihre Gründe darzulegen, aber die Ausstellung des Beratungsscheins und die damit verbundene Möglichkeit der Abtreibung in jedem Falle nur in Händen der Frau liegt und dieses Gespräch im Grunde ein notwendige Formalität zur Durchsetzung der eigenen Wünsche ist. Auf das Lebensrecht des Kindes wird keinerlei Bezug genommen.

2.6 Die Indikationsstellungen

2.6.1 Die kriminologische Indikation

Bei einer kriminologischen Indikation bleibt eine Abtreibung laut § 218 StGB straffrei, wenn dringende Gründe für die Annahme sprechen, dass die Schwangerschaft das Resultat einer rechtswidrigen Tat nach den §176-179 des Strafgesetzbuches ist und seit der Empfängnis weniger als 12 Wochen vergangen sind (§ 218 a (3) StGB, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 20).

2.6.2 Die medizinische Indikation

Diese Indikation stellt juristisch einen Rechtfertigungsgrund dar, der die Rechtswidrigkeit und die damit verbundene Strafbarkeit der Abtreibung beseitigt und sie zu einem rechtmäßigen Vorgang werden lässt.

Diese setzt voraus, dass der Schwangerschaftsabbruch nach „ärztlicher Erkenntnis“ (§ 218 a, Absatz 3, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 20)

unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. (§218a (2) StGB Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 20)

Laut § 218 b muss die medizinische Indikation durch eine „schriftliche Feststellung“ (§ 218 b StGB, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 20f.) von einem nicht an dem Abbruch beteiligten Arzt bescheinigt werden, die bei unrichtiger Ausführung wider besseren Wissens mit einer Geld- bzw. Freiheitsstrafe geahndet wird. Der Arzt, der die Abtreibung vornimmt, muss sich zunächst von der Dauer der Schwangerschaft überzeugt haben (§ 218 c, Absatz 1, Satz 3 StGB, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, S. 21), und der Frau die Gelegenheit geben, die Gründe für den Abbruch darzulegen (ebd.). Vor dem Abbruch muss eine Beratung über die „Bedeutung des Eingriffs, insbesondere über Ablauf, Folgen, Risiken mögliche physische und psychische Auswirkungen“ (ebd.) stattgefunden haben.

Die medizinische Indikation ist unbefristet, dass heißt, eine Abtreibung auf der Grundlage der oben angeführten Kriterien kann bis zum Tage der nach medizinischen Gesichtspunkten definierten Geburt durchgeführt werden. Dabei besteht keine weitere Beratungspflicht, einzige Bedingung ist, dass der Arzt, der die medizinische Indikation bescheinigt, nicht gleichzeitig der sein darf, der den Schwangerschaftsabbruch durchführt. Zudem liegt die Entscheidung über die Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes sowie den unzumutbaren Bedingungen und die damit einhergehende Abtreibung (offiziell) nicht wie bei der Beratungsregelung im Ermessen der betroffenen Frau, sondern des diagnostizierenden Arztes. Die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs im Rahmen der Indikationsregelung werden von der jeweiligen gesetzlichen Krankenkasse übernommen, womit die Abtreibung zur öffentlichen Dienstleistung mit staatlichen finanzierten Mitteln wird. Die kriminologische und die medizinische Indikation machen rund 3% der jährlichen Abbrüche in Deutschland aus (vgl. Statistisches Bundesamt, 1998-2000 & 2002).

2.6.3 Die versteckte kindliche Indikation

Wie bereits erwähnt war der Zusatz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ mit ein ausschlaggebender Faktor dafür, dass der § 218 nach den Reformen von 1974, 1976, 1992 im Jahre 1995 zu seiner noch heute gültigen Fassung fand und immer noch gültig ist, und das, obwohl sich keine nachweisliche Verbesserung erkennen lässt. Vielmehr hat sich die Lage in Bezug auf das Lebensrecht von ungeborenen Kindern mit einer Schädigung rapide verschlechtert. Die kindliche Indikation, die die pränatal diagnostizierte Fehlentwicklung eines Kindes als Grundlage einer Abtreibung bis zur 22. Schwangerschaftswoche vorsah, wird durch eine Indikation ersetzt, die dies immer noch (verdeckt) als Grund beinhaltet, nämlich dann, wenn die Schädigung des Kindes als zukünftige, unzumutbare Belastung für die Mutter ausgelegt wird und eine Abtreibung unbefristet stattfinden kann. Dass der kindliche Zustand nicht länger alleine den Grund darstellt, sondern an die Situation der Mutter gekoppelt wird, kann kein Garant für den Lebensschutz der Ungeborenen darstellen, rein juristisch ist der Gesetzgeber jedoch seiner Pflicht, diesen Schutz formal zu gewährleisten, nachgekommen (vgl. Deutscher Bundestag, 2001, Absatz 1).

Dass die kindliche in der medizinischen Indikation immer noch zum Tragen kommt, zeigt ein Auszug aus der „Kurzinformation: Wann dürfen Sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen?“ von Pro Familia, in der diese ganz offen propagiert, dass die Behinderung eines Kindes ebenfalls ein Abtreibungskriterium darstellt.

Eine medizinische Indikation kommt auch in Frage, wenn Sie einen Abbruch erwägen, weil aus ärztlicher Sicht mit einer erheblichen gesundheitlichen Schädigung des Kindes zu rechnen wäre (frühere "embryopathische" oder "eugenische" Indikation). Auch in diesem Fall kommt es aber letztlich darauf an, ob Ihre körperliche oder seelische Gesundheit ernstlich gefährdet würde, wenn Sie die Schwangerschaft fortsetzen und das Kind bekommen würden.

(Pro Familia, o.J.)

Auch die Beratungsregelung sieht die Entwicklung des Kindes als Rechtfertigungsgrund für eine Abtreibung vor. Innerhalb des dort verwendeten standardisierten Beratungsprotokolls werden unter Punkt 2 die Gründe mit einer Markierung versehen, die von der Frau als ausschlaggebend genannt werden. Darunter gibt es auch die „Angst vor der Schädigung eines Kindes“ (vgl. Bauernschmitt, S. 100f.). Also allein die vermutete, zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft noch unbegründete Möglichkeit einer zukünftigen Behinderung des Kindes kann als unzumutbares Kriterium (vgl. §218a StGB, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2005b, S. 20f.) geltend gemacht werden.

Auch wenn die medizinische Indikation nur 3% der Gesamtabtreibungen ausmacht, bedarf es einer genaueren Erfassung. Die Zahl der Spätabtreibungen nach der 23. Schwangerschaftswoche (vgl. Deutscher Bundestag, 2004c, S. 4) betrug „1996: 159, 1997: 190, 1998: 175, 1999: 164, 2000: 154, 2001: 177, 2002: 188 und 2003: 217“ (Deutscher Bundstag, 2004c, S. 4). Inwiefern diese auf eine kindliche Schädigung zurückzuführen sind und wie viele Kinder überlebt haben, kann nicht mit Sicherheit belegt werden, der Bundesregierung liegen diesbezüglich keine Daten für den Zeitraum nach 1995 vor (vgl. Deutscher Bundestag, 1999, S. 11).

2.7 Statistische und demographische Entwicklungen

Die Zahl der Abtreibungen liegt in Deutschland bei rund 130.000 Fällen „oder – etwas plastischer ausgedrückt – bei rund 4.333 Schulklassen pro Jahr“ (Kaminski, S. 10). Und dies berücksichtigt nur die gemeldeten, also bekannten Fälle, wobei man die Dunkelziffer weitaus höher ansetzen muss. Einige Experten sprechen sogar von deren Verdopplung, um das reale Ausmaß erahnen zu können (vgl. Rehder et al., S. 110). Statistisch lassen sich in der Bundesrepublik Deutschland schon seit einigen Jahren die sinkende Zahl von Frauen im gebärfähigen Alter, der Geburtenrückgang sowie die steigende Zahl von alten und im Schnitt immer älter werdenden Menschen verzeichnen (vgl. Statistisches Bundesamt, 2005).

Die seit 1976 eingeführte Meldepflicht für Abtreibungen, deren Ergebnisse zusammenfassend jedes Jahr von Statistischen Bundesamt veröffentlicht werden, waren bis zum Jahre 2001 mit der Vorbemerkung versehen, dass

die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Größenordnung unter Vorbehalt zu betrachten (sind), weil verschiedene Indizien darauf hindeuten, dass nicht alle Ärzte … ihrer Meldepflicht nachkommen; ferner muss mit einer gewissen Zahl von illegalen ‚Abbrüchen gerechnet werden.

(Spieker, 2006a, S.68)

Diesem Problem, eine genaue Statistik zu erstellen bzw. Einigung über die von verschiedenen Instanzen genannten Zahlen zur Abtreibung zu erlangen, wollte der Bundestag im Rahmen der dritten Reform des § 218 am 26. Juni 1992 damit aus dem Wege gehen, dass man diese gesetzlich ganz abschaffen wollte (vgl. Spieker, 2006a, S. 69). In einem Urteil vom 04. August 1992 wurde dies durch das Bundesverfassungsgericht verhindert, in dem es die Fortführung der Meldepflicht anordnete und erklärte, „der Staat sei auf eine zuverlässige Statistik angewiesen, wenn er die Effektivität seiner Maßnahmen zum Schutz des ungeborenen Lebens überprüfen wolle (BVerfGE 88, 309 und 86, 398)“ (ebd.). Dennoch besteht wie bereits erwähnt das Problem der fehlenden Relation der Zahlen der gebärfähigen Frauen und der Abtreibungen, bei denen im Vergleich gesehen letztere steigen und nicht, wie von der Bundesregierung suggeriert, gleich bleiben (vgl. Rehder et al., S. 108ff., vgl. Deutscher Bundestag, 2004c). Bei sinkender Zahl gebärfähiger Frauen und sinkender Geburtenrate sind die dem Statistischen Bundesamt gemeldeten Abtreibungen nahezu konstant geblieben. In Anbetracht der demographischen Entwicklung ist sie prozentual sogar gestiegen. Diese Zahlen können immer nur als unvollständig betrachtet werden, die Dunkelziffer liegt weitaus höher. Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung werden nur rund 60% der Schwangerschaftsabbrüche nach Beratungsregelung durch die Statistik erfasst, da es uneinheitliche, bundeslandabhängige Melderegelungen gibt. In Niedersachsen und Baden-Württemberg beispielsweise existiert keine Meldepflicht (vgl. Büchner, S. 119).

Angesichts dieser Tatsache ist es verwunderlich, warum dieses Gesetz nicht genauer überprüft, der Kontrollpflicht nicht nachgekommen bzw. nach über zehnjähriger Gültigkeit nicht revidiert wird. In Bezug auf die statistischen Daten der Abtreibungen, die im Rahmen der medizinischen Indikation im Zusammenhang mit einer Behinderung des Kindes durchgeführt werden, existieren aufgrund der Indikationsstellung keine Angaben. Auch die Fälle, bei denen ein Kind die Abtreibung überlebt, können nur geschätzt werden. Zu Erfassung dieser Problemfälle forderte die CDU/CSU in ihrer Drucksache 14/6635 vom Juli 2001 den Gesetzgeber dazu auf, folgende Daten zu erfassen, um der Kontrollpflicht überhaupt nachkommen zu können:

- Anzahl der Fälle, in denen vor einem Schwangerschaftsabbruch eine Behinderung des ungeborenen Kindes festgestellt wird,
- Art der jeweiligen Behinderung,
- Begründung der Indikationslage (Befundbeschreibung),
- Zeitpunkt der abgebrochenen Schwangerschaft (Schwangerschaftswoche),
- Art des Eingriffs und beobachtete Komplikationen.

(Deutscher Bundestag, 2001, S. 4)

Auch dieser Notwendigkeit, um überhaupt Aussagen über die Auslegung der medizinischen Indikation treffen zu können, wurde bis heute nicht nachgekommen. Das Statistische Bundesamt veröffentlicht vierteljährlich die aktuellen Abtreibungszahlen (vgl. Deutscher Bundestag, 2004b, S. 2), ohne jedoch die von der CDU angeführten Maßnahmen der Differenzierung zu berücksichtigen.

3 Der Begriff Behinderung

3.1 Klassifikationssysteme

Die Wichtigkeit der Klassifikationssysteme ergibt angesichts der Abtreibungsproblematik gerade in dem Bereich der medizinischen Klassifikation, welche die Grundlage eines Schwangerschaftsabbruchs in Verbindung mit einer Pränataldiagnose bildet. Der Vollständigkeit halber sollen jedoch verschiedene Systeme dargestellt werden, die einerseits die Problematik einer Differenzierung an sich widerspiegeln und andererseits deren Zusammenhang verdeutlichen sollen.

In Anbetracht der unterschiedlichen Relevanz dieser Definitionen die Problematik der Spätabtreibung betreffend wird die psychologische Definition ausgelassen.

Die eingeschränkte Gültigkeit dieser Systeme ergibt sich aus der Unmöglichkeit “Behinderung“ allgemein zu definieren. „Der Grund für die Schwierigkeiten in der endgültigen Begriffsbestimmung liegt zunächst in der Individualität des Phänomens der Behinderung“ (Fornefeld, 2002, S. 45).

Der andere Aspekt ist die jeweilige Profession des Definierenden, aus der heraus die Kriterien bestimmt werden sollen (vgl. Fornefeld, 2002, S. 46). Die Einführung der Begrifflichkeit “Behinderung“ und den damit verbundenen Konsequenzen für das Bildungswesen, das Gesundheitswesen und der sozialen Sicherung (vgl. Kurmann, S. 41) hat sich auch im gesellschaftlichen Denken und Bewerten in Verbindung mit diesem Personenkreis verhaftet, wodurch “Behinderung“ meist gleichgesetzt wird mit Leid und Unvollkommenheit, zuallererst jedoch mit der Andersartigkeit dieser Menschen.

3.2 Die Klassifikation von Behinderung im Allgemeinen

3.2.1 Die gesetzliche Klassifikation

Die gesetzliche Definition einer Behinderung findet sich in § 2 des SGB IX der Bundesrepublik Deutschland, wobei der Schwerpunkt eher auf den eingeschränkten Funktionen dieser Personen liegt, wodurch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt wird. Die Wechselwirkung von Behinderung und gesellschaftlichen sowie umweltbezogenen Bedingungen, wie beispielsweise baulichen Barrieren, aber auch Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung werden kaum berücksichtigt.

§ 2 Behinderung

(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des §73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des §73 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).

(Sozialgesetzbuch IX § 2)

3.2.2 Die Klassifikation der WHO

Die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahre 2001 stellt den Versuch dar, eine allgemeingültige Definition des Behinderungsbegriffs sowohl auf interdisziplinärer wie auch auf internationaler Ebene zu schaffen. Im Sinne eines „bio-psycho-sozialen Modells“ (Schlüter, 2003, S. 193) berücksichtigt die ICF die Konzepte der Körperfunktionen und -strukturen, das Konzept der Aktivitäten und das Konzept der Teilhabe an allen Lebensbereichen (vgl. Schuntermann, S. 2).

[...]

Ende der Leseprobe aus 97 Seiten

Details

Titel
Die Spätabtreibung in der BRD. Eine Zwischenbilanz
Hochschule
Universität zu Köln  (Seminar für Geistigbehindertenpädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
97
Katalognummer
V65042
ISBN (eBook)
9783638577021
ISBN (Buch)
9783638727792
Dateigröße
811 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Inhalt der Examensarbeit ist die Entwicklung der Abtreibungsregelung in der BRD von 1974 (Inkrafttreten der eugenischen Indikation) bis heute. Der Schwerpunkt liegt auf der Problematik der Spätabtreibungen, die seit einer Gesetzesänderung von 1995 im Rahmen der medizinischen Indikation straffrei bleiben und den damit einhergehenden medizinischen, gesellschaftlichen, ethischen und heilpädagogischen Aspekten.
Schlagworte
Frage, Spätabtreibung, Zwischenbilanz
Arbeit zitieren
Sina Bottke (Autor:in), 2006, Die Spätabtreibung in der BRD. Eine Zwischenbilanz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/65042

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