Alfred Adlers Individualpsychologie heute. Eine Weiterentwicklung in Theorie und psychotherapeutischer Praxis?


Diplomarbeit, 1996

201 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALT

Einleitung

1. Ausgangsbedingungen und Grundlagen der Untersuchung
1.1 Das Menschenbild Alfred Adlers
1.2 Schlüsselbegriffe der Individualpsychologie
1.2.1 Minderwertigkeitsgefühl
1.2.2 Kompensation
1.2.3 Gemeinschaftsgefühl
1.2.4 Lebensstil
1.3 Aufbau und Institutionalisierung der individualpsychologischen Schule bis 1945
1.4 Wissenschaftstheoretische Fundierung der Individualpsychologie
1.4.1 Selbstaussagen Adlers
1.5 Zusammenfassung der wissenschaftstheoretischen Entwicklungen von Adler bis zur Gegenwart
1.5.1 Übertragung der neuen Ansätze auf die Psychologie
1.6 Standortbestimmung und Motivation der Verfasserin
1.6.1 Auseinandersetzung mit dem Begriff der Entwicklung

2. Neue Untersuchungen zur Geschichte der Individualpsychologie
2.1 Reorganisation und Professionalisierung der individualpsychologi-schen Schule nach dem 2.Weltkrieg bis zur Gegenwart
2.2 Auseinandersetzung mit der Organisationsstruktur der Individualpsy-chologie
2.3 Auseinandersetzung mit der Geschichte der Individualpsychologie
2.3.1 Verhalten von Individualpsychologen während des Faschismus
2.3.1 Sperber und die Individualpsychologen heute
2.4 Zusammenfassung

3. Neue wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Individualpsy-chologie
3.1 Rovera (1978)
3.2 Antoch (1981)
3.3 Handlbauer (1984)
3.4 Winkler (1989)
3.5 Schlott (1993)
3.6 Zusammenfassung

4. Neue theoretische Untersuchungen zur Individualpsychologie
4.1 Die Suche nach Identität: Individualpsychologie als Tiefenpsychologie?
4.2 Individualpsychologie und Psychoanalyse
4.3 Auseinandersetzung mit den individualpsychologischen Konzepten und Konstrukten
4.3.1 Individualpsychologische Konzepte
4.3.1.1 Finalität
4.3.1.2 Einheit und Ganzheit
4.3.2 Individualpsychologische Konstrukte
4.3.2.1 Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation
4.3.2.2 Gemeinschaftsgefühl
4.3.2.3 Lebensstil
4.3.3 Das Apperzeptionskonzept als paradigmatischer Theoriekern
4.4 Zusammenfassung

5. Praxis der Individualpsychologie heute
5.1 Die Patient-Therapeut-Beziehung im psychotherapeutischen Prozess
5.1.1 Patienten mit frühen, defizitären Störungen
5.1.2 Spezifische Behandlungstechniken
5.2 Gruppenpsychotherapie
5.3. Ausbildungssituation
5.4 Zusammenfassung

6. Individualpsychologie und andere Psychotherapieschulen
6.1 Verhaltenstherapie
6.2 Familientherapie
6.3 Klientenzentrierte Psychotherapie
6.4 Körperzentrierte Psychotherapie
6.5 Zusammenfassung

7 Individualpsychologie und Akademische Psychologie heute
7.1 Grundlagenfächer
7.2 Anwendungsfächer: Klinische Psychologie
7.2.1 Krankheitsmodelle
7.2.1.1 Unterscheidung zwischen Beratung und Psychotherapie
7.2.2 Psychotherapieforschung
7.2.2.1 Integrationsmodelle
7.3 Psychotherapieschulen und Psychotherapeutengesetz
7.4 Zusammenfassung

8 Schlussfolgerungen und Ausblick

Literaturverzeichnis

Einleitung

Adler (1870-1937) stellt uns mit der Individualpsychologie (IP), einem vor al­lem aus der The­rapiepraxis entstandenen psychologi­schen System, ein erstes Gesamtpsychotherapiemodell vor, das sowohl die normale Psyche als auch Neu­ro­sen, Psychosen, Psychopathien, Prävention und Rehabilitation umfasst. Auf­grund der Ergebnisse der Psychotherapieforschung ist die Suche nach einem umfassenden Psychotherapiemodell auch ein wichtiges Thema der Klini­schen Psychologie heute. Adlers Persönlichkeitstheorie, seiner Beschreibung und Er­klärung des Phänomens seelischer Krankheit, der von ihm betonten Nähe seines psycho­logischen Sy­stems zu anderen Wissenschaftsbereichen, vor allem zur Pädagogik und Soziolo­gie, ist eine teleologisch-ganzheitliche und die Aktivität des Subjekts betonende Sichtweise immanent, die ebenfalls sehr aktuell anmu­tet.

Schon in der Zeit vor seiner Zusammenarbeit mit Freud trat Adler für die So­zialmedizin ein und machte auf die gesellschaftlichen Faktoren der Krankheits­entwicklung aufmerksam. In den 20er Jahren im "roten" Wien haben er und seine Schüler die IP explizit zu einer Praxis ausge­baut, die sich der Prophylaxe von Entwicklungsbehinderungen verschrieben hat. Prophylaxe auf dem Gebiet seelischer Gesundheit ist ein gesellschaftlich eingefordertes Gebot der Gegen­wart.

Adler glaubte im Sinne des Präventionsgedankens, dass man Gemeinschafts­gefühl metho­disch trai­nie­ren könnte und müsste. Viele Konzepte von Verhal­tensänderungen, die die Iden­tifizierung mit sozialen Zielen zum In­halt haben, haben ihre theoretischen Wurzeln in den In­tentionen Ad­lers, auch wenn deren Verfasser sich selten direkt auf ihn beziehen. Ellenberger (1985) spricht von dem "verwirrende(n) Phänomen kollektiver Verleugnung von Adlers Werk" und bezeich­net seine Lehre als "une carrière publique" (einen öffentlichen Stein­bruch) (S.873). Mit der Akzentuierung sozial-praktischer Ideale in seiner Indivi­dualpsycholo­gie kann Adler als früher An­mahner des in der heutigen Psycholo­gie häufig fehlenden Theorie-Praxis-Bezugs angesehen werden.

Er leugnet nicht, dass in seiner Psychologie "ein Stück Metaphysik" zu finden ist (z.B. in Be­zug auf das Gemeinschaftsgefühl sub specie aeternitatis). Heute besteht der Drang, die Meta­physik aus dem wissenschaftlichen Denken zu ver­bannen, obwohl die Analyse wissenschaftli­cher Konzepte beweist, dass meta­physische Prämissen als unbemerkte Leitlinien den wissenschaftlichen Prozess strukturieren. Adlers moralische Imperative sind unübersehbar, was nicht un­problematisch ist. Andererseits wird immer un­überhörbarer auch von Wissen­schaftlern soziale Verantwortung, wenn nicht sogar Anleitung zum Handeln in einer Welt gefordert, die wegen der Tatsache, dass keine Philosophie, kein Wertsystem die Menschen unserer Tage eindeutig verpflichtet, eine tiefe Krise durchschreitet.

Auch Bastine (1992) stellt in seinem Lehrbuch der Klinischen Psychologie fest, dass es eine "moralische Neutralität" in der Psychotherapie nicht geben könne. Sowohl in der Praxis als auch in der Forschung sei sie "immer mit mora­lischen, philosophischen, religiösen, politischen u.a. wertbezogenen Entschei­dungen verbunden" (S.192). Adler hatte den Mut, die daraus sich ergebende Verantwortung des Wissen­schaftlers und Psychotherapeuten anzuerkennen und auf sich zu nehmen.[1]

Was ist aus Adlers IP, fast 60 Jahre nach seinem Tod, geworden? Sie ist, vor allem nach ihrer fast vollständigen Auflö­sung in den deutschsprachigen Ländern während des 2.Weltkriegs (Adler war bereits 1935 in die USA emigriert), zu­nehmend in Vergessen­heit und/oder in Misskredit geraten und länger als die Psychoanalyse stumm geblieben. Seit den 60er Jahren je­doch entwickeln ihre Anhänger neues Selbstbewusstsein, publizieren, institutionali­sieren sich und nehmen seit 1979 auch an der Krankenkassen­versorgung teil. In auffälligem Gegensatz zu diesen Aktivitäten steht ihre (von Adler übernommene?) weitge­hende Abstinenz gegenüber der Akademischen Psychologie bzw. die der Aka­demischen Psychologie gegenüber der IP. Wie ist diese Abstinenz zu erklä­ren?

In meiner Arbeit möchte ich einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, ob die IP als eine der ältesten Psychotherapie-Schulen im theoretischen Diskurs und in der psychotherapeu­tischen Praxis dennoch mit dem Erkenntnisstand der Akademischen Psychologie Schritt halten und in welchem Maß sie auch in unse­rer heuti­gen Gesellschaft Anteil an der Lösung oder Lin­de­rung psychischer Stö­rungen und Krankhei­ten haben kann. Ob eine psychologische Theorie und die aus ihr sich ergebende Pra­xis relevant sind, hängt weniger davon ab, dass sie die wis­senschaftliche Mode eines bestimmten historischen Zeitabschnitts reprä­sen­tieren. Ihre Lei­stungsfähigkeit wird vielmehr dadurch bewiesen, dass mit ihr auch die psychologischen und so­zialen Phäno­mene einer späteren Epoche er­klärt und ver­standen werden können. Es geht also um das der IP immanente Entwicklungspotential, um seine konkrete Nutzung in der Gegen­wart und um mögliche Entwicklungsbehinderungen.

Entwicklung heißt immer: Öffnung in die Zukunft hinein. Somit stellt sich auch die Frage, ob die IP als offenes System bezeichnet werden kann. Ist sie eventuell geeignet und darüberhinaus auch wirklich geneigt, den leidigen Schu­lenstreit mit beenden zu helfen oder trägt sie eher zur Verhärtung und Abgren­zung der Psychotherapie-Schulen bei? Adler (1933b, 1975) selbst hat noch An­lass zu dieser Art von Entwicklung gegeben, indem er die IP folgendermaßen be­schrieb: "Ihrem ganzen Wesen nach ist sie begierig, aus allen Wissens- und Erfahrungsberei­chen neue Anregungen zu empfangen und sie dorthin zu geben. In diesem Sinne ist und war sie immer Überbrückungsarbeit" (S.98). Es gilt zu bedenken, dass Adler seine Ideen nur so ent­wickeln konnte, wie er es tat, weil es der Aufklärungsstand der damali­gen Zeit ermöglichte. Aber die Zeit fließt wei­ter, und es besteht stets die Gefahr, dass aus fließendem Wissen dogma­tisches Erfah­rungswissen wird. Eine wichtige Ursache für Reduktion und Dog­matik liegt im Personen­kult und in der Idealisierung, die wenig Raum für kritische Forschung und Entdec­kung neuer Per­spektiven lassen. Haben heutige "Adleria­ner" diese Gefahr zu ver­meiden ge­wusst?

Um mein Thema einzugrenzen, werde ich mich in meiner Untersuchung hauptsächlich auf die deutschspra­chige IP beziehen. Schwerpunkt der Analyse ist die Entwicklung nach dem 2.Weltkrieg, besonders die Diskussio­nen, die in IP-Kreisen ab 1976 geführt wurden, dem Jahr, in dem der 1. Internationale Nachkriegskongress in Deutschland (München) stattfand. Auf die­sem Kongress wurde die Frage nach der Identität der IP klar gestellt und äußerst kontrovers disku­tiert (s. das Sym­posium mit dem Thema: Ist die IP eine Tiefenpsycholo­gie?). Eine weitere Ein­grenzung (im Bereich der Weiterentwicklungen in der Praxis) besteht in der Konzentration auf die Beziehungsgestaltung der IP-Psy­chotherapie. Eine Untersuchung der Weiterentwicklung von prakti­schen päd­agogischen Konzepten, etwa in Form von IP-Versuchsschulen, wie sie in Wien in­zwischen wieder bestehen oder wie sie z.B. Corsini beschreibt, wird hier nicht geleistet.

Zum Stand der Literatur: Eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der IP bis 1945, die ihre Institutionalisierung und Professionalisierung umfasst, liegt zu großen Teilen bereits vor (Bruder-Bezzel, 1983, 1991 und Handlbauer, 1984). Die Zeit nach dem 2.Weltkrieg, die für die Themenstellung dieser Arbeit von großer Bedeutung ist, ist allerdings ein noch ver­nach­lässigter Be­reich. Die Un­tersu­chungen hierzu fallen entweder sehr knapp (Bruder-Bezzel, 1991) oder ein­seitig (Lehm­kuhl & Lehmkuhl, 1990) aus. Ich werde u.a. anhand der Aus­einan­dersetzung mit den Kongressberichten der Internationalen Vereinigung der Indi­vidual­psycholgen und der Berichte der drei Wissen­schaftskommissionen, die Walter Spiel als Ver­einspräsident 1982 ins Leben rief, einige neue Gesichts­punkte erarbeiten. An die­ser Stelle werden auch die Vor- und Nachteile ge­schlossener Systeme (wie Vereine und Ausbil­dungs­in­stitutionen es oft werden können) disku­tiert. Selbst innerhalb dieser geschlossenen Sy­steme, die ihre Le­giti­mation z.T. auch mit der Identitätssuche be­gründen, zeigen sich Aufsplitte­rungen in einander bekämpfende Grup­pierungen (z.B. nordamerikanische IP vs. eu­ro­päische IP).

Auch neuere wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur IP sind selten. Ich habe vor, die wenigen Arbei­ten zu diesem Thema, die relativ unverbunden nebeneinander stehen, nach ihrer er­kenntni­stheoretischen Ausrichtung zu be­trachten und ihre Relevanz einzuschätzen.

Für den Bereich der Theorieentwicklung ist Literatur vorhanden, die ich the­menzentriert zu systematisieren versuche (etwa: Aufgreifen und Ergänzen der Theorien des "jungen Adler" vs. "alten Adler"). Hierbei interessiert mich, in­wie­weit das Favorisieren bestimmter Pe­rioden Ad­lerscher Theorieentwicklung eventuell eher mit Insti­tutionalisierungs- als mit Er­kenntnisfra­gen zusammen-hängt.

Um herausfinden, welche Rolle der IP innerhalb der aktuellen Psychothera­pielandschaft zu­kommt und wel­che Bedeutung ihr von der akademischen Psy­chotherapieforschung zugemessen wird, ist sowohl die Kenntnis der Geschichte der IP-Schule und ihrer Anhänger erforderlich als auch die der Akademischen Psychologie, beson­ders der Klinischen Psychologie. Sie haben sich jeweils in der Reaktion auf einen bestimmten historischen und kulturellen Kontext entwic­kelt und wirken ihrerseits auf das gegenwärtige Selbstverständnis ein.

Methodisch werde ich "Entwicklungsaspekte" (s.u.) auf verschiedenen Ebe­nen, obwohl sie natürlich alle miteinander zusammenhängen, der Übersichtlich­keit halber getrennt voneinander untersuchen, um dadurch eventuelle Weiter­entwicklungskonzentrationen bzw. -defizite in ein­zelnen Bereichen deutlicher her­ausarbeiten zu können. Ich orientiere mich chronologisch an wichtigen Ver­öffentli­chungen von Individualpsychologen[2], und zwar vor dem Hintergrund der zum jeweiligen Zeitpunkt statt­findenden Institutionalisierungs- und Profes­sionalisierungsbestrebungen. Da­durch hoffe ich, die unterschiedlichen Ge­sichts-punkte der Ver­fasser, die ja in einem Diskurs miteinander stehen, ihre Men-schenbild­annah­men und Denkstrukturen besser identifizie­ren zu können. Mich interessiert besonders, welche Verbindungen bzw. Brüche zwischen Aka­demi­scher Psychologie und IP in den ver­schiedenen Bereichen (Wissenschafts­theo­rie, Theorie, Praxis) feststellbar sind und welche möglichen Erklärungsmu­ster sich im Laufe der Untersuchung dafür herauskristallisieren.

Unter Weiterentwicklung verstehe ich im folgenden:

- die von Idealisierungen befreite Auseinandersetzung mit der Geschichte der IP,
- die kritische Auseinandersetzung mit der wissenschaftstheoretischen Fundie- rung der IP,
- ihre zeitgemäße philosophische Einbettung und Vertiefung,
- die Klärung und Verbesserung ihrer tragenden Begriffe und Methoden,
- mögliche Erneuerungen in Theorie und Praxis z.B. durch den Vergleich mit anderen Psychotherapieschulen,
- Anregungen zu empirischer Forschung,
- Ideen bezüglich ei­ner möglichen Integration der IP in ein umfassenderes Psy-­chotherapiekonzept

Mit dieser Auflistung ist auch die Gliederung meiner Arbeit gegeben. Zu Be­ginn stelle ich die Adlerschen Menschenbildannahmen, die Schlüsselbegriffe der IP und ihr wissenschaftstheoretisches Fundament vor, ohne an dieser Stelle schon genauer auf die Veränderungen einzugehen, die Adler im Laufe seines Lebens an sei­ner Theorie insgesamt und an einigen seiner Begriffe vorgenom­men hat. Sie werden aber in den folgenden Kapiteln im Zusammenhang mit der Einschätzung seiner erkenntnistheoretischen Positionen durch heutige Vertreter der IP thematisiert. Vor der eigentlichen Untersuchung möchte ich auch auf mich als "Forschungssubjekt" eingehen und meinen Zugang zum Thema auf­grund meiner Entwicklung darstellen.

Für die optimale Weiterentwicklung eines psychotherapeutischen Modells ist immer auch Kommunikation und Kooperation mit anderen praxisnahen For­schern und forschungsnahen Praktikern der eigenen und anderer Fachdisziplinen erforderlich. Nur so ist zumindest eine Basis dafür zu schaffen, den Menschen, die der Heilung im Sinne des Ganzwerdens bedürfen (und das sind wir alle), die dem jeweils entsprechenden Erkenntnisstand besten Psychotherapieangebote zu machen. Diese bedürfen darüberhinaus natürlich noch einer konkreten Einglie­derung in ein dafür aufgeschlossenes Gesundheitssystem. In diesem Sinn begebe ich mich auf die Suche nach Offenheit auf der einen Seite bei den Adlerianern, ihrem Theorie- und Praxisverständnis, ihren Institutionen und andererseits bei den Vertretern der Klinischen Psychologie, ihren Modellen von Psychotherapie und ihren Berufsverbänden. Über den Gesichtspunkt der Kommuni­kation als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Weiterentwicklung habe ich in der Litera­tur, be­zogen auf die IP, bisher keine Hinweise gefunden.

1. Ausgangsbedingungen und Grundlagen der Untersuchung

In diesem Kapitel gebe ich zunächst einen knappen Überblick über Adlers Men­schenbildan­nahmen (1.1.) und die wichtigsten Begriffe seiner Lehre (1.2.), auf die sich heutige Vertreter der IP kritisch beziehen. Den zeitlichen Hintergrund vermittelt eine Übersicht über den Aufbau der individualpsychologischen Schule bis 1945 (1.3.). Die wissenschaftstheoretische Einordnung der IP zu Adlers Leb­zeiten (1.4.) und die nachfolgenden Auseinandersetzungen in der Wissen­schaftstheorie, die mit einer gewissen Zeitverschiebungen innerhalb der Psy­chologie rezipiert wurden (1.5.), liefern eine Basis für die Einordnung neue­rer wissenschaftstheoretischer Diskurse innerhalb der IP. Schließlich möchte ich als "Forschungssubjekt", anhand meiner bisherigen Entwicklungsge­schichte, einen Einblick in die mir bewussten Mo­tivationsquellen für diese Ar­beit geben sowie meine ersten Suchbewegungen zum Thema darstellen (1.6).

1.1. Das Menschenbild Alfred Adlers

Der Kerngedanke von Adlers Persönlichkeitstheorie ist das Konzept eines "ein­heitlichen, ziel­gerichteten, schöpferischen Individuums, das in gesundem Zu­stand in einer positiven, kon­struktiven, ethischen Beziehung zu seinen Mitmen­schen steht" (Ansbacher & Ansbacher, 1982, S.20). Der Name "Individual­psy­chologie" betont die unteilbare Einheit von Körper, Seele und Geist des "Indi­viduums". Er war auch als Abgrenzung gegenüber dem Freudschen Persön­lich­keitsmodell gedacht, das mehrere miteinander in Konflikt liegende psychische Instanzen postuliert. Bei Adler zieht das gesamte seelische Geschehen an einem Strang. Zwar unter­scheidet er wie Freud zwischen bewuss­ten und unbewussten Vorgängen, aber das Unbewusste führt kein den Tendenzen des Bewusstseins entgegengesetztes Eigenleben. Auch die verschie­denen psychischen Funktionen wie Denken, Fühlen, Handeln, Wahrnehmen, Lernen stehen alle im Dienst ei­ner einheitlich ausgerichteten Motivation. Die IP geht nicht von einzelnen Elemen­ten aus, sondern vom Menschen als einem organischen Ganzen. Die Nähe der Ideen Adlers zur Ganzheitsphilosophie von Smuts und zur Gestalttheorie wird häufig hervorgehoben.

Die Einheit der Persönlichkeit ist eine souveräne und selbstbestimmende Macht, die durch innere und äußere Ein­flüsse mitgeformt wird. Alles Seelenle­ben ist zielgerichtet. Der Mensch ist weder durch seine Erbanlagen, noch durch frühkind­liche Umwelteinflüsse vollständig kausal determiniert. Die Ursachen­forschung erfasst nur einen zweitrangigen Aspekt des Lebensge­schehens, näm­lich seinen physikalisch-chemischen Teil. Die eigentliche Ordnung des Lebendi­gen ist das ziel- und zweckgerichtete Handeln, das sich nur einer teleologi­schen Betrachtungs­weise erschließt. Dieser teleologische An­satz unterscheidet die IP von allen anderen psycholo­gischen Theorien. Bereits 1912 wies Adler darauf hin, dass das Indivi­duum aus dem Gefühl der Minderwertigkeit, der Unterlegen­heit heraus, das durch die Kleinheit und Schwäche eines Kin­des gegenüber dem Erwachsenen entsteht, meist unbewusst, aber sicher unverstanden, ein Per­sön­lichkeitsideal, eine "Fiktion persönlicher Überlegenheit" schafft (Ansbacher & Ansbacher, 1982, S.105). Nie wirkt das gleiche Erlebnis auf zwei Menschen gleich. So gestaltet jeder Mensch mit individueller schöpfe­rischer Kraft aktiv seinen Lebensstil:

Die Einheit der Persönlichkeit ist in der Existenz jedes Men­schenwesens an­gelegt. Jedes Individuum repräsentiert glei­chermaßen die Einheit und die Ganzheit der Persönlich­keit wie die individuelle Ausformung dieser Einheit. Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler sei­ner eigenen Persönlichkeit. (Adler, 1930, 1976, S.7)

Beeinflusst vom Fiktionalismus des Neukantianers Vaihin­ger (1852-1933), dessen "Philosophie des als ob" 1911 erschien, entwickelte Adler seine finali­stische Theorie und Me­thode.

Adlers Lehre ist zudem eine Sozialpsychologie der Persön­lichkeit. Der Cha­rakter bildet sich als Resultat der Begeg­nung mit anderen Menschen, das ganze seelische Geschehen ist darauf ausgerichtet, einen Platz in der Gemeinschaft zu fin­den. Die Gemeinschaft ist andererseits zu ihrer Verwirklichung und Entfal­tung auf das Individuum genauso angewiesen, wie das Individuum zu seiner Selbst­entfaltung der Gemeinschaft be­darf. Damit leugnet Adler nicht Wider­sprüche zwischen indivi­duellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforde­rungen, er wendet sich aber gegen die Annahme einer (der Freudschen Psy­cho­logie imma­nenten) "(quasi)naturgesetzlichen Verankerung dieser Widersprüche und die kulturpessimistische Sichtweise" (Antoch, 1981, S.19).

Bereits in seinem "Gesundheitsbuch für das Schneiderge­werbe" (1898) be­fasste Adler sich mit sozialen Problemen und stellte die menschlichen Bezie­hungen in den Mittelpunkt sei­ner Theorie.[3] Dieses Interesse behielt er zeitle­bens bei. Er stand dem Gedanken des Sozialismus nahe, lehnte den Bolsche­wismus aber als untaugliches Mittel zur Erreichung des Sozia­lismus ab, weil er selbst auf Macht gegründet sei. In einem späten Beitrag verweist er darauf, dass

der ehrliche Psychologe seine Augen nicht davor verschlie­ßen kann, dass es Zustände gibt, die das Eingehen des Kin­des in die Gemeinschaft (...) verhin­dern und es aufwachsen lassen wie im Feindesland. Deshalb muss er aufklä­rend wir­ken auch gegen schlecht verstandenen Nationalismus, wenn dieser die allmenschliche Gemeinschaft schädigt. (Adler, 1934, zitiert nach Ansba­cher & Ansbacher, 1982, S.415)

Adler ist der Philosophie der Aufklärung verpflichtet.[4] Zwar sind für ihn Erb­anlagen und Umwelteinflüsse prädisponie­rende Faktoren des Charakters, Erfah­rungen werden aber aktiv gemacht, Erlebnisse subjektiv gedeutet, und Handlun­gen voll­zieht der Mensch weitgehend selbstbestimmt. Bei gleichen Er­lebnissen wird das eine Kind mutlos, während das andere sich angespornt fühlt: "Nicht die Erlebnisse eines Kindes diktie­ren seine Handlungsweise, sondern die Schluss­fol­gerungen, die es aus diesen Erlebnissen zieht" (Adler, 1931, 1979, S.103). Hierin zeigt sich nach Adler die Freiheit, aber auch die Verantwort­lichkeit für das eigene Han­deln, die nicht auf andere Men­schen oder das Schicksal projiziert werden kann.

Zusammenfassend kann das Menschenbild Adlers (mit Antoch, 1981, S.17) als holistisch, fi­nal, sozialpsychologisch und aufklärerisch bezeichnet werden.

1.2. Schlüsselbegriffe der Individualpsychologie

1.2.1. Minderwertigkeitsgefühl

Das Minderwertigkeitsgefühl gehört nach Adler zur Grund­situation jedes Men­schen. Es ent­steht aus dem Erleben des kleinen Kindes, im Vergleich zu seiner Umgebung, der Erwach­se­nenwelt, hilflos, schwach und abhängig zu sein. Be­stimmte Erfahrungen in der frühen Kindheit können dieses Gefühl, das zu nega­tiver Selbstbewertung führt, zu einem Minderwertig­keits­komplex verstärken, der dann den Grundstock zu neuroti­schen Entwicklungen legt. Zu Beginn seiner Laufbahn betonte der Mediziner Adler organische Handicaps ("Organminder­wertigkei­ten") als auslösenden Faktor. Später hielt er Fehlhaltungen in der Er­ziehung, die Geschwister­kon­stellation, die Geschlechtszugehörigkeit und die sozioökono­mischen Bedingungen für min­destens ebenso wichtige Faktoren.

Andererseits bezeichnet Adler das Minderwertigkeitsgefühl auch als treibende Kraft: Wer sich vollkommen fühlt, ist nicht motiviert zu lernen. Das Minder­wertigkeitsgefühl steht in einem Spannungsverhältnis zum Streben nach Über­legenheit bzw. der Überwindung von Mangella­gen. Im "Sinn des Lebens" (1933a, 1973) führt Adler sogar allen Fortschritt in der Kul­tur und Zivilisation auf die menschliche Ausgangsposition der Minderwertigkeit zurück:

So wie der Säugling in seinen Bewegungen das Gefühl seiner Unzulänglich­keit verrät, das unausgesetzte Streben nach Vervollkommnung und nach Lö­sung der Lebensanforderun­gen, so ist die geschichtliche Bewegung der Menschheit als die Geschichte des Minder­wertigkeitsgefühls und seiner Lö­sungsversuche anzusehen. Einmal in Bewegung gesetzt, war die lebende Materie stets darauf aus, von einer Minussi­tuation in eine Plussituation zu gelangen. (S.68)

1.2.2. Kompensation

Ausgangspunkt der IP war die Entdeckung der organischen Minderwertigkeit (Adler, 1907, 1977) und ihrer mögli­chen Kompensation durch die Verstärkung der Funktionsfähig­keit anderer Organe, durch intensives Training, durch eine bestimmte seelische Einstellung. Adler stellte fest, dass auch im psychischen Be­reich der Kompensationsvorgang eine große Rolle spielt und übertrug das Mo­dell des physiologischen Aus­gleichs eines Defekts auf das Seelenle­ben, was zum Begriff der "seelischen Kompensation" führte. Die Lehre vom Minder­wer­tig­keitsgefühl und dessen Kompensation im Sicherungs- und Machtstreben wurde zum Kernstück der Adlerschen Persönlich­keits- und Neurosentheorie. Die Mittel, mit denen Sicherungen zum Erhalt des Selbstwertgefühls getroffen werden, können aktiver oder passiver Art sein. Die ak­tive Form der Kompensa­tion kann im Geltungs- und Machtstreben gesehen werden, aber sie ist für Adler nur eine Kompensationsform unter mehreren.

1.2.3. Gemeinschaftsgefühl

1919 (im Vorwort zur 2.Auflage seines Buchs "Über den nervösen Charakter", 1912), noch unter dem Eindruck der Schrecken des 1.Weltkriegs, spricht Adler zum ersten Mal vom "Gemeinschaftsgefühl" im Sinn eines psychologischen Fachbe­griffs und bezeichnet es als den wichtigsten Teil der Persön­lichkeits­struktur. In den weiteren Veröffentlichungen gewann der Begriff in seiner Be­deutung für die IP immer mehr an Ge­wicht. Er wurde zum Kennzeichen von Adlers optimistischen Menschenbild. In jeder Phase seiner theoretischen Ent­wicklung ver­änderte und ergänzte Adler durch die Aufnahme neuer Im­pulse von außen auch sein begriffli­ches Inventar. Der Begriff des "Gemeinschaftsgefühls" gehört mit seiner Verschmelzung von Psychologie und Ethik auch zu den pro­blematischsten der individualpsychologischen Theorie.

In der ersten Phase (1918-1927) wird das Gemeinschaftsge­fühl als eine Ge­genkraft zum Egoismus gesehen, die dem Willen zur Macht Grenzen setzt, wenn es nicht von äußeren oder inne­ren Kräften unterdrückt wird (vgl. Ansbacher & Ansbacher, 1982, S.148f). Dies ist noch ein konflikttheoretischer An­satz, der schwer in das ganzheitliche Konzept von Minderwer­tig­keit und Machtstreben zu integrieren war.

In der zweiten Phase (ab 1928) beschreibt Adler das Ge­meinschaftsgefühl als eine kognitive Funktion, als "angebo­rene latente Kraft, die bewusst entwickelt werden muss" (Adler, 1929a, 1981, S.49). Die Fähigkeit zu mitmenschlichen Be­ziehungen wird durch Erfahrungen in der Interaktion der frühen Kindheit ge­bahnt, der Grad an Gemeinschaftsgefühl ist das Kriterium für psychische Ge­sundheit. Der antithetische Cha­rakter des Gemeinschaftsgefühls wird aufgeho­ben, der holisti­sche Ansatz kommt zum Tragen. Adler formuliert das kompensa­torische Stre­ben nach Geltung und Macht um in ein Streben nach Vollkommen­heit. Durch das Gemein­schaftsgefühl wird das Streben nach Macht zum Streben nach Vollkommenheit modifi­ziert, zur "sozial nützlichen Seite" gelenkt, wäh­rend der Mangel an Gemeinschaftsgefühl mit persönli­chem Machtstreben und einer Ausrichtung nach der "sozial unnützlichen Seite" des Lebens verbunden ist.

Als letztlich utopischer Begriff wird das Gemeinschafts­gefühl aus der Ebene der konkreten Beziehungsbeschreibung herausgehoben und als "Fühlen mit der Gesamtheit sub specie aeterni­tatis" beschrieben (vgl. Hellgardt, 1989, S.65).

1.2.4. Lebensstil

"Lebensstil" nennt Adler ab 1927 die gleichmäßige, ziel­gerichtete Bewegung, die Ausdruck der individuellen, schöpfe­rischen Auseinandersetzung in der frü­hen Kindheit mit den an­geborenen Anlagen und den umweltbedingten Anforde­rungen des Lebens ist:

Jeder trägt eine 'Meinung' von sich und den Aufgaben des Lebens in sich, eine Lebenslinie und ein Bewegungsgesetz, das ihn festhält, ohne dass er es versteht, ohne dass er sich dar­über Rechenschaft gibt. (Adler, 1933a, 1973, S.29f)

Im Vergleich zum statischen Zielbegriff ist der des Le­bensstils (vorher auch "Lebensschablone", "Bewegungslinie", "Lebensplan", "Leitlinie" genannt) ein mehr feldtheore­tischer und dynamischer. In den letzten Schriften Adlers be­ruht er auf dem "individuellen Bewegungsgesetz" und ist eng mit der Situation ver­knüpft:

Wenn wir uns eine Kiefer ansehen, die in einem Tal wächst, so werden wir feststellen, dass sie sich von einer, die auf dem Berggipfel wächst, unter­scheidet. Es ist dieselbe Art von Baum, eine Kiefer, aber es liegen zwei ver­schiedene Lebensstile vor. (Adler, 1929b, 1978, S.53)

Ausgehend von einem Minderwertigkeitsgefühl oder einer subjektiv empfun­denen Mangel­lage, die der Mensch durch Kom­pensation überwinden will, ent­wickelt er eine eigene unver­wechselbare Art und Weise, durch Bewegung und Handlung seine fiktiven Ziele zu erreichen. Der Lebensstil als weithin unbe­wusstes (unverstandenes) Programm umfasst sowohl das Selbst­kon­zept (die Mei­nung von sich selbst), die Ziele des Individuums (die Vorstellungen darüber, was es meint, erreichen zu sol­len), die Meinung von der Welt und Verhaltens­strategien, die es für geeignet hält, von seinem subjektiven Ausgangspunkt zum Zielpunkt zu gelangen.

Nach Adler kann man den Lebensstil bereits im Alter von vier bis fünf Jahren deutlich erken­nen, und mit den durch ihn ausgeprägten und eintrainierten Ver­haltensmustern liegt der indivi­duelle Charakter im wesentlichen fest.[5] Richtig deut­lich wird er meist erst, wenn der Mensch einer neuen oder schwierigen Le­benssituation ausgesetzt wird (vgl. Ansbacher & Ansbacher 1982, S.175). Er lässt sich höchstens durch pädago­gische oder psychotherapeutische Kor­rektu­ren mit der Forde­rung nach Selbsterziehung umfinalisie­ren.

1.3. Aufbau und Institutionalisierung der individualpsychologischen Schule bis 1945

In der folgenden tabellarischen Übersicht versuche ich lediglich die wesentli­chen Daten und Fakten des Aufbaus der individualpsychologischen Schule und wichtige Publikationen Adlers von der Vereinsgründung im Jahr 1911 bis zum Kriegsende festzuhalten.[6] Die Zeitspanne von 1946 bis zur Gegenwart, mit der diese Arbeit sich beschäftigt, werde ich im nächsten Kapitel ausführlicher be­handeln (s. 2.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1.4. Wissenschaftstheoretische Fundierung der IP

Als Adler seine IP entwickelte, unterschied man in der Psychologie zwei Epi­stemologien: die von den Naturwissen­schaften geprägten empirisch-analytischen und die von den Geisteswis­senschaften geprägten normativ-ontologischen Theo­rieansätze. Die wissenschaftstheoretische Position der IP als verstehende und deutende Tiefenpsychologie, als beschreibende und zer­gliedernde Psychologie in der Tradition Diltheys ist danach eher der zweiten Richtung zuzu­ordnen. Als Arzt und Philosoph, als subjektiver Phänomenologe, war Adler aller­dings so­wohl an naturwissenschaftlichen als auch an geistes­wissenschaftlichen Prinzi­pien orientiert. Er war außerdem be­einflusst von der wissenschaftstheoretischen Position des pragmatisch-positivisti­schen Idealismus (z.B. des Neukantia­ners Vaihinger) und der Evolutionstheorie.[7] Er befindet sich in Gesellschaft bedeu­tender Kulturanthropologen, die den Men­schen als biologisches Mängel­wesen betrachten. Die biologischen Unzulänglichkeiten sind andererseits von positiv zu bewertender Bedeutung insofern, als dem Menschen dadurch maximale An­passungen an dia­metral entge­gengesetzte Naturbedingungen gelungen sind. Ins­gesamt scheint der Einfluss zeit­genössischer Philosophen (Nietzsche, Dilthey, James, Smuts) auf ihn größer gewesen zu sein als der zeitge­nössischer Psycho­logen.

Auf die wissenschaftstheoretischen Untersuchungen der IP zu Lebzeiten Ad­lers (s. vor allem Neuer, 1914; Max Adler, 1925; Kronfeld 1926, 1929 und Seelbach, 1932) soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Sie wer­den z.T. in der Auseinandersetzung mit der gegen­wärtigen wissenschaftstheore­tischen Entwicklung der IP noch erwähnt.

1.4.1. Selbstaussagen Adlers

Adlers Äußerungen zu seinem Wissenschaftsverständnis tau­chen vereinzelt an verschiedenen Stellen seiner Publikationen auf. In der Zeit der Zusammenarbeit mit Freud ist dieses Ver­ständnis noch stark vom naturwis­senschaftlich Stand­punkt ge­prägt. Mit der Einbeziehung evo­lutionstheoretischer Gedanken (1907) wird erst­mals die Abkehr vom naturwissenschaftlich-kausalen Denken deutlich. In seiner letzten Entwicklungsphase verbindet Adler seine Psycho­logie mit einer kritischen Kul­turtheorie.

Wie alle Wissenschaftler, ob sie nun Natur-, Gei­stes- oder Sozialwissen­schaftler sind, strebt auch Adler nach zu­treffenden, wahren Aussagen über wichtige Realitätsberei­che. Sein Wahr­heitsbegriff ist an Hegels Philoso­phie ori­en­tiert, nach der die Wahrheit immer das Ganze ist. Man kann Adler, den An­hänger der Evolutions­theorie, als Er­kenntnisop­timisten bezeichnen. Dennoch ist er sich auch der Be­grenztheit von Er­kenntnismög­lichkeiten bewusst: "Der abso­lu­ten Wahrheit können wir subjektiv nicht habhaft werden. Was aber dieser Wahrheit des Ganzen subjektiv am nächsten kommt, ist das Füh­len mit der Ge­samtheit sub specie ae­ternitatis" (vgl. Hellgardt, 1989, S.65).

Als Tiefenpsychologe geht Adler davon aus, dass vorwis­sen­schaftliche Mei­nungen und per­sönliche Weltbil­der auch seinen Denkansatz bestimmen:

Die IP beweist, dass die Vorstellung eines jeden Individu­ums vom Leben durch den Le­bensstil bestimmt wird (...) Da­durch hat sie Licht auf die ziem­lich verblüffende Tatsache geworfen, dass Psychologen und Philosophen sich sehr in ih­rer Deutung der Innenwelt unterscheiden. Es ist klar, dass je­der von ihnen Geist und Seele von einem Standpunkt aus betrachtet, der von seiner Lebensphilosophie bestimmt wird. (1938, S.154, zitiert nach Ansba­cher & Ansbacher, 1982, S.197)

Adler weiß, dass er keinem "beweisen" kann, dass der Stand­punkt der Ge­mein­schaft der ab­so­lut richtige ist, wenn man nur eine Beweisführung gelten lassen will, wie sie in den exakten Wissenschaften geläufig ist. "Ich glaube mich an keine strenge Regel und Voreingenom­menheit gebunden, viel­mehr hul­dige ich dem Grundsatz: alles kann auch ganz anders sein" (1933a, 1973, S.22). Das Be­wusstsein dieses "fiktiven" An­satzes eröffnet ihm andererseits die Mög­lich-keit der Wandlung der Fiktionen.

Trotz nomothetischer Konstrukte in der IP ist der Haupt­ansatz der Adlerschen Persönlich­keitstheorie ein idiographi­scher. Für den rationalen Begriff der Wis­senschaft bleibt die indivi­duelle Persönlichkeit letztlich un­begreifbar:

Das Einmalige des Individuums lässt sich nicht in eine kur­ze Formel fassen, und allgemeine Regeln, wie sie auch die von mir geschaffene IP aufstellt, sollen nicht mehr sein als Hilfsmittel, um vorläufig ein Ge­sichtsfeld zu be­leuch­ten, auf dem das einzelne Individuum gefunden - oder ver­misst werden kann. (1933a, 1973, S.22)

1.5. Zusammenfassung der wissenschaftstheoretischen Entwicklungen von Adler bis zur Gegenwart

Dieser Zwischenschritt auf dem Weg zur Gegenwart ist erforderlich, um die neueren Diskussionen innerhalb der IP nachvollziehen zu können. Heutige In­dividualpsychologen beziehen sich zur Verdeutlichung des Stellenwerts der IP auf sehr unterschiedliche wissenschaftstheoretische Ansätze.

Als Adler seine weitgehend auf dem normativ-ontologischen Theorieansatz basierende IP entwickelte, fanden im Wien der 20er Jahre bis 1938[8] auf Seiten der Vertreter empirisch-ana­lytischer Theorieansätze (den logi­schen Empiristen und den kritischen Rationalisten) bekannt­lich heiße wissenschaftstheoretische Diskussionen statt. Gemeinsam war beiden Richtungen die Abgrenzung gegen den naiven Empirismus und das Misstrauen gegen die vorherrschende Philo­so­phie. Die kritischen Rationalisten (allen voran Popper) gingen vom prinzi­piell hypothetischen Charakter der Erkenntnis aus und entwarfen das Konzept der Falsifikation als Abgren­zungskri­terium zwischen wissenschaftlichen und nicht­wissenschaftlichen Aussagen mit der Methode der de­duktiven Logik.

Etwa zeitgleich mit dem "Wiener Kreis" entstand das Frankfurter Institut für Sozialforschung mit Adorno, Fromm und Marcuse als Hauptvertretern der "Frankfurter Schule", die sich gegen eine wissenschaftstheoreti­sche Unterord­nung der Sozialwissenschaften unter die Naturwissen­schaften aussprachen. Durch den 2.Weltkrieg fand die längst fällige Diskussion um die Frage nach der (richtigen) Logik der Sozialwissenschaf­ten zwischen den Vertretern der Frank­furter Schule und den Neopositivisten verspätet erst Anfang der 60er Jahre (als sog. Positivismus­streit) statt.[9] Da erkenntnistheoretische Fragestellungen wie u.a. die Abgrenzbarkeit wissen­schaftlicher von alltäglichen Erkenntnissen oder die Rolle des Subjekts im Erkenntnisprozess in das Feld der Psychologie hinein­ragen, ist die Einengung der Wissenschaftstheorie auf die Prü­fungsmethodologie und die rein sprachliche und logische Ebene fragwürdig (vgl. Breuer, 1991, Kap.2).

Kuhns wissenschaftsgeschichtliche Analyse der Naturwissenschaften (1962) beflügelte die wissenschaftstheo­retische Diskussion ebenfalls stark. Im Unter­schied zu Popper, dessen Auf­fassung von Wissenschaftsentwick­lung im Verlauf der Zeit in einer Maximierung der Wahr­heitsnähe besteht, versuchte er nachzu­weisen, dass Wissenschaft nicht kontinuierlich (auf eine "endgültige " Wahrheit hin), sondern in Brüchen, sog. "wissenschaftlichen Revolutionen" ver­läuft, die er "Paradigma-Wechsel" nennt. Selbst eine Theorie, die an ih­rer Erfahrung ge­schei­tert sei, werde erst dann verworfen, wenn eine andere Theorie auftauche, die ihren Platz ein­nehmen könne. Das "Gesetz der Irrationalität"[10] wissen­schaftlicher Forschung irritierte beson­ders die Neo­positivisten, die z.T. indig­niert reagierten. Andererseits änderten sie aber sowohl in der Auseinanderset­zung mit der Frankfurter Schule, als auch im Zuge der "Kuhnschen Heraus­for­derung" (Kriz, Lück & Heidbrink, 1990, S.171) ihre Positionen (etwa vom pop­perschen "Naiven Falsifikationismus" zum "Raffinierten Falsifika­tionismus", den Lakatos vertritt).

In den 70er Jahren stellten Sneed und Stegmüller in Auseinandersetzung mit dem Kuhnschen Paradigma-Konzept der bislang in den empirisch-analytischen Wissenschaften üblichen Aussa­genkonzeption eine Nicht­aussagenkonzeption von Theorien (non-statement view of theories) gegenüber, die auch als struktu­ralistische Theorienkonzeption bezeichnet wird. Danach ist eine Theorie nicht mehr als ein System von Aussagen anzuse­hen, sondern als ein nichtsprachliches Gebilde, eine Rahmentheorie, an der eine Wissenschaftsgemeinschaft arbeitet. Sie lässt sich in den Strukturkern der Theorie mit dem Fundamentalgesetz und den grundlegenden Ne­benbedingungen unterteilen, die alle Anwendungen mit­einander verbinden und in die empirische Komponente, die eine offene Menge darstellt und aus der Elemente entfernt bzw. in die neue hinzugefügt werden können. Theorien sind immun in­sofern, als der negative Ausgang einer empiri­schen Überprüfung keine Falsifi­kation der Theorie bedeutet, sondern nur das Scheitern einer bestimmten An­wendung. Für die Beantwortung der Frage nach der Unterscheidbarkeit von pa­radigmatischen Revolutionen mit und ohne Er­kenntnisfortschritt schlägt Steg­müller ei­nen Leistungsvergleich zwischen den beiden konkurrierenden Rah­mentheorien vor: "Theorienverdrängung mit 'Er­kenntnisfortschritt' ist dann ge­geben, wenn die alte Theorie auf die neue struktu­rell reduzierbar ist" (Stegmül­ler, 1986, S.324).

1.5.1. Übertragung der neuen Ansätze auf die Psychologie

Der Positivismusstreit blieb zunächst in Psychologenkreisen ziemlich unbeach­tet. Lück (1991) führt das geringe Interesse an wissenschaftstheoretischen Fra­gen darauf zurück, dass Psycholo­gen "Anfang der sechziger Jahre vollauf damit beschäftigt waren, die geisteswissenschaftliche Psychologie mit dem Neobeha­viorismus amerikanischer Prägung zu überwinden" (S.164) und empirisch-ana­lytische Forschungsmethoden auf psychologische Fragestellungen anzuwenden. Dennoch sind viele Argumente gegen eine positivistische Wissenschaftsauffas­sung schließlich doch in die psychologische Diskussion eingeflossen. Die Rele­vanz soziologischer und psycho­logischer Faktoren für die wissenschaftliche Entwicklung wurde stärker beachtet und wissen­schaftliches Erkennen auch als soziale Tätigkeit aufgefaßt. Allgemein wurde die Bedeutung der Subjektabhän­gigkeit von Erkenntnis mehr wahrgenommen als früher.

Anfang der 70er Jahre, in engem Zusammenhang mit universitären und auße­runiversitären Konflikten, kritisierte Holzkamp mit seiner "Kritischen Psycholo­gie" sowohl die empirisch-analytische als auch die hermeneutisch-verstehende Psychologie als bürgerlich und bemühte sich um eine gegenstandsbezogene Neudefinition psychologischer Grundbegriffe mit der Hauptka­tegorie der "Handlungsfähigkeit" des Subjekts.

Herrmann (1976) versuchte die Nichtaussagenkonzeption Stegmüllers in die psychologische Theoriebildung zu übernehmen, allerdings mit dem Bewusst­sein, dass die für die Naturwissen­schaften entwickelten Vorstellungen nur mit Vor­sicht auf die Sozialwissenschaften, insbeson­dere auf die Psychologie, über­tragen werden können. So meint Westmeyer (1977, S.84) als Vertreter einer nomologi­schen Psychologie , die Psychologie sei noch keine "reife" Wissen-schaft und befinde sich im Vergleich zu den Natur­wissenschaften in einem vor­paradigmati­schen Stadium. Herrmann unterscheidet psychologi­sche Domain-Programme, für die es unterschiedliche Theorien geben kann, von quasi-para­dig­matischen Forschungsprogrammen, in denen man für eine Theorie möglichst umfassende An­wendungsmöglichkeiten sucht. Er hebt den Werkzeugcharakter von Theo­rien hervor (1979, S.2), sieht in der Empirie nicht das einzige Krite­rium zur Beurteilung der Tauglichkeit einer Theorie (S.41) und spricht sich für einen Theorienpluralismus aus, da einzelne Theorien immer nur reduzierte Mo­delle des Menschen betreffen (S.63).

Groeben & Scheele (1977) fordern die Einbeziehung subjektiver Theorien in die Psychologie und eine Integration hermeneutischer und empirischer Metho­den. Auf der Basis der struktura­listischen Theorienkonzeption versuchen sie mit ihrem "epistemologischen Subjektmodell" den Kognitivismus als neues Para­digma in der Psychologie zu interpretieren, der das alte Para­digma, den Beha­viorismus, ablöst. Kraiker (1980), ebenfalls ein Vertreter der Nichtaussagen­kon-zeption, will am Beispiel der Psychoanalyse und der Verhaltenstheorie deutlich machen, dass man (ohne opportunistischen Eklektizismus) "ohne logische Inko­nsistenz mit mehreren Theorien gleichzeitig arbeiten und gegenüber neuen Theo­rien offen bleiben kann" (S.246).

Bei der beschriebenen Um- und Neuorientierung in der wissenschaftstheoreti­schen Diskus­sion sind noch viele Fragen offen. Dennoch scheint der Weg zu einer besseren Verständigung zwischen erklärender und beschreibender Psy­chologie und zu einer Integration ihrer relevanten und erkenntnisfördernden Aspekte in den nächsten Jahren vorbereitet.

1.6. Standortbestimmung und Motivation der Verfasserin

Da die Trennung des Forschungssubjekts vom Forschungsobjekt eine künstliche und das Un­tersuchungsergebnis verzerrende ist und ich auch nicht beabsichtige, mich in meiner Rolle als Psychologiestudentin von mir als Menschen fernzu­halten, um so zum bloßen Registrierinstru­ment zu degenerieren (vgl. Brandt & Brandt, 1974, S.257), möchte ich in diesem Abschnitt ei­nen Überblick über meinen Entwicklungsprozess zum Thema der vor­liegenden Ar­beit hin geben. Das beinhaltet wiederum die Offenlegung eigener selektiver Wahrnehmungs­prozesse (die selektive Kognitionen und Emotionen bewirken).

Die Weiterentwicklung der Individualpsychologie betrifft mich auch in mei­nem konkreten auße­r­universitären Berufsleben: 1988 habe ich, nach 12jähriger Unterrichtstätigkeit als Studienrätin an Gym­nasien und Gesamtschulen und Mutter zweier inzwischen fast erwachsener Töchter, ebenfalls auf der Suche nach neuen Entwicklungsmöglichkeiten[11] und der Erweiterung meiner Hand­lungskompetenz, eine dreijährige individual­psychologi­sche Weiterbildung in Angriff genommen. Mein Interesse für die Psychologie reicht na­türlich weiter zurück. In die Tat umgesetzt habe ich es erstmals 1975, als ich am damals noch relativ jungen Psychologischen Institut (PI) mein Zweitstudium begann, es aber durch den Eintritt ins Re­ferendariat leider noch vor dem Vordiplom wieder auf­geben musste. Von daher sah ich Jahre später in der adleri­anischen Weiterbil­dung an ei­nem privaten In­stitut zunächst die ideale Möglichkeit, meinen unter­brochenen Weg doch noch fortzusetzen. Obwohl die Beschäftigung mit Adler für Pädagogen recht nahelie­gend sein mag, hing meine Entscheidung für diese psychotherapeutische Rich­tung viel eher mit mei­ner Sympa­thie für die Leiterin des 1.Seminars (s.a. S.31 dieser Arbeit), das ich besuchte, zusammen. Vage plante ich, nebenberuflich selbständig Beratungen und/oder Psychotherapie an­zubieten, ohne mich aber genauer über die rechtlichen Voraussetzungen zu in­formieren (sonst hätte ich damals ver­mutlich meine Ausbildung an einem von den Krankenkassen aner­kannten IP-Ausbildungsinsti­tuten ge­macht).

Schule und "IP-Schulung" liefen eine Zeit lang parallel, ich wurde neugierig auf andere Psy­chotherapierichtungen, speziell die Klinische Hypnosetherapie (nach Milton H. Erickson), in der durchaus Bemühungen bestehen, Schulen­grenzen zu überschreiten. Auch hier schloss ich eine Weiterbildung ab. Inzwi­schen arbeitete ich bereits beraterisch, aber mir wurde langsam klar, dass mir au­ßerhalb der Universität immer nur Teilmengen psychologischen Wissens be­geg­neten, die dennoch oft als "das Wahre und Ganze" bezeichnet wurden. Zwar to­lerierte man am IP-Ausbildungsinstitut meine "Blicke in Nachbars Garten" als unbedeutende "Seitensprünge", aber Integrationshilfen blieben aus. Nun begann ich, mich mit der Geschichte und Institutionalisierung der IP gezielt auseinan­derzusetzen. Ich staunte über die "Machtkämpfe" der un­terschiedlichen Gruppie­rungen selbst innerhalb der Schule, die mir bislang verbor­gen geblieben waren[12] und sah mich gezwungen, die Kluft zwischen dem (zudem unscharf definierten) Begriff des Gemeinschaftsgefühl und dem konkre­ten Handeln der Vertreter die­ser Lehre zur Kenntnis zu nehmen.

Da ich mich grundsätzlich jedoch durchaus wohl fühlte innerhalb der IP und außerdem vorhatte, möglichst qualifiziert ausgebildet psychotherapeutisch zu arbeiten, nahm ich ei­nen zweiten Anlauf und bemühte mich um einen Studien­platz in Psychologie. Diesmal erhielt ich ihn am Institut für Psychologie (IfP). Ich lernte, dass die Lehren­den der Grundlagenfächer und die der Angewandten Psy­chologie sich eher von­einander fernhielten, und innerhalb der Klinischen Psychologie suchte ich ver­geblich nach einer Auseinandersetzung mit der IP

(Spätfolgen von Wagner-Jau­reggs Urteil über Adler?[13] ). Meine Hoffnung, von Seiten der Akademischen Psychologie Hilfestel­lungen für und Informationen über die konkrete Berufswelt und auch die Verbandspolitik des Klini­schen Psy-chologen zu erhalten, wurden leider weitgehend enttäuscht. Den Praxisschock, den viele Studenten nach ih­rem Universitätsabschluss bekommen, halte ich in der gegenwärti­gen Situation für fast unvermeidlich. Inzwischen hatte ich meinen "kleinen Heilprakti­ker­schein" vom Gesundheitsamt bekommen, der mich be­rechtigte, Psychotherapie beruflich auszuüben. Mein Vorteil bestand also darin, parallel zum Studium be­reits zu arbeiten, das Band zur Praxis also nicht aus den Augen zu verlieren, aber das ist nicht der Regelfall.

Durch die Zusammen­legung des PI mit dem IfP[14] ist - allerdings nicht frei­willig, sondern durch Druck von außen - eine neue Situation entstanden, die auch die Möglichkeit der Annähe­rung z.T. verhärteter Fronten enthält. Immerhin besuchen die Studenten gezielter als vorher sowohl Veranstaltungen mit me­tho­disch quantitativem als auch solche mit qualitativem Schwerpunkt. Meine Se­mester­arbeit schrieb ich noch am ehemaligen IfP. In ihr beschäftigte ich mich mit den wissenschafts­theoretischen Grundlagen der IP und setzte mich mit An­tochs Ver­such (1981) auseinander, ihr eine strukturalistische Fundierung auf der Basis der Nichtaussagenkon­zeption zu geben. Ich blieb also meinem Thema treu. Ebenso möchte ich meine Diplomarbeit nutzen, mich wissenschaft­lich, wenn auch nicht "neutral" mit der IP, aber auch mit der Haltung der Akademi­schen Psychologie ihr gegenüber auseinanderzusetzen, be­treut von S.Schubenz vom ehemaligen PI. Ich denke, Adler und die Kritische Psychologie ha­ben min­destens so viel mit­einander zu tun wie die Psychoanalyse und die Kritische Psy­chologie.

Zwar gehöre ich einer psychotherapeutischen Schule an, bin aber insofern "ungebunden", als ich an keinem vom Medizinsystem anerkannten Institut aus­gebildet wurde und daher Loyali­tätskonflikte aufgrund des Zwitterstatus einer medizinisierten Psychologin nicht habe. Da ich aber bisher hauptsächlich auf der Grundlage der IP arbeite, wählte ich mein Thema dennoch nicht vorur­teils­frei, sondern mit der geheimen Hoffnung, einiges Weiterent­wickelnswerte an der IP zu finden, also ein Ja auf meine Frage zu erhalten, ob die IP als eine der älte­sten Psychotherapie-Schulen noch von Bedeutung ist. Die Gefahr, bei aus­führliche­rem Hin­sehen, das sich nicht nur auf die Lehren der eigenen Schule stützt, Idea­lisierungen aufgeben zu müssen, ist groß und immer auch ein schmerzhafter Prozess.

Am ehemaligen IfP hörte ich ab und zu die Warnung, bei der Wahl des Di­plomthemas möge man auch bedenken, ihm nicht zu nahe zu sein. Sich berühren lassen und berühren, was das Nahesein ausmacht, ist Vorausset­zung für eine ganzheitliche Heilung unserer Patienten. Und ihnen sind wir oft nur Stunden voraus. Mit diesem Zitat[15] im Ohr und Herzen schlug ich die IfP-Warnung in den Wind und wählte ein Thema, dem ich sehr nahe stehe, mit aller dazugehöri­gen Ambivalenz. Andererseits ist auch der beabsichtigte Verzicht auf Idealisie­rungen ein Entwicklungs­schritt für Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion, also auch für mich, die Verfasserin. Außerdem habe ich ein weiteres Standbein: die Klinische Hypnosetherapie, deren Beitrag zur Klinischen Psychologie eben­falls untersuchens­wert ist (und als drittes meine Arbeit in der Schule). Sie wird vorerst weiterhin auf meinem kleinen Persönlichkeitsaltar stehen bleiben kön­nen. Diese Einsicht vorab tröstet mich und macht mich mit einiger Wahrschein­lichkeit nicht völlig blind für mögliche herbe Ernüchterungen während des Pro­zesses der Beschäftigung mit meinem Thema.

1.6.1. Auseinandersetzung mit dem Begriff der Entwicklung

Zweifelsohne hat sich die IP in ihrer fast 100jährigen Geschichte verändert. Welche dieser Ver­änderungen aber können wir als Entwicklungen bezeichnen? Zu Beginn meiner Arbeit machte ich mich auf die Suche nach dem Stellenwert des Begriffs "Entwicklung" bei Adler und seinen Nachfolgern.

Adler hat seine Theorie nachweislich mehrmals durch Aufnahme von Außen­anregungen ver­ändert. Manche seiner Kritiker sprechen sogar von regelrechten "Brüchen" in seiner Lehre. Er weist dagegen im Vorwort zur 4. Auflage seines Buches "Über den nervösen Charakter" mit gewissem Stolz darauf hin, seine Theorie sei geradlinig, folgerichtig und ohne wesentliche Korrekturen fortent­wickelt worden.[16] Er hebt also die Kontinuität im Wandel hervor[17], womit er den entwicklungspsychologischen Überlegungen Piagets nahesteht. Ähnlich wie bei dessen Stufenmodell, in dem der Mensch als aktives Subjekt über Akkomo­dation und Assimilation in Interaktion mit der Umwelt lernt, passt sich der Mensch bei Adler in aktiver Auseinanderset­zung und im Austausch mit seiner Umwelt an diese an.

In seiner Theorie ist aber durchaus die Dimension des Widerstands enthalten. Es geht nicht um eine Anpas­sung zu Lasten der eigenständigen Entfaltung des Individuums an die in einer momentan vor­findbaren Gesellschaft herrschenden Bedingungen, sondern um die erfolgreiche Auseinander­setzung eines Menschen und der ganzen Menschheit mit der Außenwelt, "die für die äußerste Zukunft als richtig gelten kann" (Adler, 1933a , 1973, S.164). Mit seinem Satz "Leben heißt sich entwickeln" (1933c, 1983, S.22) ist immer auch die evolutionäre Sichtweise einer allmäh­lichen Aufwärtsentwicklung der Menschheit verknüpft, die Adlers optimistisches Menschenbild prägt. Mit dieser Auffassung von Entwicklung, die auf ein höheres Niveau (in Richtung eines Ziels der Vollkommenheit) gerichtet ist, befinden wir uns mitten in einer Wer­tepsychologie, die Adler nie von sich gewiesen hat. Kritik, auch bei heutigen Individualpsycho­logen, setzt an der Stelle ein, wo Adler fast messianisch die IP zur "Förderin der Evolution" erklärt.

Das Thema Entwicklung, in der Akademischen Psychologie im Bereich der Entwick­lungspsychologie vertreten, nimmt aber im individualpsychologischen Theoriegebäude insge­samt keinen großen Raum ein. Anders als Freud hat Adler kein eigenes Entwicklungsmodell vorgelegt, und auch bei seinen Nachfolgern scheint das Thema bis vor kurzem von geringem Stellenwert gewesen zu sein. So fehlt das Stichwort "Entwicklung" z.B. in gängigen Handbüchern zur IP (Wexberg, 1926; Ansbacher, 1965). Im "Wörterbuch der Individualpsychologie" (Brunner, Kausen & Titze, 1985) ist es allerdings bereits aufgenommen, und die 11. Delmenhorster Fortbildungstage für IP 1991 setzen sich intensiv mit dem Thema "Entwicklung und Individuation" auseinander. Inwieweit damit eine An­näherung an die Akademischen Psychologie und ihre Forschungser­gebnisse im Bereich der Entwicklungspsychologie erreicht wird, untersuche ich an entspre­chender Stelle (s. 7.).

Auf einen verbindenden Aspekt von IP und ökologischer Entwicklungspsy­chologie möchte ich bereits jetzt eingehen: Der Begriff der "Entwicklungsauf­gabe" von Havighurst (1972) ist theoretisch und praktisch von großer Bedeu­tung, und er weist einige Ähnlichkeit mit Adlers Konzept der "Lebensaufgaben" auf. Entwicklung beinhaltet sowohl nach Adler als auch nach Havinghurst ein lebenslanges Überwinden von Pro­blemen, das dem Individuum eine aktive Rolle bei der Gestaltung einräumt. Verschiedene Entwicklungsaufgaben oder ent­wicklungsspezifi­sche Varianten der Lebensaufgaben werden zu unterschiedli­chen Zeitpunkten in der Entwick­lung eines Individuums aufgrund kultureller An­forderungen relevant. Das Meistern der Aufga­ben gelingt am besten, wenn die der vorange­henden Phase bewältigt wurden. Eine Systemati­sierung von Entwicklungsaufgaben ist prak­tisch sehr bedeutsam, weil Entwicklung präven-tiv und interventiv in Richtung auf die Bewälti­gung gefördert werden kann.

Aus der Beschäftigung mit der Entwicklungspsychologie sind mir neue Anre­gungen in Bezug auf den Umgang mit meinem Thema erwachsen: Bereits zu Adlers Lebzeiten haben sich sehr un­terschiedliche in­dividualpsychologische Gruppen herausgebildet, mit jeweils eigenen Ent­wick­lungszielen und Entwick­lungsaufgaben für die IP. Diese Situation verlängert sich na­türlich in die Ge­genwart. Beim Studium neuerer individualpsychologischer Texte wuchs meine Ver­wirrung, denn was die einen (vor allem die nordamerikanischen Indivi­dualpsychologen) Ent­wicklung in der IP nennen, nennen die anderen Regression (s. Lehmkuhl & Lehmkuhl, 1990)[18], und ich hatte Pro­bleme, angesichts der Vielfalt an Meinungen überhaupt noch ein übergeordne­tes gemeinsames Ent­wicklungsziel für die IP auszumachen. Stattdessen begegnete mir überzu­fällig häufig der Begriff der Identität.[19] Die Identitätssuche wird von Adlerianern aller Schat­tierungen betont und scheint ein gemeinsames Anliegen zu sein. Auffal­lend ist auch der weit­gehende Verzicht auf Idealisierungen der Person Adlers (zumindest bei der jüngeren Genera­tion).

Zwar sind Entwicklungsaufgaben des einzelnen nicht problemlos auf Gruppen zu übertragen, aber metaphorisch gesprochen könnte es sich bei der Suche nach Identität, die immer eine Auseinandersetzung mit und eine Abgrenzung von den Eltern[20] beinhaltet, durchaus um eine Entwicklungsaufgabe heranwachsender Jugendlicher handeln. Angesichts der Tatsache, dass die IP bereits mehrere Ge­nerationen von Individualpsychologen hervorgebracht hat, erscheint die gegen­wärtige Phase auf den ersten Blick als eine Entwicklungsverzögerung und man würde eher die Phase des mittleren Erwachsenenalters erwarten. Andererseits ist, bleibt man im Bild, zweierlei zu bedenken :

Die Themen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung anstehen, können nur auf der Basis bewältigter Aufgaben der vorausgehenden Phase er­folg­reich in Angriff genommen werden. Hier ist eine Erklärungsmöglichkeit für die Entwicklungs­verzögerung gegeben. Haben Individualpsychologen eventuell zu lange ihre eigene Kindheit verdrängt? Darunter verstehe ich z.B. die kritische Auseinandersetzung mit der Rivalität zwi­schen Adler und Freud, die beide, auf Abgrenzung voneinander bedacht, einen Erkenntnisfort­schritt eher verzögert haben.[21] Außerdem meine ich damit auch die Auseinandersetzung mit der zwie­spältigen Rolle einiger Individualpsychologen während der NS-Zeit, die bis vor kur­zem durch Verschleierung und Beschönigung ersetzt wurde.

Mit dem Bild der Entwicklungsaufgaben im Hinterkopf werde ich in den fol­genden Kapiteln herauszufinden versuchen, ob und in welchen Bereichen die IP heute "erwachsen" geworden ist und welche Entwicklungsmöglichkeiten beson­derer Förderung in der Zukunft bedürfen. Hier sehe ich auch eine Aufgabe für die Akademische Psychologie, die den Gedanken entwicklungs­fördernder Aspekte in ihrer Forschung aufgegriffen hat, sich ihrer Fürsorgepflicht zu ent­sinnen und einen Beitrag dafür zu leisten, dass die IP zu einer Identität gelangt, die als Resultat einer Identifikation zu verstehen ist, die sie hinter sich gelassen hat.

2. Neue Untersuchungen zur Geschichte der Individualpsychologie

Ziel des Kapitels ist, Hintergrundwissen zur Geschichte der IP für die anschlie­ßenden Untersu­chungen zur Verfügung zu stellen, um so mögliche Bezüge zwi­schen bestimmten Diskussions­inhalten und dem Organisationsstand der IP-Schule herstellen zu können und ihre Verwoben­heit miteinander deutlich zu ma­chen. Zunächst vervollständige ich die in 1.3. begonnene tabel­larische Übersicht bis zur Gegenwart (2.1.). Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Organisati­onsstruktur der IP (2.2.). Den Abschluss bildet die Darstellung wesentli­cher Bei­träge zur Geschichte der IP, die ich kritisch diskutieren möchte (2.3.).

Auf die konkrete Ausbildungssituation von Individualpsychologen, der im Zu­sammenhang mit Profes­sionalisierungsfragen ein hoher Stellenwert beigemessen werden muss, gehe ich erst in 5.3. ein. Als ein Aspekt im Bereich der Praxis der IP ist sie dort auch angemessen plaziert. Dadurch wird die Ähnlichkeit der Ar­beit mit den auszubildenden Individualpsychologen und der mit dem Klien­ten/Patienten im Hinblick auf die Gleichwertigkeit beider hervorgehoben und der Zusam­menhang mit dem (ebenfalls auszubildenden) Klient/Patient-Thera­peuten-Verhältnis deutlich.

2.1. Reorganisation und Professionalisierung der individualpsychologischen Schule nach dem 2.Weltkrieg bis zur Gegenwart

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2. Auseinandersetzung mit der Organisationsstruktur der Individualpsy­chologie

Ausgehend von einer kurzen Betrachtung der Organisationsstruktur der IP zu Adlers Lebzei­ten, untersuche ich anschließend deren Entwicklung in Deutsch­land nach dem 2.Weltkrieg und ende mit der Darstellung gegenwärtiger organi­satorischer Probleme der IVIP.

Ein Grund für die unterschiedliche Organisationsstruktur der Freudschen und der Adler­schen Schule in ihren Anfängen hängt sicher eng mit der Persönlich­keit ihrer Gründer und auch der sozialen Herkunft ihrer Patienten zusammen.[22] Freuds Gesellschaft war nach strengen Re­geln organisiert. Als er 1910 die Inter­nationale Vereinigung der Psychoanalyse (IPV) gründen wollte, argumentierte Adler dagegen, da er "Zensur und Einschränkung der wissenschaftlichen Frei­heit"[23] befürchtete. Zeitlich fällt die Auseinandersetzung zwischen Freud und Adler, die zum Bruch führte, mit dem Beginn der Institutionalisierung der Psy­choanalyse zusammen. Mit ihrem Bekanntheitsgrad und mit der Zunahme der Kritik von außen wurde auch innerhalb der Bewegung intoleranter mit abwei­chenden Meinungen umgegangen. Nach seiner Trennung von Freud bzw. der Exkommunizierung durch diesen traf Adler sich mit seinen Schülern häufig in Wiener Cafés, während Freud zunächst seine Wohnung und später das Haus ei­ner medizini­schen Gesellschaft für seine Sitzungen vorzog. Insgesamt war die IP zu Lebzeiten Adlers we­sentlich lockerer organisiert als die Psychoanalyse. Dennoch gibt es Parallelen auch in ihrer Institutionalisierung, die typisch für alle Lehren sind, die sich nach außen hin verteidigen müs­sen. Auch in wissenschaft­lichen Institutionen wie Universitäten kann es dazu kommen!

Im "roten" Wien bot sich Adler die Möglichkeit, seine Lehre praktisch umzu­setzen, und er begann in den 20er Jahren mit der Entwicklung eigener Institutio­nen. Parallel dazu stieg die Publikationsrate individualpsychologischer Schriften und Adlers Vortragstätigkeit im In- und Ausland (s.a.1.3.). Dennoch verstand die IP sich eher als Teil der Reformbewegung als als wis­senschaftlicher Verein. Die psychoanalytische Bewegung hatte zu dieser Zeit bereits einige Kon­gresse abgehalten, Ortsgruppen gegründet und verfügte über mehrere Fachzeitschriften. Da­gegen war die IZI die einzige Fachzeitschrift im deutschen Sprachraum, und trotz einiger europäischer und außereuropäischer individualpsychologischer Gruppen gab es noch keine in­ternationale Organisation.[24] 1923 nahm Adler am 7.Internationalen Kongress für Psychologie in Oxford teil.[25] Ansonsten ist über die Vertretung der IP auf psychologischen Kongressen wenig bekannt. Höhe­punkte der Geschichte der Indivi­dualpsychologie in der Zwischenkriegszeit stellten die fünf Internationalen Kongresse dar[26], deren letzter vor dem 2.Weltkrieg 1930 in Berlin mit mehreren 1000 Teilnehmern stattfand. Bei der Organisierung ärztlicher Psychotherapeuten mit dem Ziel der kassenärztlichen Aner­kennung war die Individualpsychologie neben der Psy­choanalyse ebenfalls vertreten. Um sich in diesem Kreis zu "bewähren", war auch die Notwen­digkeit der bis dahin vernachlässigten formalisierten Ausbildung gegeben (s. hierzu 5.3.). Zwar gab es in den 20er Jahren viele Wei­terbildungsangebote in Form von Vorträgen und Kursen, die Frage der formalisierten Ausbil­dung hatte jedoch keine so zentrale Stellung wie in der Ge­schichte der Psychoanalyse.

Durch die Ausbreitung der IP ergaben sich auch verschiedene Ausrichtungen dieser Lehre (die biologistische, marxistische, religiöse und philosophische), durch die zunächst noch keine Fraktionierungen entstanden. Dies änderte sich allerdings Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre, z.B. mit der Spaltung der Ber­liner Gruppe. Cremerius (1992, S.37) weist darauf hin, dass das Elend der psy­choanalytischen Institutionen, de­ren Präsident außerordentliche Vollmachten hat, dessen Ansprüche unwiderlegbar und dessen Autorität unverletzbar ist, mit dem totalen Ver­zicht auf eine wissenschaftliche Vereinigung beginnt. An ihre Stelle trete eine Glaubensgemein­schaft. Durch die Entwicklung von Hypothe­sen, die der "reinen" Lehre widersprechen, kommt es zu machtpolitischen Span­nungen und immer wieder zu Dissidenten, die sich von der Ursprungsgruppe trennen und neue Insti­tute gründen. Handlbauer (1990, S.172 f) stellt fest, dass mehrere Merkmale psychoana­lytischer Dissidenz sich auch direkt auf die IP (zu Leb­zeiten Adlers) anwenden lassen.[27]

Wenn wir uns nun der Gegenwart nähern und untersuchen, wie sich die Insti­tutionalisierung der IP nach dem 2.Weltkrieg in Deutschland gestaltete, wird deutlich, dass die Tatsache einer fehlenden internationalen Organisation sich sehr hemmend auf einen Neu­beginn der wenigen im Land gebliebenen Indivi­dualpsycholgen auswirkte. Die nach Amerika emigrierten Individualpsycholo­gen hatten in Konkurrenz mit der Psychoanalyse Probleme, ihre Schulenidentität offenzulegen und arbeiteten häufig als "Kryptoadlerianer". Selbst als 1954 die IVIP gegründet wurde, vergingen mehrere Jahre, ehe der organisatorische und

institutionelle Aufbau der IP in Deutschland wieder in Angriff genommen wurde.[28] In den 50er und 60er Jahren erschienen zwar einige Bücher von Indi­vidualpsychologen, der eigentliche Auf­schwung kam aber erst durch die aktive Unterstützung der emigrierten Indivi­dualpsycho­logen. Nach der Gründung der AAG 1962 versammelten sich durch die Aktivitäten von Metzger und Seeger[29] 1966 im Rahmen des 10. Internatio­nalen Kongresses in Salzburg alte und neue Mitglieder zu einer ersten richtigen Mitgliederversammlung, Weiterbildungs­kurse wurden geplant und ab 1967 auch mit Hilfe der Emigranten durchgeführt.

Die Mitgliederzahlen stiegen, aber Uneinigkeiten über die Abschlüsse der Ausbildungsgänge für Teilnehmer unterschiedlicher Grundberufe und über fi­nanzielle Abrechnungsmodi führten zu erbitterten Auseinandersetzungen in den Mitgliederversammlungen, zu verschiedenen Sat­zungsänderungen und schließ­lich zum Rücktritt Metzgers, Seegers und anderer Vorstandsmitglieder. 1970 wurde ein neues Gremium mit Blumenthal[30] als 1.Vorsitzenden zusammenge-stellt. Die AAG hieß nun DGIP, Weiterbildungskurse wurden in regionalen Ar­beitskreisen dezentral an­geboten. Für die öffentliche Anerkennung der Weiter­bildung erfolgte die Gründung von Instituten mit bestimmten personellen und organisatorischen Gegebenheiten. Die Einrichtung eines Zentralinstituts, für dessen öffentliche Unterstützung Metzger bereits 1969 ein Gutachten bei Ans­bacher eingeholt hatte, wurde auf jeder Delegiertenversammlung zum "Zank-apfel" und kam nie zustande. Ungeachtet dessen stiegen die Mitgliederzahlen weiter erfreulich an, und das Vermögen der DGIP erhöhte sich zwischen 1969 und 1979 von ca. 2000 DM auf 120000 DM.

Schmidt (1987a), Arzt und 1.Vorsitzender der DGIP von 1974-1987, weist noch auf die Verdienste des Ehepaars Ansbacher, auf Dreikurs, Ackerknecht, Rom und Sperber hin, oh­ne deren Hilfe die deutschsprachige IP sich nicht erholt hätte. Er beschreibt dann den Prozess der ­Polarisierung einer sich tiefenpsycho­logisch verstehenden IP und einer (eher "amerikanischen") IP, die sich als Be­wusstseinspsychologie versteht, die 1976 auf dem 13. Internationalen Kongress in München unübersehbar wurde. Er selbst rechnet sich der ersteren zu, wobei er sie als die emanzipatorische darstellt: "Die Schüler Adlers wurden er­wachsen und begannen seinen Ansatz einer ganzheitlichen Beziehungsanalyse zu vertie­fen" (S.253).[31] Gleichzeitig weist er entschieden die Kritik zurück, es handle sich bei der neuen Ent­wicklung in der IP um opportunistische Erscheinungen, die mit dem Verteilungsproblem auf einem umkämpften Psychomarkt zu tun hätten. Die Gefahr, in "elitäre Elfenbeintürme aus überholter psychoanalytischer Zeit (zu) flüchten" (S.256), sieht er an den eigenen Instituten al­lerdings auch und fordert von daher die gleichwertige Zusammenarbeit aller an Therapie und Beratung beteiligten Berufsgruppen, ohne allerdings Aussagen über die Kon­kretisierung zu machen.

Wenige Jahre später klingt der Ton noch selbstbewusster, aber auch aggressi­ver. Lehmkuhl & Lehmkuhl[32] (1990, S.7ff) sprechen von der "Vereinfachung und Vernachlässi­gung wichtiger tiefenpsychologischer Ergebnisse Adlers" durch die individualpsychologischen Emigranten in Amerika aufgrund der "be­wusste(n) Abgrenzung von Psycho­analytikern". Sie nennen die Nichtanerken­nung der damals emigrierten Adlerianer in Kliniken und Institutionen "Kriegs­kosten", denen sie die eigene seit 1979 erreichte Anerkennung zur Weiterbil­dung durch die zuständigen Bundesärztekammern und die Kassenärztliche Bun­desvereinigung in Deutschland stolz gegenüberstellen. Obwohl es zweifelsfrei den Aktivitäten der Emigranten zu verdanken ist, dass die Individualpsychologie in den späten 60er Jahren wieder einer größeren Zahl von Menschen na­hege­bracht wurde, heben Lehmkuhl & Lehmkuhl nur äußerst pauschal deren am "späten" Ad­ler orientierte Bewusstseinspsychologie hervor und zitieren als Zeu­gin eine Indivi­dualpsycho­login, die den Autoren berichtete, "wie sie tief depri­miert und entsetzt" (S.8) nach einem Semi­nar von Dreikurs gewesen sei.

Diesem Zitat, das keine reprä­sentative Aussage darstellt, kann ich mit eben­solcher Vehemenz meine eigene positive Erfah­rung gegenüberstellen, die ich in meiner Weiterbildung u.a. mit Frau Ackerknecht machte. Sie ist im Unterschied zu Lehmkuhl & Lehmkuhl nicht Ärztin, son­dern promovierte Psychologin und Anthropologin, leitete die ersten Nachkriegskurse für ange­hende Berater und Psychothe­rapeuten in Deutschland und bildete damit die erste Generation von Individualpsychologen in Deutschland mit aus (zu der Lehmkuhl & Lehmkuhl sich auch zählen dürfen).

[...]


[1] Soziales Interesse und die Fähigkeit zur Kooperation, für Adler Maßstab seelischer Gesundheit, stellen zudem kein parteipolitisches Programm, sondern grundsätzliche Voraussetzungen für das Leben in einer menschlichen Gesellschaft dar. Dass Adler sich von keiner ideologischen Gruppierung vereinnahmen ließ, haben einige seiner Schüler dagegen sehr deutlich spüren müssen.

[2] vor allem in der Zeitschrift für Individualpsychologie (ZfIP) und in den Beiträgen zur Indi­vidualpsychologie, die einen repräsentativen Quer­schnitt der Mei­nung heutiger Indivi­dual-psychologen darstellen.

[3] Zum sozialpsychologischen Ansatz Adlers vgl. Bruder-Bezzel (1983 und 1991).

[4] Ellenberger (1985, S.848f) weist aber auch auf romantisches Gedankengut bei Adler hin, z.B. seine Betonung der absoluten Einzigartigkeit des Individuums und der Gemeinschaft als organisches, schöpferisches Ganzes.

[5] Insofern setzt Adler den Lebensstil auch mit dem Charakter, dem "Ich", der Persönlichkeit gleich (vgl. Ansbacher & Ansbacher, 1982, S.175).

[6] Für eine genaue Darstellung s. Bruder-Bezzel, 1991.

[7] Bereits 1907 knüpfte Adler an die Lehren Darwins und Lamarcks an und entwickelte seine interdisziplinäre Theorie des "Organdialekts".

[8] Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Mitglieder des "Wiener Kreises" aus Abstam­mungs- und ideologi­schen Gründen emigriert (vgl. Breuer, 1991, S.39).

[9] Habermas warf den Neopositivisten Popper und Albert, die eine Trennung von Werturteilen und wissen­schaftlichen Aussagen forderten, vor, sie verschleierten, dass jeder Theorie ein Er-kenntnisinteresse vorausgehe. Adorno wies darauf hin, dass Theorien immer von Herrschafts-interessen verschleiert seien.

[10] Kuhns Hinweis auf die Immunität von Theorien (Paradigmen) trotz deren empirischer Fal­sifikation in nor­malwissenschaftlichen Epochen richtet sich auch gegen die unkritische Hal­tung von Forschern (vgl. Breuer, 1991, S.176).

[11] Ich hatte immer stärker das Gefühl, als Lehrerin höchstens "Trainer guter Einzelanlagen als Anbieterin einer wirklich relativ festen Beziehung zu sein" (Schubenz, 1993, S.288), ob­wohl gerade an der Gesamtschule der Bedarf für letzteres besonders augenfällig war. Auch eine Weiterbildung im Fach Darstellendes Spiel und Fortbildungen u.a. im Kreativen Schrei­ben konnten (als "Feigenblattfächer") nach meiner Erfahrung höchstens die Spitze eines Eis­bergs zum Schmelzen bringen. Meine Arbeit hatte in der Tat nicht viel mit der Verwirklichung des Prinzips Mütterlichkeit zu tun.

[12] Das Institut, an dem ich ausgebildet worden bin, ist kein von den Krankenkassen aner-kanntes, da sich unter den Lehranalytikern kein Mediziner befindet. Dies scheint mir im Nachhinein eher ein Vorteil zu sein: einige Seminare, die ich auf einem Kongress der Deut-schen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) besuchte, sind mir in unangenehmer Erinnerung geblieben durch die am Medizinmodell orientierte Vorgehensweise ihrer Leiter.

[13] Als Psychiater trug er mit seinem negativen Gutachten zur Ablehnung von Adlers Habilitationsschrift "Über den nervösen Charakter" (1912) bei, mit der Begründung, Adlers Methode sei wie die Freuds Spekulation und Intuition. Dadurch blieb Adler die akademische Laufbahn an der Medizinischen Fakultät in Wien versagt.

[14] Ich denke dabei immer an die beiden IP-Institute von Sperber und Künkel, die m.E. Parallelen zum PI und IfP aufweisen.

[15] Es stammt aus der Vorlesung von S. Schubenz "Klinische Psychologie/Psychotherapie" vom 17.1.96.

[16] "Was uns Individualpsychologen jene Sicherheit in der theoretischen Entwicklung unserer Anschauungen und in unserer Praxis gibt, ist u.a. ein wenig vermerkter Tatbestand: jeder Schritt nach vorwärts hat sich folgerichtig aus unseren Grundanschauungen ergeben. Es war bisher nicht nötig geworden, irgend etwas an unserem Gebäude zu ändern, oder dieses zu stützen mit Anschauungen anderer Art" (Adler, 1912, 1972, S.29).

Fortsetzung der Fußnoten von S.26

[17] Diese Kontinuität im Wandel findet ihren Ausdruck auch im Konzept des Lebensstils. Er wird vom Indivi­duum in den ersten Jahren ausgebildet. Nach Festlegung des Ziels der Überlegenheit geht Adler von einer ein­heitlichen und stabilen, wenn auch mithilfe der schöpferischen Kraft veränderbaren Persönlichkeitsstruktur aus.

[18] Hierbei geht es um die unterschiedliche Einschätzung des "jungen" bzw. "alten" Adler.

[19] Der Begriff "Identität" ist bei Adler nicht zu finden. Die persönliche Erkenntnis, von Tag zu Tag, durch Lebensabschnitte hindurch der Gleiche zu sein, setzt die Vorstellung von sich selbst und seinen Lebensbezügen in Vergangenheit und Zukunft voraus. Möglicherweise hätte Adler die unübersehbare Identitätssuche heutiger Individualpsychologen als neurotisch empfunden.

[20] Hierbei stellt Adler in meiner Phantasie die Mutter dar und Freud den geschiedenen Vater. Zu letzterem wird nach gescheiterter Ehe der Eltern und nach langer Zeit der Kontakt vom

Fortsetzung der Fußnote von S.28

fast erwachsenen Kind wieder gesucht. Naturgemäß trägt es in dieser Situation viele übersteigerte Erwartungen und unverarbeitete Ängste mit sich und stößt auch nicht nur auf Gegenliebe bei den beim Vater verbliebenen Geschwistern.

[21] In der Wissenschaft sollten abweichende Meinungen eher zum Dissens, nicht aber zur Dissidenz führen. Cremerius (1982) hat aus Psychoanalytikersicht einen lesenswerten Beitrag zu der Rolle der Dissidenten für die Psychoanalyse verfasst.

[22] Ellenberger (1985) hat die unterschiedlichen Persönlichkeiten sehr anschaulich herausgearbeitet.

[23] s. Cremerius, 1992, S.37.

[24] s. Bruder-Bezzel, 1991, S.234.

[25] 1996 fand in Oxford der 20. Internationale Kongress der IP statt - ein gutes Omen für eine Annäherung von Psychologie und einer der ältesten Psychotherapieschulen?

[26] Bruder-Bezzel (1991, S.80) merkt allerdings an, dass es im wesentlichen deutsch-österreichische Kongresse waren.

[27] Er verweist dabei auf Adlers Ausschluss von Allers und Schwarz Ende der 20er Jahre, auf seinen Bruch mit Künkel in Berlin und seinen Ausschluss linker Individualpsychologen um Rühle-Gerstel und Sperber in den 30er Jahren.

[28] In Österreich war die Lage etwas anders. Obwohl die Psychoanalytiker und die Individualpsychologen nach dem Krieg ihre eigenen Vereinigungen wieder restaurierten, blieb dort die IP in das wissenschaftliche Leben der Universitäten eingebunden. In der Notgemeinschaft während des Krieges hatten Psychoanalytiker und In­dividualpsychologen eine Arbeitsbasis gefunden, in der jeder den Erkenntnissen seiner Schule treu bleiben konnte und affektive Kämpfe um die "richtige" Lehre zugunsten von Anregungen und gemeinsamen Diskussionen in den Hintergrund traten (vgl. hierzu Schmidt, 1987a, S.251f). Gegenwärtig veröffentlichen Wiener Individualpsychologen mit Psychoanalytikern in psychoanalytischen Publikationsorganen, 1990 kam es zu kooperativen Ausbildungsseminaren (vgl. hierzu Datler, 1991b, S.33 f).

[29] Seeger wurde von der späteren DGIP als Diplompsychologe weitgehend ignoriert (L. Ackerknecht, persönl. Mitteilung).

[30] Er ist Diplompsychologe, absolvierte eine Lehranalyse bei Dreikurs und Alexander Müller, die beide direkte Adler-Schüler waren. Von 1964-1981 und 1986-1991 war er 1.Vorsitzender des Alfred Adler Instituts in Zürich.

[31] Mit dieser Behauptung setze ich mich, da sie eine inhaltliche theoretische Auseinanderset-zung erfordert, an anderer Stelle auseinander (s. 4.).

[32] U.Lehmkuhl ist seit 1987 1.Vorsitzende der DGIP.

Ende der Leseprobe aus 201 Seiten

Details

Titel
Alfred Adlers Individualpsychologie heute. Eine Weiterentwicklung in Theorie und psychotherapeutischer Praxis?
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
1996
Seiten
201
Katalognummer
V64293
ISBN (eBook)
9783638571531
ISBN (Buch)
9783638669917
Dateigröße
1504 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Diplomarbeit (ursprünglich von 1996) ist aktualisiert: im Februar 2000 habe ich im Kapitel 7.3 Ergänzungen eingefügt, die sich auf das erst 1999 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz beziehen.
Schlagworte
Alfred, Aldlers, Individualpsychologie, Eine, Weiterentwicklung, Theorie, Praxis
Arbeit zitieren
Dipl.-Psych. Renate Schallehn (Autor:in), 1996, Alfred Adlers Individualpsychologie heute. Eine Weiterentwicklung in Theorie und psychotherapeutischer Praxis?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64293

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