Pädagogik und Abweichung - Eine kritische Auseinandersetzung mit einschlägigen Devianztheorien


Diplomarbeit, 2006

95 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Normalität und Abweichung
2.1. Normen
Exkurs: Normative Pädagogik
2.2. Abweichung
2.2.1. Der Nutzen von Abweichung

3. Darstellung der Devianztheorien
3.1. Die biologische Theorie
3.2. Die psychologischen Theorien
3.2.1. Der sozialisationstheoretische Ansatz
3.2.2. Die Lerntheorie
3.2.3. Der psychoanalytische Ansatz
3.3. Die soziologischen Theorien
3.3.1. Die Anomietheorie
3.3.2. Die Subkulturtheorie
3.3.3. Die Rational Choice-Theorie
3.3.4. Der Radikale Konstruktivismus
3.3.5. Die Labelling Approach-Theorie
3.4. Ausblick

4. Historischer Umgang der Pädagogik mit Abweichung
4.1. Wissenschaftliche Definition von Pädagogik
4.2. Geschichte der Pädagogik vor dem 19. Jahrhundert
4.2.1. Geschichte der Strafe
4.3. Konzepte der Pädagogik im 19. Jahrhundert
4.3.1. Strafe

5. Heutiger Umgang der Pädagogik mit Abweichung zwischen Hilfe und Strafe
5.1. Entstehung der Straf- und Wohlfahrtspolitik
5.2. Strafe
5.2.1. Ziele und Aufgaben von Strafe
5.2.2. Aktuelle Tendenzen in Bezug auf Strafe
5.3. Kurative Maßnahmen

6. Analyse
6.1. Allgemeine Analyse
6.2. Analyse der Devianztheorien
6.3. Analyse des Umgangs der Pädagogik auf Abweichung

7. Fazit

8. Literaturliste

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

Geht man der allgemein gestellten Frage nach, welches das Aufgabengebiet der Pädagogik ist, erkennt man schnell, dass die Beantwortung einige Schwierigkeiten mit sich bringt. Eine mögliche Antwort wäre, dass Pädagogik sich mit Formen der Abweichung beschäftigt und für diese Interventionsmöglichkeiten zu geben versucht. Man könnte sogar soweit gehen, zu behaupten, dass sich die pädagogische Wissenschaft ohne Devianz nicht zu dem entwickelt hätte, was sie heute ist. Auch wenn dies überspitzt formuliert ist, der Kern hinter dieser These ist eindeutig: Abweichung ist ein entscheidender Punkt für die Notwendigkeit der pädagogischen Arbeit. Dieser Aspekt hat mein Interesse geweckt.

In den Nachrichten ist des Öfteren zu sehen, dass ein Schwerpunkt der Berichterstattung im Zeigen von abweichenden Verhaltensweisen liegt. Wie man beispielsweise anhand vielfältiger Meldungen zur Rütli-Schule in Berlin-Neukölln belegen kann, erlangen die Medien einen großen Teil ihrer Zuschauerzahl durch das Veröffentlichen dramatischer Ereignisse, bei denen überwiegend nicht näher auf deren Hintergründe eingegangen wird. Gegenwärtig ist dies wieder gut an dem Beispiel der Schulsozialarbeit zu sehen. Diese Richtung der Sozialen Arbeit wird momentan gerne von Politikern genutzt, die sich hierdurch ein paar förderliche Schlagzeilen für sich erhoffen. Es werden Gelder für zusätzliches Personal bewilligt, um die Betreuung von Schülern zu verbessern. Dies gilt dann als Prävention kriminellen Verhaltens Jugendlicher, ohne jedoch die Ursachen der Entstehung von Kriminalität genauer untersucht zu haben.

Nachdem ich mich ausführlich mit den wissenschaftlichen Hintergründen beschäftigt hatte, konnte ich mir zu dem Themenkomplex ein differenzierteres Bild erarbeitet. Es erschien mir interessant, sich dem Thema methodisch im Rahmen meiner Diplomarbeit zu nähern und mich tiefer damit auseinanderzusetzen, da es sich offensichtlich um eines der grundlegenden Themen im Fach Pädagogik handelt. Abweichendes Verhalten und im Gegensatz dazu normales Verhalten sind zwei zentrale Begriffe der Theorie und Praxis der Sozialpädagogik. Man versteht darunter Verhaltensweisen, die irritierend, befremdlich oder als problematisch wahrgenommen werden, wie ich später noch genauer darlegen werde. Hierbei stellt sich mir unweigerlich die Frage, wovon das Verhalten abweicht. Gibt es das „richtige Leben“, das sich nach Normen ausrichtet und das es zu erreichen gilt?

Den Schwerpunkt meiner Arbeit bildet die Auseinandersetzung der Pädagogik mit diversen Devianztheorien. Das beinhaltet die Erörterung des zugrunde liegenden Verständnisses von Erziehungswissenschaft. Des Weiteren werde ich wissenschaftlich erarbeiten, wie die Pädagogik mit Abweichung umgeht, besonderes Gewicht lege ich dabei auf die Zeit des 19. Jahrhunderts, die man als Anfangszeit der Fürsorgepädagogik definieren kann. Eine größere Bedeutung kommt hier Johann H. Wichern zu, der eine der ersten Rettungshäuser für „abweichende“ Kinder gegründet hat.

Im zweiten Kapitel werde ich mich damit auseinandersetzen, was man unter Abweichung und Normalität versteht und gebe hierzu einige Definitionsansätze. Verschiedene Wissenschaftler wie Emile Durkheim (1858-1917) und der Psychologe und Philosoph Michel Foucault (1926-1984) beschäftigen sich weiterhin mit dem Nutzen der Abweichung. Ihre Ansätze werde ich ebenfalls kurz skizzieren.

Darauf folgt im dritten Kapitel eine Übersicht der Devianztheorien, die in biologische, soziologische und psychologische unterteilt werden und sich untereinander teilweise widersprechen. Um pädagogische Maßnahmen zu verstehen und analysieren zu können, ist es notwendig, sich die Ursachen für "nicht normgerechtes Verhalten" anzusehen.

Das vierte Kapitel bildet den historischen Hintergrund des pädagogischen Umgangs mit Delinquenz. Ich beginne diesen Teil mit der Erarbeitung einer einheitlichen Definition von Pädagogik, um den Gegenstand dieser Arbeit zu verdeutlichen. Ferner werden zentrale Begriffe wie Selbsttätigkeit, Bildsamkeit sowie Sozialisation und Enkulturation erörtert. Um zu den Konzepten der Pädagogik im 19. Jahrhundert zu kommen, werde ich den historischen Verlauf bis zu dieser Epoche darstellen. Die vergangenen Jahrhunderte brachten eine Vielfalt an pädagogischen Richtungen und Handlungsformen hervor, welche die Pädagogik zu großen Teilen geprägt hat. Damit die gesellschaftlich-politischen Wirkungen auf die Pädagogik besser verstanden werden können, werde ich die Verhältnisse im 19. Jahrhundert kurz erläutern. Die Zeit zwischen 1800 und 1880 beschreibt die Anfänge der Fürsorge in der Erziehung, für die Johann H. Wichern eine bedeutende Rolle spielte. Er entwickelte mit seinem Rauhen Haus in Hamburg eines der ersten Konzepte, das Devianz entgegenwirken sollte und welches noch heute Anwendung finden. Der Begriff der „Fürsorgeerziehung“, der im Zusammenhang mit Wichern öfter genannt wird, wurde weitgehend um die Jahrhundertwende verwendet, während man heute von Sozialarbeit oder Sozialpädagogik spricht. Knapp formuliert, drückt sich die dahinter stehende Absicht in der Beseitigung der Armut aus.[1]

Das fünfte Kapitel soll die heutige Situation sichtbar machen. Den Anfang bildet eine Einführung in die Straf- und Wohlfahrtspolitik und deren weitere Veränderungen. Anschließend gehe ich auf verschiedene Vorstellungen von Strafe ein und betrachte ebenfalls die aktuellen Tendenzen diesbezüglich. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit dem Hilfebegriff.

Abschließend folgt im sechsten Kapitel die Analyse unter Bezugnahme der Devianztheorien. Ich möchte der Frage nachgehen, welches die Ziele und Ansprüche der Pädagogik in dieser Zeit waren und welches Menschenbild dem zugrunde liegt. Wichtig erscheint mir auch, die pädagogische Reaktion auf Abweichung damals zu untersuchen.

Ich beende die Arbeit mit einem Fazit, das die Erkenntnisse beinhaltet, die ich während der Auseinandersetzung mit dem Thema Devianz im Laufe der Arbeit gewonnen habe.

2. Normalität und Abweichung

Die Begriffe der Normalität und der Abweichung können unterschiedlich definiert und verwendet werden. Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, was unter diesen beiden Konstruktionen verstanden werden kann und zu welchem Zweck sie gebraucht werden. Dabei beziehe ich mich auf die Ergebnisse und Meinungen verschiedener Autoren.

Die Gesellschaft sieht in der Normalität eine Orientierung, die fast als natürliche Begebenheit bezeichnet werden kann. Dieser Eindruck wird von institutionalisierten und nicht institutionalisierten Praktiken stark unterstützt.[2] Dies betont auch Elisabeth von Stechow, wenn sie die Grundannahmen von Normalität zusammenfasst:

„Die Konstruktion von Normalität wird als gesellschaftliches Regulativ verstanden, das eine Orientierung für die Verhaltenssteuerung der Individuen hochdifferenzierter Gesellschaften bietet. Verhaltensstandards unterliegen einem historischen Wandel, ...“ (Stechow 2004, 17-18)

Normalität sei etwas historisch Gewordenes, wie Werner Sohn und Herbert Mertens in dem Vorwort ihres Buches beschreiben. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich ein Verständnis von Normen und in Abgrenzung dazu von Abweichung. Besonders um 1900 wurde diese Trennung durch Verfallangst und Fortschrittoptimismus verstärkt.[3]

Stechow beruft sich auf Link, wenn sie davon ausgeht, dass die Diskussion über Normalität zwischen 1820 und 1870 entstanden ist und Adolphe

Quételet[4], Auguste Comte[5] und Francis Galton[6] einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben.[7] Wie Stechow diesbezüglich analysiert, beginnt im 19. Jahrhundert eine Sammlung empirischen Wissens. Die neuen Erkenntnisse werden geordnet und kategorisiert. Dies führt auch dazu, dass eine allgemeine Struktur entworfen wird, die als normal gilt und dementsprechend auch Abweichungen benannt werden.[8] Der Begriff der Normalität hingegen hat sich nach Mertens erst im 20. Jahrhundert eingebürgert.[9]

Abweichendes Verhalten nennt man auch Delinquenz. Dieser Begriff hat seinen Ursprung im Englischen und umfasst ein

,,gegen geltende Gesetze verstoßendes Verhalten, das differenzierter benannt werden kann als Pflichtverletzung, Missetat, Vergehen und Verbrechen.“ (Myschker 1996, 377)

Spricht man von Abweichungen, muss es eine festgelegte Normalität geben, von der man abweichen kann. Dies führt in der Regel zu Sanktionen für den Delinquenten. Durch diese kann die Disziplinierung der Individuen gewährleistet werden. Bei Jugendlichen gehören gelegentliche Normbrüche zum Heranwachsen dazu, wie Stechow betont, und werden nicht unbedingt jedes Mal bestraft.[10]

Nicht dazuzugehören zähle als Grundangst der Gesellschaft, wie Sabine Hark darstellt. Das Ordnungsgefüge ist heute nicht mehr feststehend, es gibt keine eindeutige Normalität mehr. Dadurch wird es für den Einzelnen umso schwieriger, sich normal zu verhalten und nicht die Grenze zu

Anormalität zu überschreiten. Der Preis für diese Dazugehörigkeit ist die Anpassung an die Norm. Da diese aber nicht feststeht, richtet das Individuum sein Verhalten an dem der Mehrheit aus, in der Hoffnung, dass dies das richtige, erwünschte sein könnte. Wichtig dabei ist, auch so zu bleiben wie die anderen.[11]

„Normen funktionieren also nicht als Prägestempel. Vielmehr entstehen sie und werden verfestigt durch ein ständiges und zugleich dynamisches Wiederholen.“ (Hark in Sohn/Mertens 1999, 78)

Entscheidend bei dem Begriff der Normalität ist, wie Hark beschreibt, die Grenzziehung. Das Ausgegrenzte steht dem Normalen gegenüber. Da die Angst besteht, diese Grenze zu überqueren, versucht die Gesellschaft, sie deutlicher zu machen und zu überwachen. Das Anormale wird als gefährlich deklariert. Somit kann man sagen, dass Normalität separiert und dadurch interniert.[12] Folglich festigt diese Dichotomie die Homogenität einer Gruppe durch die Unterteilung der „Normalen“ und der „Nicht-Normalen“.[13]

Mit Normalität beziehungsweise deren Konstruktion hat sich auch Foucault immer wieder beschäftigt.[14] Seine Hauptthese lautet, dass Diskurse und Praktiken das Individuum erst formen und dass dieses nicht naturgemäß existiert. Der Einzelne wird durch verschiedene gesellschaftliche Institutionen überwacht und kontrolliert und damit einer Norm unterworfen.[15]

Auch Ian Hacking folgt dieser Vorstellung Foucaults, dass Normalität keinen natürlichen Vorgang darstellt. Er betrachtet das Ganze aus einer anderen Perspektive. Er geht in seinem Essay „ Leute (zurecht) machen“ davon aus, dass Menschen in Gruppen eingeteilt werden und erst dadurch zu dem werden, was man ihnen nachsagt. Besonders deutlich wird dies an seiner Aussage: „…jeder von uns ist gemacht.“ (Hacking 2000, 18) Nach Hacking werden zuerst neue Kategorien geschaffen, zu denen Menschen sich zuordnen lassen. Diese Einteilungen sind nicht statisch, sie ändern sich etwa alle zehn Jahre mit dem sozialen Wandel. Wie der Philosoph feststellt, versuchen die Personen sich ihren Sparten anzupassen und deren Bild gerecht zu werden. Er unterscheidet zwei Herangehensweisen an Normalität. Traditionell nominalistisch würde er sagen, dass die Dinge nur die ihnen gegebenen Namen gemeinsam haben. Traditionell realistisch gesehen gibt es feststehende Arten, welche von der Menschheit klassifiziert wurde. Hacking selbst bevorzugt die Theorie des dynamischen Nominalismus. Hierbei geht es um ein gleichzeitiges Auftreten einer neuen Art und deren Klassifikation. Sie treiben sich somit gegenseitig voran.[16]

Im Folgenden werde ich spezieller auf die Konzepte der Norm und der Abweichung eingehen. Nach einer kurzen Definition folgt jeweils ein Hinweis zur Variabilität. In dem Exkurs werde ich genauer auf den Ansatz der normativen Pädagogik eingehen. Abschließend untersuche ich unter Bezugnahme von Durkheim und Foucault den Zweck von Abweichung.

2.1. Normen

Normen beschreiben und umschreiben Werte und es werden in ihnen Verhaltensforderungen ausgedrückt. Sie regeln und leiten unser Verhalten und dienen wie anfangs schon erwähnt als Orientierungshilfe für unser Leben. Der Geltungs- und Wirkungsgrad der Norm hat Einfluss auf das Verhalten eines Menschen. Der Geltungsgrad sagt etwas über die Akzeptanz einer Norm aus und der Wirkungsgrad beschreibt das Befolgen oder das Nichtbefolgen einer Norm. Der Toleranzbereich einer Norm entscheidet, wann Sanktionierungen erfolgen. Die Institutionalisierung geschieht durch die Gesetzgebung (Normgebung) in großen Gruppen (Firmen, Länder, Politik,...) und wird in Verträgen festgehalten. Dieser Vorgang bietet Sicherheit für die Mitglieder durch Einigung und Standardisierung. In kleinen Gruppen (wie zum Beispiel in Freundescliquen) besteht meistens eine Selbstregulierung, da sich jeder Einzelne an selbst geschaffene Regeln und Vorgaben hält. Die Norm setzt ethische, moralische, politische und theoretische Überlegungen voraus.[17]

Die Realisierbarkeit von Normen ist notwendig, um diese zu erfüllen.

Können muss dem Sollen vorausgesetzt sein, um einen funktionalen Ablauf zu gewährleisten. Das bedeutet, dass gewährleistet sein muss, eine Vorschrift überhaupt erfüllen zu können, bevor man sie erfüllen soll. Eine regelmäßige Überprüfung der Norm ist notwendig, da Motivation und Situation sich ändern können. Normative Regeln sind auf wiederkehrende zeitliche Situationen angelegt. Man rechnet demnach mit Regelmäßigkeit.[18]

Ein wichtiges Merkmal von Normen ist deren Variabilität. Das bedeutet, dass Normen Interpretationssache und somit je nach Land und Kultur verschieden sind. Es gibt nur einige wenige Gesetzmäßigkeiten, die intrakulturell unumstößlich sind, da sie mit moralischen Wertungen argumentieren und als feste Regel für die Gesellschaft gelten. Die Mehrheit der Verhaltensforderungen ist situationsspezifisch und kann sich zu verschiedenen Zeitpunkten ändern. Sie entwickeln sich mit der Gesellschaft und passen sich ihr an, wie am Beispiel Homosexualität deutlich wird. Früher verpönt und verachtet, heute wird sie von vielen als normal angesehen. Des Weiteren sind Normen positionsbezogen und können unterschiedliche Empfänger oder unterschiedliche Ausprägung haben.[19]

Kant hat die Frage aufgeworfen, wie das, was gesellschaftlich als moralisch wertvoll und allgemein sinnvoll erachtet wird, dem Einzelnen so

näher gebracht werden kann, dass dieser das genauso sieht und dementsprechend handelt. Er geht davon aus, dass jeder ein ausreichendes Interesse an richtigem moralischem Handeln habe. Dies macht er an seinen Beobachtungen fest.

„Immer, wenn Menschen über das Handeln anderer sprechen, beurteilen sie diese Handlungen zugleich und legen ihnen sittlichen Wert zu, in dem sie ein Tun als gut, schlecht, hervorragend, edel oder böswillig bezeichnen.“ (Lassahn 2000, 99)

Kant definiert eine Norm erst dann als solche, wenn sie begründet ist. Es müssen Maßstäbe gefunden werden, nach denen man urteilen kann. Wichtig ist hierbei, dass der Mensch sich frei zu diesen Normen bekennen muss, um sich moralisch zu verhalten. Moral ist nach Kant nicht erzwingbar.[20]

Exkurs: Normative Pädagogik

Normen spielen in allen Formen der Pädagogik eine Rolle. Besonders bedeutsam sind diese allerdings in dem Konzept der normativen Pädagogik. In diesem werden Normen zugrunde gelegt, nach denen die Erzieher handeln sollen.[21] Wie Lassahn beschreibt, gibt es verschiedene Möglichkeiten der Definition und der Eingrenzung, die jedoch allesamt in den wissenschaftlichen Diskursen eher abwertend genannt werden. Während Massner unter normativer Pädagogik nur die katholischen Ansätze[22] begreift, geht Blankertz weiter. Er sieht auch die evangelischen, technologischen sowie die sozialistischen Ansätze als eine Form der normativen Pädagogik an.[23]

Ein großer Vertreter der normativen Pädagogik ist Johann Friedrich Herbart aus dem 18. Jahrhundert[24] Sein Ziel, das er mit dieser Form des pädagogischen Konzepts erreichen möchte, besteht darin, einem Erzieher genau begründete Arbeitsanweisungen zu geben und jedes pädagogische Handeln wissenschaftlich zu fundieren. Pädagogik soll eine Lehre sein, deren Ergebnisse überprüfbar und auch von anderen Disziplinen anwendbar sind. Dazu ist es notwenig, feste Normen und darauf aufbauende Regeln zu definieren.

Auch wenn die Grundideen aus dem letzten Jahrhundert stammen, kann man nicht sagen, dass sie an Bedeutung verloren hätten. Gegen Ende der 1970er Jahre kam die normative Pädagogik wieder ins Gespräch.[25]

2.2. Abweichung

Nach Siegfried Lamnek´s Definition sind alle Verhaltensweisen, die nicht der Norm entsprechen, Formen von abweichendem Verhalten. Delinquenz und Konformität sind gleichrangige Formen des Verhaltens, die nur in verschiedenen Richtungen oder nach anderen Gesichtspunkten verlaufen.[26] Schäfers fasst dies folgendermaßen zusammen:

,,Unter abweichendem Verhalten sind all diejenigen Verhaltensweisen, Handlungen und Einstellungen zu verstehen, die nicht übereinstimmen mit den als konform angesehenen Erwartungen anderer Personen, Gruppen, Institutionen und schließlich der Gesellschaft.“ (Schäfers 2001, 203)

Personen verhalten sich also immer dann abweichend oder deviant, wenn sie nicht den von der Gesellschaft als normativ vorgegebenen Weg gehen. Entscheidend ist hierbei nach Lamnek die positive oder negative Bewertung, ohne die es keine abweichenden Verhaltensweisen gäbe.[27]

Wie im Kapitel 2.1. bereits beschrieben, können sich Normen verändern beziehungsweise sind kulturell verschieden. Bestehende abweichende Verhaltensweisen variieren, wenn die Gesellschaft ihre Vorschriften umformt. Dies wird im internationalen Vergleich deutlich. Manche Verhaltensarten gelten in einigen Ländern (zum Beispiel in den USA) als abweichend, während sie in anderen Ländern (zum Beispiel Deutschland) als „normal“ angesehen oder zumindest toleriert werden. Dazu gehören unter anderem Prostitution und Sitzblockaden.[28]

„Was heute und hier Verbrechen ist, ist es vielleicht morgen und dort nicht mehr und umgekehrt.“ (Metzger in Steuber 1988, 48)

2.2.1. Der Nutzen von Abweichung

Frevel bezieht sich auf Durkheim, wenn er die These aufstellt, dass Abweichung notwendig und nützlich sei. Sein erstes Argument ist, dass erst die Dichotomie von Konformität und Abweichung ein kollektives Gefühl in der Gesellschaft entstehen lässt. Dadurch kann sich dann eine Empfindung für Moral entwickeln. Der Ausschluss einiger Individuen fördert den Zusammenhalt der restlichen Bevölkerung. Durch die gezwungene Auseinandersetzung zwischen richtig und falsch bleibt die Gesellschaft flexibel und denkt über ihre Zukunft nach.

Das zweite Argument von Durkheim besteht darin, dass man in der gesellschaftlichen Abweichung den Zustand der Zukunft sehen kann. Was ehemals noch bestraft wurde, gilt heute als legal.[29] Darauf geht auch Lothar Kuhnen ein. Er sieht die Nützlichkeit der Abweichung darin,

„…dass man zur Bewertung ihrer Folgen Standards verwendet, die mit denen konkurrieren, mit denen die durch die Handlungen verletzten Strafrechtsnormen gerechtfertigt werden.“ (Kuhnen in Lüderssen/Sack 1980, 45).

Die Normverletzung ist demnach dann nützlich, wenn die Folgen mit neu entstanden Standards bewertet werden und damit zur Änderung der Norm führen.[30] Foucault beschreibt den Nutzen von Delinquenz folgendermaßen:

„Anstatt von einem Versagen des Gefängnisses bei der Eindämmung der Kriminalität, sollte man vielleicht davon sprechen, dass es dem Gefängnis sehr gut gelungen ist, die Delinquenz als einen spezifischen, politisch und wirtschaftlich weniger gefährlichen und sogar nützlichen Typ von Gesetzwidrigkeit zu produzieren; es ist ihm gelungen, die Delinquenz als ein anscheinend an den Rand gedrängtes, tatsächlich aber zentral kontrolliertes Milieu zu produzieren; es ist ihm gelungen, den Delinquenten als pathologisiertes Subjekt zu produzieren.“ (Foucault 1994, 357)

Eine als Abweichung bestimmte Rechtswidrigkeit bietet zunächst den Nutzen der einfachen Kontrollierbarkeit, da die einzelnen Personen gekennzeichnet werden, zum Beispiel durch das Strafregister. Des Weiteren lässt sich aus einer gut organisierten Delinquenz Gewinn ziehen.[31] Zugleich kommt es zu einer Absonderung des andersartigen Milieus, es wird von dem Rest der Gesellschaft gemieden und geächtet. Einzelne Vergehen werden durch Zuordnung als Delikte bestimmt, wodurch die massenhafte Verbreitung dieser Straftaten verhindert wird. Die Delinquenz bedeutet eine Alltäglichkeit, sie ist allgegenwärtig und für alle erkennbar.

„Mit ihren heimlichen Agenten und ihren umfassenden Unterwanderungsmöglichkeiten bildet die Delinquenz ein Instrument zur ständigen Überwachung der Bevölkerung: Über die Kontrolle der Delinquenten lässt sich das gesamte gesellschaftliche Feld kontrollieren.“ (Foucault 1994, 363)

Die Delinquenz erhält somit auch eine politische Größe, sie wird zur Basis der modernen Disziplinargesellschaft. Etliche Überwachungsmaßnahmen lassen sich mit einer Bemerkung auf die Vermeidung von Abweichung durchsetzen. Als Nebeneffekt sieht Foucault, dass diese Überwachungsmethoden dann auch auf politische Gegner angewendet werden können. Die Delinquenz kann somit als Mittel zur Sicherung der aktuellen Machtverhältnisse gesehen werden .[32]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man in der Erziehung nicht gänzlich auf Normen verzichten kann. Sie sind Grundbestandteil jeder Gesellschaft. Wichtig hierbei ist jedoch die Vorgehensweise. Sie sollten nicht von außen herangetragen werden, da man dadurch keine Moralität erreichen würde. Vielmehr ist davon auszugehen, wie Kant sagt, dass jeder die Fähigkeit zur Urteilsbildung in sich trägt, der Erzieher wie der Zögling. Idealerweise

„..gelangt der Educandus in einen unendlichen Prozess der Argumentation und Motivation, der jeden Anflug von Fremdbestimmung ausschließt.“ (Lassahn 2000, 113)

Durch reflexiven Umgang mit Normen kann beim Erziehenden ein kritisches Bewusstsein entstehen. Dies kommt dem Ziel der Pädagogik[33], die Befähigung zu einem eigenständigen Leben zu geben, entgegen.[34]

Das folgende Kapitel der Devianztheorien beschäftigt sich mit der Frage, aus welchen Gründen Abweichungen von der Norm entstehen können.

3. Darstellung der Devianztheorien

Um zu verstehen, welche Handlungsspielräume sich der Pädagogik eröffnen, auf Abweichung zu reagieren, ist es entscheidend, auf welche Theorien von Devianz zurückgegriffen wird. In diesem Teil der Arbeit werden diese genauer untersucht, um später im sechsten Kapitel Bezüge zur Pädagogik herzustellen.

Walter sieht den Grund für die Existenz von Kriminalitätstheorien darin, dass die Menschen ihre Angst minimieren möchten, in dem sie die Welt berechenbarer und vorhersehbarer gestalten. Dies geschieht durch Erklärungsmodelle, die von Wiederholungen ausgehen. Ziel ist das Verstehen des beobachtbaren Verhaltens und die Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit.[35] Aus der Fülle der verschiedenen Theorien zur Erklärung von Kriminalität werde ich nur eine begrenzte Auswahl darstellen, welche die Hauptrichtungen der bisher erforschten Annahmen wiedergeben. Dies geschieht aus dem Grund, da es nicht möglich ist, auf alle Ansätze in dieser Arbeit einzugehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Kriminalitätstheorien zu kategorisieren. Ich habe mich dafür entschieden, eine Unterscheidung zwischen biologischen, psychologischen und soziologischen Ansätzen vorzunehmen. Diese lassen sich wiederum grob in zwei Gruppen einteilen: Der eine Teil bezieht sich auf den Täter, dessen Normübertretung zu erklären versucht wird,[36] wie die biologischen und die psychologischen Theorien sowie das Rational Choice Erklärungsmodell (siehe Kapitel 3.1. 3.2. und 3.3.3.). Hierbei gilt eine feststehende Norm, nach der abweichendes Verhalten benannt wird. Die andere Gruppe der sozialstrukturellen Ansätze geht wie die meisten soziologischen Theorien von der Gesellschaft und deren Einfluss auf das Individuum aus (siehe Kapitel 3.3.1., 3.3.2., 3.3.4. und 3.3.5.).[37]

3.1. Die biologische Theorie

Die biologische Devianztheorie geht von der Frage aus, ob es spezifische Eigenschaften gibt, die von Geburt an existieren und somit schon früh den Weg zu abweichendem Verhalten prädestinieren. Der Schlüssel zur Kriminalität liegt hierbei in den körperlichen Eigenschaften beziehungsweise den genetischen Anlagen einer Person. Frevel konstatiert, dass nach der sozialdarwinistischen Theorie des „geborenen Verbrechers“ von Cesare Lombroso (1835-1909) ein Zusammenhang zwischen der erblichen Anlage und dem delinquenten Verhalten einer Person besteht. Lombrosos Theorie legt den Fokus auf das Erbgut, welches zeigen sollte, wer zum Täter wird und wer nicht. Entscheidend ist eine bestimmte Chromosomenabweichung, die offenbaren soll, dass dieser Mensch sich später zum Verbrecher entwickelt.[38] Myschker beschreibt, dass Lombroso in seinen Untersuchungen eine kriminelle und eine nicht kriminelle Gruppe gegenüber stellte und verglich. Auffallende Merkmale waren dann zum Beispiel „...Schädelkapazität, fliehende Stirn, Entwicklung der Kiefer- und Jochbögen, dichtes krauses Haar, große Ohren, Anomalien des Ohrs, Sehschärfe usw.“ (Myschker 2002, 448). Aufgrund seiner Forschung beschrieb Lombroso den ,,geborenen Verbrecher“ als einen Menschen, der körperlich und seelisch auf einer minderen menschlichen Entwicklungsstufe steht, und damit kriminellen Neigungen unabwendbar ausgeliefert sei.[39] Dieselbe Richtung verfolgt Birnbaum. Er wollte mit seiner Lehre von den ,,kleinen Entartungszeichen“ gesteigerte kriminelle Energie an Merkmalen wie Albinismus, abnorme Kopfform, Gaumen- und Lippenspalte, gespaltenes Ohrläppchen u.a. erkennen.[40] Wie Kurt Möller kritisch bemerkt, steckt hinter der biologischen Theorie die Aussage, dass bestimmte Individuen nicht dieselben Potentiale von Geburt an zu sozialem Verhalten haben.[41]

Solche Theorien wurden von mehreren Wissenschaftlern widerlegt. So negieren selbst medizinisch versierte Kriminologen, dass es einen faktischen Hinweis auf den Zusammenhang zwischen körperlichen Eigentümlichkeiten und Straffälligkeit gibt.[42] Eine größere Untersuchung in Bezug auf atavistische und degenerative Merkmale vor dem ersten Weltkrieg, durchgeführt von dem englischen Gefängnisarzt Charles Gorig, konnte nachweisen, dass es keine bedeutsamen körperlichen oder genetischen Unterschiede zwischen kriminellen und nichtkriminellen Menschen gibt. Dennoch werden auch heute noch kriminalbiologische Theorien vertreten und Straftäter als menschlich unterentwickelte Individuen betrachtet, die durch ihr kriminelles Verhalten versuchen, etwaige Fehlentwicklungen auszugleichen.[43]

In der Bevölkerung sind derartige Ansichten meiner Meinung nach trotz wissenschaftlicher Widerlegung immer noch verbreitet. Einige Sprichwörter wie ,,der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ oder ,,Krauses Haar - krauser Sinn“ drücken diese Ansichten aus. Verbrecher werden vielfach in Comics und Kinderbüchern mit fliehender Stirn, Hakennase und zusammengekniffenen Augenbrauen dargestellt, um so den Unterschied zwischen ,,den Guten“ und ,,den Bösen“ deutlich zu machen.

3.2. Die psychologischen Theorien

Im Folgenden werden drei psychologische Ansätze vorgestellt. Das besondere Interesse liegt hierbei jeweils auf der Kindheit.

3.2.1. Der sozialisationstheoretische Ansatz

Im Gegensatz zu den biologischen Devianztheorien geht der sozialisationstheoretische Ansatz von der Grundannahme aus, dass der Mensch von Natur aus weder eindeutig mit guten, noch ausschließlich mit schlechten Anlagen ausgestattet ist. Vielmehr erfährt er seine Prägung durch sein soziales Umfeld. Für die Entstehung abweichenden Verhaltens scheinen die sozialen Bedingungen einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des Jugendlichen zu haben, wie Hurrelmann feststellt. Er legt sein Augenmerk vor allem auf die Herkunftsfamilien, in deren Umfeld der Sozialisationsprozess eines jeden Menschen beginnt.[44] Auch Raithel stellt die Familie als primäre Sozialisationsinstanz von zentraler Bedeutung dar. Untersuchungen haben gezeigt, dass man bei der familiären Sozialisation für die Erklärung jugendlicher Delinquenz von einer der aussagekräftigsten Prädiktoren sprechen kann.[45]

Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten in Familien aufgetreten sind, oder einen Einfluss auf die Auffälligkeit von Kindern haben, sind nach Lehr allein erziehende Eltern, uneheliche Kinder und steigende Berufstätigkeit der Mütter.[46] Weitere Risikofaktoren innerhalb der Familie sind soziodemographische Merkmale wie die finanzielle Stellung und die Familienzusammensetzung. In diesem Zusammenhang nennt Marx wie Lehr die Einelternfamilie. Noch entscheidender ist für sie jedoch der Erziehungsstil. Sowohl der inkonsistente als auch der strafintensive Stil wirken sich ungünstig auf das Kind aus. Sie fördern außerdem die Integration in Jugendgruppen und die Abnabelung von der Familie, was zum Teil auch eher deviantes Verhalten begünstigt.[47] Des Weiteren wurde untersucht, dass Kinder mit vielen Geschwistern zu einem höheren Prozentsatz kriminell werden als die der Vergleichsgruppe.[48] Dies hat zum einen wirtschaftliche Ursachen, da Kinder einen hohen Kostenfaktor darstellen. Darüber hinaus kann oft auch von einer stärkeren Leistungsmotivation von Familien mit geringerer Kinderzahl und von restriktiven und autoritären Tendenzen in der Erziehung bei kinderreichen Familien gesprochen werden.[49] Man kann es auch als eine Frage der Kontrolle sehen. Bei vielen Kindern kann das Einzelne nicht so gut beaufsichtigt werden, zumal es sich wegen der durch die Familiengröße bedingten ungenügenden Wohnverhältnisse häufiger außerhalb der Wohnung aufhält.

Neben der Familie kommt der Schule als ein Teil des sozialen Umfelds besondere Bedeutung zu. Sie dient vor allem zur Identifikation mit Gleichaltrigen. Diverse Untersuchungen sind der Frage nachgegangen, ob schulisches Versagen und Kriminalität in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Jedoch besteht der Zusammenhang nicht zwischen geringer schulischer Fähigkeit und Kriminalität, sondern zwischen der Schulreaktion auf geringere schulische Fähigkeiten und Kriminalität. Höhn beschreibt den Verlauf als einen Teufelskreis. Wird der Schüler zum Außenseiter der Klasse, führt dies zu Misserfolgserlebnissen, Entmutigung und Resignation und ruft noch mehr schulisches Versagen und Schuleschwänzen hervor, das seinerseits mit noch größerer Ablehnung nicht nur seitens der Lehrer, sondern schließlich auch der Schüler beantwortet wird.[50] Der ausgegrenzte Schüler möchte die Anerkennung seiner Klassenkameraden zurück erhalten und greift so zu kriminellen Handlungen und Trotzreaktionen. Marx unterstützt diese Aussage, indem sie auf eine Statistik zurückgreift. „Für 78% der Schüler stellen beispielsweise Schulleistungen größere oder kleinere Probleme dar.“ (Marx 2001, 27)

Neben der Schule spielt der zunehmende Wandel von Freizeitgestaltung und Freizeitmöglichkeiten einen anderen Teil des sozialen Umfelds. Jugendgruppen wie die Pfadfinder oder kirchliche Einrichtungen haben an Bedeutung verloren, die „neuen Medien“ wie Video, Computer und Internet oder Fernsehen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. So treten etwa bei Göppinger straffällige Jugendliche bei den Mitgliedern von Sportvereinen und ähnlichen Organisationen erheblich seltener auf als die Angehörigen der Vergleichsgruppe.[51] Wurde früher der Wert bei der Freizeitgestaltung auf gesellschaftlichen Kontakt gelegt, so geht heute der Trend hin zu einer Isolation. Kommunikation mit anderen tritt hinter der Beschäftigung mit Computern oder Zeit alleine vor dem Fernseher zurück. Zudem wird hierbei gerne auf Gewaltspiele oder Gewaltvideos zurückgegriffen, wodurch eine Bagatellisierung der Gewalttaten eintritt.

Zu den sozialen Kompetenzen, die Heranwachsende durch ihre Sozialisation erlernen, gehört auch die Klärung von Problemen. Hurrelmann beschreibt, dass für die Problembewältigung verschiedene personale (Geschlechtszugehörigkeit, kognitive und motivale Disposition) und soziale (finanzielle und soziokulturelle Lage der Familie) Ausgangsbedingungen ausschlaggebend sind.[52] Probleme können sich daraus ergeben, wenn aufgrund personaler und sozialer Bedingungen unangemessene beziehungsweise unzureichende Kompetenzen erworben und Erwartungen der sozialen Umwelt nicht erfüllt werden. Jugendliche entwickeln feste Muster der Problembewältigung mit unterschiedlicher Ausprägung, die im günstigen Fall eine gut strukturierte, flexible und eigenaktive Wahrnehmung der sozialen Realität beinhalten. Allerdings können sich ebenfalls negative Ausgangsbedingungen wie ausweichende, vermeidende und passive Strategien entwickeln.[53]

Hurrelmann betont, dass viele Heranwachsende, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, ungünstigen Sozialisationsbedingungen ausgesetzt sind. Sie entstammen einem problematischen Familienumfeld, haben Schulprobleme, eine schlechte oder fehlende Berufsausbildung und sind ohne Arbeit. Jugendliche aus sozial gestörten Familienverhältnissen sind bei kriminellen Verhaltensweisen überrepräsentiert. Kriminelles Verhalten ist bei Hurrelmann also oftmals als Reaktion auf die ungünstige Situation zu sehen, in der sie sind.[54]

Die Sozialisationstheorien stehen in engem Zusammenhang mit der Lerntheorie, dem systemischen Ansatz, der Frustrations-Aggressions-These sowie kognitiven Theorien, wobei nicht alle diese Theorien einen Platz in dieser Arbeit finden können. Ich werde im nächsten Kapitel auf die Lerntheorie eingehen, da sie einen weiteren entscheidenden Beitrag zum Verständnis von Kriminalität leistet.

3.2.2. Die Lerntheorie

Walter bezeichnet die Lerntheorie als eine wichtige Erklärungsvariante für Abweichung. Es geht dabei um die Möglichkeit, Verhaltensweisen durch Beobachtung zu lernen und ebenso zu verlernen. Das Erfolg versprechende Verhalten wird als brauchbar eingestuft und wiederholt.[55] Die Lerntheorie ist nach Möller eine Weiterführung des behavioristischen Ansatzes von Watson.[56] Lernvorgänge laufen nach den Prinzipien des klassischen und des operanten Konditionierens sowie des Imitations- und Modelllernens ab. Klassische Konditionierungen sind für die Normenbildung verantwortlich. Positive Konsequenzen verstärken laut Skinner die Wahrscheinlichkeit, das Verhalten zu wiederholen. Anfangs sollte die Verstärkung jedes Mal anschließen, nach einiger Zeit ist es effektiver, wenn diese unsystematisch und intermittierend erfolgt. Dieses so konditionierte Verhalten ist nur schwer zu löschen. Oft wird dieses Verhalten unbewusst angewandt. Angst und Aggressivität werden durch operante Konditionierung aufgebaut. Anerkennung von außen und Erfolgserlebnisse verstärken den Effekt.

Da ein Individuum nicht alles selbst erproben kann, sieht es sich nach Vorbildern um. Nach dem Imitations- oder Modelllernen von Bandura

werden bevorzugt bekannte und beliebte Personen imitiert. Deren Verhaltensweisen, die erfolgreich sind, werden in das eigene Verhaltensrepertoire eingegliedert. Ebenso werden vorgelebte Normen übernommen.[57] Erlernte Verhaltensweisen hängen davon ab, welche Normen in der Sozialisation als richtig gelten und werden je nach Häufigkeit, Dauer und Priorität der Verhaltensweisen in das eigene Handlungsmuster übertragen. Sutherland betont, dass eine Person, die oft Kontakt zu nonkonformen und kriminellen Subkulturen der Gesellschaft hat, abweichendes Verhalten lernt und straffällig wird.[58]

Neutralisationstechniken (unter anderem Sykes, Matza), so Möller, sind ein Teil der Lerntheorie. Sie dienen dazu, in Situationen kognitiver Disharmonie Rechtfertigungen für die Positionierung des Individuums zu finden.[59] So gelten als Neutralisierungstechniken nach Amelang zum Beispiel die Ablehnung der Verantwortung, die Verneinung des Unrechts oder die Ablehnung des Opfers.[60]

3.2.3. Der psychoanalytische Ansatz

Die charakterliche Entwicklung des Menschen hat aus psychoanalytischer Sicht ähnlich wie bei dem sozialisationstheoretischen Ansatz ihre Ursache in der frühen Kindheit. Von großer Bedeutung ist hierbei die emotionale Beziehung zwischen dem Kleinkind oder Säugling zu seinen Eltern.

„Die stabile seelische Zuwendung der Bezugsperson ist die Grundbedingung für die Entwicklung des „Urvertrauens“ des Kindes in die Welt. Emotionale Mangelzustände in der frühen Kindheit, zum Beispiel bei Heimkindern, bei Vernachlässigung oder Ablehnung durch die Bezugsperson können zu andauernden psychischen, sozialen ja sogar körperlichen Schäden führen.“ (Kerscher 1985, 11)

Welche bedeutsame Rolle diese Beziehung hat und wie wichtig die Intaktheit der Familie aus psychoanalytischer Sicht ist, wird an Hand der Forschung von Horst Eberhard Richter deutlich. Sowohl eine übermäßige Verwöhnung und inkonsequente Erziehung als auch eine zu starke Einengung und Dressur des Kindes kann ihren Ausdruck in einer kriminellen Handlung finden. Ähnliche Gedanken finden sich bei Marx zu sozialisationstheoretischen Ansätzen (siehe Kapitel 3.2.1.).

Das psychodynamische Modell der Instanzen: Ich, Es und Über-Ich[61] zeigt, welche Formen eine „nicht geglückte“ Erziehung annehmen kann und wie die Charakterstruktur des Gewissens entscheidend in der frühen Kindheit geprägt wird. Dies ist abhängig vom Beginn, Dauer und Intensität der Identifikation mit der Bezugsperson.[62] Myschker schreibt, dass basierend auf Erkenntnissen des Darwinismus kriminelles Verhalten als ,,...Triebdurchbrüche aus dem Es, als Regressionen der Libidoentwicklung oder als Identifikationsproblematik...“ (Myschker 2002, 450) dargestellt wird. Entscheidend bei Freud ist die These, dass das Kind als triebgesteuertes, sozusagen kriminelles Wesen auf die Welt kommt und erst im Laufe des Älterwerdens durch die Entwicklung eines Über-Ichs, einer moralischen Kontroll-Instanz, sich selbst zu bändigen lernt. Sollte sich das Ich zu schwach entwickeln, muss es zwangsläufig zu kriminellen Handlungen kommen. Myschker erklärt dies zusammenfassend mit einer misslungenen Identifikation, das heißt einer schlechten Sozialisation im Kindesalter, bei der die Person keine positiven Bezugspersonen hatte. Kriminelles Verhalten „…geht zurück auf unfähige, ablehnende, lieblose, kalte, inkonsequente, überforderte Eltern.“ (Myschker 2002, 451)[63]

Die Psychoanalyse argumentiert somit eng an dem in Kapitel 3.2.1. und 3.2.2. beschriebenen sozialisationstheoretischen Ansatz und der Lerntheorie.

[...]


[1] Vgl. Fachlexikon der sozialen Arbeit 1997, S. 368ff.

[2] Vgl. Sohn in Sohn/Mertens 1999, S. 9-11

[3] Als Beispiele kann man unter anderem nennen: Änderung der Regierung von einer absolutistischen Herrschaft zu einer homogenisierten und normierten Regierungsmacht, Vereinheitlichung von Lehrern und Ärzten. Mehr dazu siehe Sohn in Sohn/Mertens 1999, S. 5-14

[4] Quételet, 1796-1874, belgischer Statistiker, Theorie der Anthropometrie: Ermittlung des Durchschnittsmenschen durch das Prinzip der binomischen Verteilung. Hauptwerk: „Sur l´homme et le développement et ses facultés, ou essai de physik sociale“ 1835

[5] Comte, 1798-1857, französischer Mathematiker, erster Theoretiker des Normalismus, Vorlesung über „positive Philosophie“ 1826

[6] Galton, 1822-1911, englischer Naturforscher, Erfinder des „Galton-Bretts“ - einem Modell zur Demonstration von Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Konstruktion des geborenen Verbrechers

[7] Vgl. Stechow 2004, S. 100-107

[8] Ebd., S. 38

[9] Vgl. Mertens in Sohn/Mertens 1999, S. 47

[10] Vgl. Stechow 2004, S. 56-57

[11] Vgl. Hark in Sohn/Mertens 1999, S. 63ff.

[12] Ebd., S. 77 ff.

[13] Darauf gehe ich näher in dem Kapitel 2.2.1. Der Nutzen von Abweichung ein

[14] Bedeutsam erscheinen mir hierbei die folgenden Werke: Doktorarbeit 1961: „Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“, 1966: „Die Ordnung der Dinge“, 1969: „Die Archäologie des Wissens“, Antrittsvorlesung am Collège de France 1970: „Die Ordnung des Diskurses“, 1975: „Überwachen und Strafen“, 1976: „Der Wille zum Wissen“

[15] Vgl. Stechow 2004, S. 35ff.

[16] Vgl. Hacking 2000, S. 5-11

[17] Vgl. Lamnek 1990, S. 16-29

[18] Ebd., S. 35-37

[19] Ebd., S. 31-35

[20] Ebd., S. 99-102

[21] Vgl. König/Zedler 2002, S. 28-36

[22] Wie Lassahn schreibt, bekam normative Pädagogik häufig den Ruf einer katholischen Erziehungslehre, da der höchste Wert religiöser Natur und somit unhinterfragbar war. (Vgl. Lassahn 2000, S. 112)

[23] Vgl. Lassahn 2000, S. 95-96

[24] Mehr zu Herbart siehe Kapitel 4.2.

[25] Vgl. König/Zedler 2002, S. 29

[26] Vgl. Lamnek 1990, S. 43-45

[27] Ebd., S. 29-31

[28] Vgl. Stimmer 2000, S. 2-5

[29] Vgl. Frevel 1999, S. 20-22

[30] Vgl. Kuhnen in Lüderssen/Sack, 1980, S.44-49

[31] Deutlich wird dies am Beispiel der Prostitution

[32] Vgl. Foucault 1994, S. 351-368

[33] Ziele der Pädagogik siehe Kapitel 4.1. unter dem Stichwort der Selbsttätigkeit

[34] Vgl. Lassahn 2000, S. 112-113

[35] Vgl. Walter 1995, S. 21-22

[36] In wissenschaftlichen Diskursen werden sie auch als ätiologische Theorien bezeichnet

[37] Vgl. Walter 1995, S. 21

[38] Vgl. Frevel 1999, S. 22

[39] Vgl. Myschker 2002, S. 448

[40] Vgl. Birnbaum 1914, S. 521f.

[41] Vgl. Möller 2001, S. 53

[42] Vgl. Göppinger 1997, S. 213 ff.

[43] Vgl. Myschker 2002, S. 448

[44] Vgl. Hurrelmann 1994, S. 202

[45] Vgl. Raithel 2003a, S. 113-119

[46] Vgl. Lehr 1973, S. 43-65

[47] Vgl. Marx 2001, S. 25-26

[48] Vgl. Göppinger 1996, S. 252-268

[49] Vgl. Lehr 1973, S. 72-85

[50] Vgl. Höhn 1986, S. 3-17

[51] Vgl. Göppinger 1996, S. 283 ff.

[52] Vgl. Hurrelmann 1994, S. 193-194

[53] Ebd., S.195

[54] Ebd., S.202

[55] Vgl. Walter 1995, S. 23-25

[56] Vgl. Möller 2001, S. 55

[57] Vgl. Myschker 2002, S. 105-109

[58] Vgl. Möller 2001, S.70-72

[59] Ebd., S. 72

[60] Vgl. Amelang 1986, S. 185-186

[61] Das Es umfasst die triebhafte, unbewusste Seite, das Über-Ich ist eine Kontroll-Instanz, die (un)bewusst die moralische Wertung übernimmt und die moralischen Gebote und Verbote der Eltern beinhaltet. Das Ich vermittelt zwischen den Triebansprüchen des Es, den moralischen Forderungen des Über-Ichs und der Realität der Außenwelt.

[62] Vgl. Kerscher 1985, S. 11-24

[63] Vgl. Myschker 2002, S. 450-451

Ende der Leseprobe aus 95 Seiten

Details

Titel
Pädagogik und Abweichung - Eine kritische Auseinandersetzung mit einschlägigen Devianztheorien
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main  (Pädagogik Fachbereich 04)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
95
Katalognummer
V64935
ISBN (eBook)
9783638576222
ISBN (Buch)
9783638710626
Dateigröße
772 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pädagogik, Abweichung, Eine, Auseinandersetzung, Devianztheorien
Arbeit zitieren
Sandra Krauß (Autor:in), 2006, Pädagogik und Abweichung - Eine kritische Auseinandersetzung mit einschlägigen Devianztheorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64935

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