Gellerts Grundprinzipien von einem natürlichen Briefstil in Goethes "Werther"


Hausarbeit, 2003

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Briefuntersuchung

3. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis
Primärtexte
Sekundärtexte
Bildmaterial

1. Einleitung

„Ein junger Mensch, der, wenn er Briefe schrieb,

Die Sachen kunstreich übertrieb,

Und wenig gern mit stolzen Formeln sagte,

Las einem klugen Mann ein Trauerschreiben vor,

Darinn er einen Freund beklagte,

Der seine Frau durch frühen Tod verlohr,

Und ihm mit vielem Schulwitz sagte,

Daß nichts gewisser wär, als daß er ihn beklagte.

Ihr Brief, fiel ihm der Kenner ein,

Scheint mir zu schwer und zu studirt zu seyn.

Was haben Sie denn sagen wollen?

‘Daß mich der Fall des guten Freunds betrübt,

Daß er ein Weib verlohr, die er mit Recht geliebt,

Und meinem Wunsche nach stets hätte haben sollen;

Daß ich, von Lieb und Mitleid voll,

Nicht weiß, wie ich ihn trösten soll.

Dieß ungefähr, dieß hab ich sagen wollen.’

Mein Herr, fiel ihm der Kenner wieder ein,

Warum sind Sie sich denn durch Ihre Kunst zuwider?

O schreiben Sie doch nur, was Sie mir sagten, nieder:

So wird Ihr Brief natürlich seyn“.[1]

Ein natürlicher Briefstil – das ist der Anspruch, den Christian Fürchtegott Gellert in seiner „Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ an einen guten Briefeschreiber stellt und den er mit dieser kleinen, aus eben jenem Briefsteller stammenden Erzählung verdeutlichen will. Gellert, dessen Vorstellung von einem ungezwungenen, gesprächsnahen und lebhaften Briefstil sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzte[2], war auch Johann Wolfgang von Goethe nicht unbekannt.

Die in Bürgerhäusern weit verbreiteten „Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ standen in der väterlichen Bibliothek in Frankfurt. In seiner Leipziger Studentenzeit besuchte Goethe Gellerts praktische Übungen „in deutschen und lateinischen Ausarbeitungen zur Bildung des Verstandes und des Stils.“[3]

Gellert habe „auf dem Umweg über den Briefstil Goethes dichterische Produktion bestimmt, und zwar derart, daß der junge Goethe die Grundprinzipien, die er aus Anlaß des Briefstils gründlich studiert und sich zu eigen gemacht, halb bewußt, halb unbewußt, auf seine poetische Produktion übertrug“,[4] stellt Liese Spriegel in ihrer Dissertation fest. Ob Goethe diese Regeln auch in seinem ersten großen Briefroman, „Die Leiden des jungen Werther“[5] anwendet, soll im Folgenden überprüft werden.

Albrecht Schöne hat sich bereits in seinem Essay „Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767“[6] mit der Frage beschäftigt, in wie weit Goethe die Gellertsche Brieflehre für seine eigene Korrespondenz nutzt. Exemplarisch untersucht er den Brief vom 10. November 1967 und findet Gellerts Grundprinzipien umgesetzt. Auch macht er in dem Brief an Goethes Jugendfreund Ernst Wolfgang Behrisch Parallelstellen zu „Die Leiden des jungen Werther“ aus. So presse die Leidenschaft der Empfindung für Anna Katharina Schönkopf aus Goethe „schon Worte und Wendungen, wie sie sechs Jahre später die Sprache der Wertherbriefe charakterisieren.“[7] Die Vermutung, dass auch „Die Leiden des jungen Werther“ in dem natürlichen Briefstil nach den Empfehlungen Gellerts abgefasst sind, liegt also nahe. Ob diese These haltbar ist, soll am Beispiel des Wertherbriefes vom 16. Junius 1771 überprüft werden – dem Brief, in dem Werther seine erste Begegnung mit Lotte schildert.[8]

2. Briefuntersuchung

Der erst in der zweiten Fassung des „Werther“ eingefügte Brief vom 16. Juni 1771 ist der längste der ganzen Sammlung[9]. Der Schreibende beginnt auf eine für ihn ungewöhnliche Weise. Er bezieht sich direkt auf einen vorangegangenen Brief seines Freundes Wilhelms und reagiert. „Warum ich dir nicht schreibe? - Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer“. Untypisch ist diese Bezugnahme auf Wilhelm vor allem deshalb, weil sie in den Briefen des in sich gekehrten und in seiner Innensicht verhafteten Werther selten ist. Wilhelm bleibt im gesamten Briefroman recht blass. Hans-Egon Haß äußert dazu in seiner „Werther-Studie“: „Nie kommt dieser selbst zu Wort, aber sehr kunstvoll versteht Goethe die auf Gesetz, Regel, Bürgerlichkeit, Mäßigung, Wirklichkeitssinn gerichtete Haltung Wilhelms in den Briefen Werthers, d.h. in Werthers Reflexen, in Werthers antwortender oder vorwegnehmender Abwehr oder dem Freunde gegenüber bekannter Selbsterkenntnis sichtbar zu machen.“[10] Damit beantwortet sich auch die Frage, warum Goethes „Werther“ trotz dieser Auf-Sich-Bezogenheit der Hauptfigur ein Brief- und kein Tagebuch-Roman ist. Man habe zu Recht einem früheren Versuch, Goethes "Werther" als Tagebuch-Roman verstehen zu wollen, entgegengehalten, daß ein einkalkuliertes Echo des Adressaten zum Grundgestus des Briefes zähle und die Briefform des Romans trotz der Monomanie Werthers dessen Sehnsucht nach einem sympathetischen Du auf adäquate Weise widerspiegele, erklärt Horst Flaschka.[11]

Die Zeilen, die sich nun im Brief vom 16. Juni anschließen, zeichnen sich durch eine Nähe zum mündlichen Gespräch aus. „Du solltest raten, dass ich mich wohl befinde, und zwar – Kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe – ich weiß nicht“, schreibt Werther. Was Schöne über Goethe und dessen Brief an Behrisch sagt, trifft auch auf den von Werther zu: Stilprinzip seines Briefes ist die Spontanität der gesprochenen Sprache[12]. Dass der Brief die Stelle eines Gespräches „vertritt“ und dass er der mündlichen Rede nachgebildet werden soll, fordert auch Gellert in seinem Briefsteller.[13] Zu Beginn des Wertherbriefes drückt sich diese Nähe unter anderem durch Unterbrechungen aus.

Der Schreibende bringt Fügungen nicht zu Ende, er setzt ab und fängt neu an. „Er versagt bei dem Versuch, das Erlebte angemessen in Worte zu fassen und sich dadurch anderen verständlich zu machen“,[14] hält Rainer Könecke fest. Das Resultat sind Kurzformen und Kurzsätze wie „Ich habe – ich weiß“, die im Mündlichen mit gedanklich noch nicht beendeten, in ihren ersten Worten aber schon artikulierten Sätzen vergleichbar sind.

Gellert, der seine Lehre von einem natürlichen Stil gerade auch auf den von Affekten bestimmten Brief bezieht[15], äußert dazu: „Die Rede wird, gleich dem Gefühle, stark und unterbrochen sein. Wie unser Herz, wenn es in Wallung ist, geschwinder und stärker schlägt, und die vorige Ordnung nicht mehr hält: so unterbricht auch der Affekt die gewöhnliche Art zu denken, und sich auszudrücken.“[16]

Hans Georg Heun beurteilt das Auftreten kurzer und grammatisch unvollkommener Sätze in Goethes „Werther“ als „Ausdruck des Stilgefühls einer anbrechenden neuen Geistesepoche.“[17] Er spricht damit die Entwicklung des Sturm- und Drang-Stils an, den der junge Goethe zur vollendeten Kunstform im leidenschaftlichen Stil der Briefe Werthers ausbildete[18]. Zwar ist Goethe der Grundsatz der Natürlichkeit im Briefstil durch Gellert vermittelt worden, was er aber daraus entwickelte, „den stürmischen, wilden Stil, den schon die Leipziger Briefe zeigen, würde der sanftmütige Professor schwerlich gebilligt haben.“[19] Albrecht Schöne stellt fest, dass Goethe schon lange vor der Entstehung des „Werther“ die Lehre vom Gesprächscharakter der Briefe und der „natürlichen Schreibart“ radikalisiert und überspannt hat. Gellert habe den Brief, der die Stelle eines Gesprächs vertritt, niemals mit einem Gespräch gleichgesetzt[20]. Vielmehr hat er die Annäherung des Briefstils an die mündliche Rede durch das Stilprinzip der Wohlredenheit eingeschränkt: „Wer Briefe schön schreiben will, muß nicht so wohl schreiben, wie ein jeder im gemeinen Leben reden, sondern wie eine Person im Umgange ohne Zwange sprechen würde, welche die Wohlredenheit völlig in ihrer Gewalt hätte.“[21]

[...]


[1] Christian Fürchtegott Gellert, Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen, in: Ders., Gesammelte Schriften. Kritische, kommentierte Ausgabe, Bd. 4: Roman, Briefsteller, herausgegeben von B. Witte, Berlin/New York 1989, S. 138 f. Die „Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“ geht in ihren Grundzügen auf Gellerts frühere „Gedanken von einem guten deutschen Briefe“ (1742) zurück, zu finden im selben Band, S. 99-104.

[2] Die Annäherung des Briefstils an ein Gespräch wurde ebenso empfohlen von Johann Christoph Stockhausen und Johann Wilhelm Schaubert. Johann Christoph Stockhausen, Grundsätze wohleingerichteter Briefe, Helmstedt 1751. Johann Wilhelm Schaubert, Anweisung zur Regelmäßigen Abfassung Teutscher Briefe, Jena 1751.

[3] Albrecht Schöne, Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767, in: Festschrift für Richard Alewyn, H. Singer u. B. von Wiese (Hrsg.), Köln/Graz 1967, S. 193 f.

[4] Liese Spriegel, Der Leipziger Goethe und Gellert, Leipzig 1934, S. 41.

[5] Johann Wolfgang von Goethe, Die Leiden des jungen Werther, in: Ders., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 6: Romane und Novellen I, textkritisch durchgesehen und kommentiert von E. Trunz, 14., überarbeitete Aufl., München 1996, S. 7-124. Zitiert wird im Folgenden Goethes zweite Fassung des Briefromans von 1787.

[6] Schöne, Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767, S. 193-229.

[7] Ebd., S. 202.

[8] HA, Bd. 6, S. 19-27.

[9] Klaus Müller-Salget, Zur Struktur von Goethes „Werther“, in: Goethes „Werther“, Kritik und Forschung, H. P. Herrmann (Hrsg.), Darmstadt 1994, S. 330.

[10] Hans-Egon Haß, Werther-Studie, in: Gestaltprobleme der Dichtung, Günther Müller zum 65. Geburtstag. R. Alewyn, H.-E. Haß u. C. Heselhaus (Hrsg.), Bonn 1957, S. 102.

[11] Horst Flaschka, Goethes Werther, Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München 1987, S. 183.

[12] Schöne, Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767, S. 204 f.

[13] „Das erste, was uns bey einem Briefe einfällt, ist dieses, daß er die Stelle eines Gesprächs vertritt“, heißt es in seiner „Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen“, S. 111, s. Anm. 1.

[14] Rainer Könecke, Stundenblätter, Goethes "Die Leiden des jungen Werther" und die Literatur des Sturm und Drang, Stuttgart 1989, S. 69. Er bezieht sich auf den Wertherbrief vom 10. Mai 1772. Seine Aussage ist aber auch auf den Brief vom 16. Juni 1772 übertragbar.

[15] Gellert schreibt in seinem Briefsteller: „Ob gleich alle Briefe natürlich seyn sollen: so müssen es doch am meisten seyn, in welchen ein gewisser Affekt herrscht.“ Gellert, Abhandlung, S. 137.

[16] Ebd., S. 138.

[17] Hans Georg Heun, Der Satzbau in der Prosa des jungen Goethe, in: Palaestra 172, Untersuchungen und Texte aus der deutschen und englischen Philologie, A. Brandl u. J. Petersen (Hrsg.), Leipzig 1930, S. 69.

[18] Richard Weißenfels, Goethe im Sturm und Drang, Erster Band, Halle 1894, S. 45.

[19] Ebd., S. 44. Zu diesen Briefen im „stürmischen, wilden“ Stil gehört auch der vom 10. November 1767 an Behrisch, den Schöne in seinem Essay (s. Anm. 3) untersucht. Er stellt fest, dass dieser Brief dem Stilprinzip der Wohlredenheit, aus dem Gellerts Forderung nach der Annäherung des Briefstils an ein Gespräch, aber auch die Einschränkung einer solchen Annäherung folgt, nicht mehr verpflichtet ist.

[20] Schöne, Über Goethes Brief an Behrisch vom 10. November 1767, S. 209 f.

[21] Gellert, Abhandlung, S. 114.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Gellerts Grundprinzipien von einem natürlichen Briefstil in Goethes "Werther"
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Veranstaltung
GK Der junge Goethe
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
16
Katalognummer
V64343
ISBN (eBook)
9783638571876
ISBN (Buch)
9783638816274
Dateigröße
523 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gellerts, Grundprinzipien, Briefstil, Goethes, Werther, Goethe
Arbeit zitieren
Janine Wergin (Autor:in), 2003, Gellerts Grundprinzipien von einem natürlichen Briefstil in Goethes "Werther", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64343

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