Stockende Nachrichten - Zur Sage in "Beim Bau der chinesischen Mauer"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

24 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS:

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1. Der Erzähler
2.2. Die Fragen zum Mauerbau
2.3. Die kaiserliche Botschaft
2.3.1. Die Erzählstruktur und Erzählsituation
2.3.2. Die Beschreibung der Charaktere
Der Bote
Der Kaiser
Das Volk
2.4. Das Fragment zum „Beim Bau der chinesischen Mauer“
2.5. Kafkas Themen und Motive
Ein theologischer Ansatz
2.6. Vergleich mit anderen Texten Kafkas
2.7. Realer historischer Hintergrund des Mauerbaus

3. Der Schluss

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll das Thema „Stockende Nachrichten. Zur Sage in „Beim Bau der chinesischen Mauer“ von Franz Kafka erläutert werden.

Die Geschichte „Beim Bau der chinesischen Mauer“ ist im März 1917 entstanden. Der Titel dieser Geschichte fehlt allerdings im Manuskript. Er erscheint im postumen Druck innerhalb des Sammelbandes „Beim Bau der Chinesischen Mauer 1931“. Ähnlich wie die chinesische Mauer in dieser Erzählung nach einem „System des Teilbaues“ errichtet wurde, scheint auch der Text aus mehreren Teilen zusammengefügt, deren Einheit kaum wahrnehmbar ist.

Nur im ersten Teil handelt er vom Bau der chinesischen Mauer, indem er stufenweise vom Konkreten ins Abstrakte und Prinzipielle vordringt. Zuerst steht das „System des Teilbaues“ und die ihm dienende spezielle Arbeitsorganisation im Mittelpunkt. Dann dominiert die Vorstellung von einem ganzheitlichen Konzept, das nach der Meinung des Erzählers die oberste „Führerschaft“ dem Mauerbau einst zugrunde legte und das daher zum Anlass einer historischen Untersuchung wird.

Der folgende zweite Teil gilt ausschließlich dem Kaisertum und dem Kaiser, dessen Existenz aber ins Ungewisse gerät. So erscheint das Leben des Volkes wie das jedes einzelnen nur als „ein gewissermaßen freies, unbeherrschtes Leben“[1], „das unter keinem gegenwärtigen Gesetze steht und nur der Weisung und Warnung gehorcht, die aus alten Zeiten zu uns herüberreicht“[2].

Diese zwei Hauptteile der Erzählung sind nicht in einem Zusammenhang, sondern wie die chinesische Mauer nach dem „System des Teilbaus“ komponiert.

In dem Text wird von Kafka auch eine „Sage“ eingeschoben unter dem Titel „Eine kaiserliche Botschaft“, die in der jüdischen Wochenschrift „Selbstwehr“ 1919 veröffentlicht wurde.

Eine kaiserliche Botschaft bezeichnete die verloren gegangene Beziehung zwischen Untertanen und Kaiser, zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen und damit die verloren gegangene Möglichkeit, sich gesellschaftlich einzuordnen.

Die Welt des alten China bietet sich Kafka wie von selbst als Stoff an. Ein einfacher Bürger des Landes erzählt seine Beobachtungen und Gedanken beim Bau der Großen Mauer.

Die unendlich erscheinende Größe seiner Heimat führt dazu, dass alle Impulse, die von der Hauptstadt ausgehen, undeutlich werden und draußen in der Provinz nicht mehr als verbindliche Aufträge und Weisungen, sondern wie sagenhafte Historien ankommen.

Die Erzählung hat den Charakter eines wissenschaftlichen Berichtes. Der Erzähler bezeichnet sich als Historiker. Bei der Erzähltechnik kommt es zur ständigen Verschiebung der Handlung zwischen diversen zeitlichen Ebenen. Dadurch gelingt es ihm zwischen Passagen mit von ihm „Selbst Erlebtem“ und von ihm „wiedergegebenen (mündlichen) Überlieferungen“ unauffällig zu wechseln.

Warum die Erzählung „Beim“ und nicht „Der chinesische Mauer“ heißt, kristallisiert sich aus der Erzählung selbst heraus. Es handelt sich um die Ereignisse, die dem Bau umrahmen können. Was die zeitliche Ebene angeht ist der Bau nicht abgeschlossen und es wird beschrieben, wie sie gebaut wird.

2. Der Hauptteil

2.1. Der Erzähler

Genauso wie in der Erzählung „Forschungen eines Hundes“ steht auch der Erzähler in „Beim Bau der chinesischen Mauer“ so weit außerhalb der Gesellschaft, dass er danach fragen kann, auf welchen Prinzipien sie eigentlich beruht. Seine Überlegungen gehen in zwei Richtungen. Sie zielen jeweils auf eine der Einrichtungen, die die chinesische Gesellschaft zusammenhalten. Auf der einen Seite ist es der Bau der großen Mauer und auf der anderen der Glaube an den Kaiser.

Der Erzähler selbst gehört zu den Erbauern der Mauer und spricht daher aus der Perspektive des Beteiligten und Betroffenen. Er ist ein alter Mann, der auf sein vom Mauerbau bestimmtes Leben, ja auf die Jahre „vor Beginn des Baues“[3] zurückblickt, als er mit anderen „kleinen Kindern“[4] schon für das Großprojekt erzogen wurde. Wie sehr der Mauerbau seine ganze Lebensgeschichte beanspruchte und wie sehr er sich mit ihm identifiziert, geht auch aus der auf Kindheit und Jugend folgenden Phase hervor:

„Ich hatte das Glück, das als ich mit zwanzig Jahren die oberste Prüfung der untersten

Schule abgelegt hatte, der Bau der Mauer gerade begann“[5].

Die Vorbereitung zum Mauerbau kann man als eine Metapher für die auf das Berufsleben hinführende Formierung des Menschen durch alle Stationen der Ausbildung und Sozialisation hindurch sehen. Die auffallende Betonung der Organisation beim Unternehmen des Mauerbaus „obersten Prüfung der untersten Schule“ signalisiert die auf allen Ebenen von Autoritäten und institutionellen Abstufungen bestimmte Hierarchisierung des Ausbildungsweges und des Berufslebens.

Der nachdenkende Erzähler spricht auch für das Kollektiv „wir, die Erbauer[6] “, sagt er. Sein Nachdenken, Erzählen und Werten steht demnach unter den Bedingungen eines in den Mauerbau selbst Involvierten und eines Denkens, das von Kindheit, Erziehung und Schule auf den Mauerbau hin formiert wurde. Das Nachdenken des Erzählers führt immerhin zu Reflexionen über den Mauerbau und zu methodischen Fragen, die immer wieder vorkommen.

2.2 Die Fragen zum Mauerbau

Der Erzähler ist offenbar die einzige Person, die sich verwundert die Frage stellt, worin der Zweck der Mauer bestehen soll und warum sie stückweise erbaut worden ist, in Teilmauern, die erst nach und nach verbunden wurden. Vom „System“ des Teilbaues heißt es:

„Es ist auch keine Sonderbarkeit, dass ich mich bei dieser Frage so lange aufhalte, es ist

eine Kernfrage des ganzen Mauerbaues, so unwesentlich sie zunächst schien“[7]..

Und weiter sagt der Erzähler, er könne „gerade diese Frage nicht tief genug nachbohren“[8]. Hier steht die Suche nach dem Wesentlichen im Blickpunkt. Nach der offiziellen Leserart soll die Mauer China vor den Einfällen der Nomadenvölker des Nordens schützen. Der Erzähler im „Bau der chinesischen Mauer“ muss aber eingestehen, dass die Leute solche Nordvölker nie gesehen haben und auch nie sehen werden:

„…, selbst wenn sie auf ihren wilden Pferden geradeaus zu uns hetzen und jagen, - zu groß ist das Land und lässt sie nicht zu uns, in die leere Luft werden sie sich verrennen“[9].

Die Erzählung nimmt damit die historisch bekannte Tatsache auf, dass die reale chinesische Mauer als Schutzwehr gegen die Mongolen-Einfälle aus dem Norden gebaut wurde. Später zeigt sich aber, dass das System des Teilbaus gerade diesem Zweck keineswegs diente. China ist jedoch unermesslich groß, dass der große Teil des Landes, einschließlich des Gebietes im Südosten, niemals von Eindringlingen erreicht werden könnte. Es wurden Gruppen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet, die eine Teilmauer von etwa fünfhundert Metern Länge zu errichten hatten. Dies konnte nach etwa fünf Jahren mit der Teilmauer, die von der entgegengesetzten Seite her auf sie zugebaut worden war, vereinigt werden. Die Anstrengung an das „Volkswerk“ sollte den Erbauern wie der übrigen Bevölkerung ein Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit vermitteln:

Jeder Mann war ein Bruder, für den man eine Schutzmauer baute, und der mit allem, was

er hatte und war, sein Leben lang dafür dankte. Einheit! Einheit! Brust an Brust, ein

Reigen des Volkes, Blut, nicht mehr eingesperrt im kärglichen Kreislauf des Körpers,

sondern süß rollend und doch wiederkehrend durch das unendliche China.[10]

Man kann es als ein Paradox sehen, dass ein „System des Teilbaues“ solche Ganzheit und Einheit bewirken soll. Der einzelne Mensch kann doch nur mit einem kleinen Stück der Mauer beschäftigt werden, weil ihn das Ganze, wie ausdrücklich gesagt wird, überfordern und ermutigen würde.

Die Erklärung knüpft dann an den Mythos vom Turmbau zu Babel an.

„Zunächst muss man sich doch wohl sagen, dass damals Leistungen vollbracht worden

sind, die wenig hinter dem Turmbau von Babel zurückstehen, an Gottgefälligkeit

allerdings, wenigstens nach menschlicher Rechnung, geradezu das Gegenteil jenes Baues

darstellen.[11]

Ist der Mauerbau gottgefälliger oder erscheint umgekehrt der Turmbau, obwohl er in der Bibel nicht gottgefällig ist, im Vergleich zum Mauerbau etwa doch noch als relativ gottgefällig? Der Bibel zufolge wollten die Menschen mit dem Turmbau von Babel den Himmel erreichen, während der Mauerbau ein weltliches Unternehmen ist. Das jedenfalls legen die folgenden Ausführungen nahe, die Kafka perspektivisch bricht, indem er sie nicht dem Ich-Erzähler, sondern dem Buch eines Gelehrten zuschreibt, der dieses Buch „in den Anfangszeiten des Baues“ verfasste. Der Gelehrte will gefunden haben, „dass, der Bau an der Schwäche des Fundamentes scheiterte und scheitern musste“[12]. Die Mauer sollte als Fundament eines neuen babylonischen Turmes dienen. Das heißt, dass das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit sich auch in den Dienst Gewaltherrschender Zwecke nehmen und somit missbrauchen lies.

Und er bohrt fragend nach: „Aber wozu dann die Mauer […]?[13] “, „Gegen wen sollte die große Mauer schützen?[14] “, „warum also, da es sich so verhält, verlassen wir die Heimat […]?[15] “, „Warum? Frage die Führerschaft“[16].

Diese Antwort läuft wiederum auf eine „Frage“ hinaus. Wo das Denken selbst an seine Grenzen stößt, verweist man auf Autoritäten, die zunächst von der „Führerschaft“, später vom „Kaiser“ repräsentiert werden, der dann allerdings Anlass zu neuerlichem Fragen gibt.

Bei der Frage der „Führerschaft“ versucht der Erzähler, dem Wesen der Führerschaft näher zukommen durch eine detaillierte Beschreibung dessen, was sie nicht ist. Er teilt mit, dass die Mauer von einer unbekannten „Führerschaft“ geplant worden sei. Der Erzähler vermutet, diese Führer hätten keine menschliche Existenz, sondern sie und auch den Beschluss, die Mauer zu errichten, habe es von jeher gegeben. Er lässt die Vorstellung aufkommen, dass der Mauerbau, wie er tatsächlich vor sich geht, mit einer geheimnisvollen, überzeitlichen Realität zusammenhängt. Der praktische Wert ist vielleicht nur eine bloße Illusion. Sein wirklicher Zweck liegt darin, das Gefühl einer nationalen Einheit zu erzeugen, dessen Grundlage religiöser Art ist. Und diesem Ziel kann allerdings ein unzweckmäßig durchgeführtes Unternehmen wie das der Errichtung der Mauer in Teilstücken durchaus dienen. Kafka sah, in der Beziehung zwischen Nationalgefühl und Religion die Kernfrage, der sich der Zionismus gegenübersah. In der Erzählung geht Kafka dieser Frage nach und zeigt, dass er sich mit dem Ideal einer Gemeinschaft, die auf Religion gegründet war, einverstanden erklärte.

Von der Frage nach der Bedeutung der großen Mauer geht der Erzähler auf die Frage nach dem Kaiser über. Das Kaisertum hat große historische Bedeutung für das Volk. Alle wissen, dass es den Kaiser gibt, aber keiner hat ihn gesehen. Das Reich ist so groß, dass niemand in der Provinz, in der der Erzähler lebt, nach Peking gelangt ist. Niemand weiß es, wer den Kaiserthron innehat. Die Vorstellung von „Größe“ und vom „Kaisertum“ wird zur kollektiven Wahn- und Wunschvorstellung:

So groß ist unser Land, kein Märchen reicht an seine Größe, kaum der Himmel umspannt

es – und Peking ist nur ein Punkt und das kaiserliche Schloß nur ein Pünktchen. Der

Kaiser als solcher allerdings wiederum groß durch alle Stockwerke der Welt […]Das

Kaisertum ist unsterblich […“][17].

Der Kaiser ist kein realer Kaiser der Vergangenheit oder der Gegenwart, sondern ein vom Autoritäts- und Legitimationsbedürfnis geschaffenes Bild, dessen Riesengröße nur etwas über die Stärke dieses Bedürfnisses aussagt.

[...]


[1] Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1994. Bd. 6:

Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Fischer-Tb. 12446. S. 78.

[2] Ebd. S. 78.

[3] Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1994. Bd. 6:

Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Fischer-Tb. 12446. S. 66.

[4] Ebd. S. 66.

[5] Ebd. S. 67.

[6] Ebd. S. 70.

[7] Ebd. S. 68.

[8] Ebd. S. 69.

[9] Ebd. S. 72.

[10] Ebd. S. 68.

[11] Ebd. S. 69.

[12] Ebd. S. 69

[13] Ebd. S. 69.

[14] Ebd. S. 72.

[15] Ebd. S. 72.

[16] Ebd. S. 72.

[17] Ebd. S. 74.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Stockende Nachrichten - Zur Sage in "Beim Bau der chinesischen Mauer"
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
24
Katalognummer
V64639
ISBN (eBook)
9783638573986
ISBN (Buch)
9783656071433
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stockende, Nachrichten, Sage, Beim, Mauer
Arbeit zitieren
Eva Galova (Autor:in), 2004, Stockende Nachrichten - Zur Sage in "Beim Bau der chinesischen Mauer", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64639

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Stockende Nachrichten - Zur Sage in "Beim Bau der chinesischen Mauer"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden