Pierre Teilhard de Chardin und Jean-Paul Sartre. Zwei Philosophen in der Tradition des Humanismus?


Seminararbeit, 2006

39 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Teilhard de Chardin
2.1 Herausbildung der Grundzüge seiner Philosophie in Zusammenhang mit seiner Biografie
2.2 Teilhards Anthropologie
2.2.1 Die Entstehung des Menschen im Rahmen der Evolution
2.2.1.1 Kosmogenese und Biogenese
2.2.1.2 Psychogenese
2.2.1.3 Noogenese
2.2.2 Die moderne Erde
2.2.3 Zukunftsentwürfe
2.2.3.1 Die Konvergenz des Persönlichen
2.2.3.2 Christogenese
2.2.4 Teilhards Menschenbild

3 Jean-Paul Sartre
3.1 Herausbildung der Grundzüge des Existentialismus im Zusammenhang mit Sartres Biografie
3.2 Sartres Existentialismus
3.2.1 Die zwei Typen des Seins
3.2.2 Atheismus
3.2.3 Moral
3.2.4 Der Mensch
3.2.5 Der Andere
3.2.6 Die Freiheit

4. Teilhards und Sartres Menschenbild – ein zusammenfassender Vergleich

5. Einordnung der Konzepte in die Tradition des Humanismus

1. Einleitung

L'existentialisme est un humanisme postuliert der französische Philosoph Jean Paul Sartre program-matisch im Titel seines 1945 verfassten Essays, der in engem Zusammenhang mit seinem 1943 pub-lizierten Hauptwerk L'être et le néant steht, dessen Hauptthesen der Essay popularisieren und gegen Einwände unterschiedlichster Gegner verteidigen soll. Der Existentialismus zeige „überall das Schäbige, Trübe und Klebrige (...) und (vernachlässige) die Lichtseiten der menschlichen Natur“[1], er sei eine bürgerliche, von der reinen Subjektivität ausgehende Philosophie, kritisieren Kommunisten, und mache den Menschen handlungsunfähig und unfähig zur Solidarität; außerdem, so bemängelt man schließlich von christlicher Seite, mangele es ihm an einem Wertesystem und er propagiere die Beliebigkeit menschlichen Handelns. Sartre hingegen betont, dass gerade der atheistische Ansatz-punkt seiner Philosophie, der im Hinblick auf den Menschen, der alle Sicherheiten verloren habe und alles Vertrauen darin, dass der Welt ein Sinn eigne, dazu führe, dass man „von der Subjektivität ausgehen (müsse)“.[2] Es gebe „keine optimistischere Lehre, da das Schicksal des Menschen in ihm selbst (liege)“.[3] So sei diese Theorie, die in der Forschung häufig als „Theorieentwurf der menschli-chen Freiheit gedeutet wird“[4], „die einzige, die dem Menschen Würde (verleihe)“.[5]

Ebenfalls in der Tradition des Humanismus sieht sich ein völlig andere Ideen entwickelnder franzö-sischer Philosoph, Naturforscher und Theologe, der Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin[6], der in seinem etwa zeitgleich mit Sartres Essay entstandenen Hauptwerk Le phénomène humaine nicht von einem philosophischen Ansatzpunkt ausgeht wie Sartre, sondern von einem naturwissenschaftli-chen: „Der Mensch kann nur begriffen werden, indem man von der Physik, der Chemie, der Biolo-gie und der Geologie wieder emporsteigt. Mit anderen Worten, er ist zunächst ein kosmisches Phä-nomen.“[7] Entsprechend dieser These geht Teilhard unter schrittweiser Darstellung der Evolution des Universums der Frage nach, wie die Menschheit entstanden sei und welchem Ziel sie zustrebe. Da-bei geht es ihm nicht darum, eine erschöpfende Theorie des Menschen zu geben, sondern er möchte, wie bereits der Titel des Buches verdeutlicht, „ganz einfach den Menschen in seiner Erscheinung festhalten“[8]. Dieser könne nach den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaft nicht mehr als „der unveränderliche Mittelpunkt einer schon vollendeten Welt (angesehen werden), dafür aber, soweit unsere Erfahrung reicht, (als) die Spitze in der Entwicklung des Universums, das sich auf dem Wege zu einer immer rascheren Steigerung der Komplexität der Materie und zugleich zu einer stetig zunehmenden geistigen Verinnerlichung befinde.“[9] Diese Aussage impliziert bereits Teilhards grundsätzlichen philosophisch-theologischen Ansatzpunkt, die Welt nicht nur von der Außenseite her zu betrachten, wie die Naturwissenschaft dies bisher getan hat, sondern „der Innenseite der Din-ge ebenso wie ihrer Außenseite gerecht zu werden (...), - dem Geist ebenso wie der Materie. (Denn) die wahre Physik ist jene, der es eines Tages gelingen wird, den Menschen in seiner Ganzheit in ein zusammenhängendes Weltbild einzugliedern.“[10] Als Priester geht Teilhard schließlich noch einen Schritt weiter und versucht, „eine radikale Vergegenwärtigung der christlichen Botschaft, d.h. für ihn (...) ihre Übersetzung in das Weltbild der Evolution“.[11]

Fragt man sich nach grundlegenden Gemeinsamkeiten in diesen auf den ersten Blick doch sehr unterschiedlichen anthropologischen Entwürfen, so fällt vor allem die zentrale Rolle auf, die dem Humanen in beiden Weltanschauungen zugewiesen wird. Hierin liegt wohl der Grund dafür, dass sowohl Sartre als auch Teilhard ihre Weltanschauungen als Humanismus bezeichnet haben. Doch drängt sich hierbei gleich ein etymologisches Problem auf: „Das Wort Humanismus (,urspünglich) als Bezeichnung einer historischen Bewegung und eines mit der Renaissance in Verbindung stehen-den geistigen Phänomens verwendet (...), ist vieldeutig und in verschiedenem Sinn gebraucht wor-den, um eine Anzahl Bewegungen, die eine stark anthropozentrische Komponente enthalten, zu be-schreiben.“[12] So fasst man darunter rationalistische und humanitäre Gedanken der Aufklärungszeit ebenso wie „den sogenanten zweiten Humanismus Wilhelm von Humboldts und seiner Zeitgenos-sen“[13], das Denken der marxistischen Sozialisten ebenso wie verschiedene philosophische Bewe-gungen im 20. Jahrhundert, beispielsweise Sartres Existenzphilosophie. „Schließlich ist der Begriff ohne Unterschied auf jede Art Hochschätzung menschlicher Werte angewandt worden und wird nicht selten mit einer humanitären Gesinnung verwechselt.“[14]

Für eine präzise Verwendung des Begriffs im Rahmen dieser Arbeit muss zunächst einmal die An-thropologie Teilhards und Sartres in ihren wesentlichen Grundzügen dargestellt werden, wobei Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden müssen. Im Anschluss daran soll das ihnen zugrunde liegende Humanismusverständnis erarbeitet werden .

Da das Werk beider Philosophen sehr umfangreich ist, ist eine inhaltliche Beschränkung notwendig. Im Hinblick auf Teilhard werde ich mich auf die philosophisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren, die theologisch-mystischen Schriften hingegen weitgehend außer Acht lassen; Sartres Gedanken sollen anhand seines Essays Der Existentialismus ist ein Humanismus und einiger Auszü-ge aus seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts und anhand einiger Zitate aus literarischen Wer-ken verdeutlicht werden.Die Beschäftigung mit seinen späteren Bestrebungen, den Existentialismus dem Marxismus einzuordnen, würde den – sowieso schon breiten – Rahmen dieser Arbeit sprengen.

2. Teilhard de Chardin

2.1 Herausbildung der Grundzüge seiner Philosophie in Zusammenhang mit seiner Biografie

„Es gibt eine Gemeinschaft mit Gott und eine Gemein-schaft mit der Erde und eine Gemeinschaft mit Gott durch die Erde.“ Teilhard de Chardin

Marie-Joseph Teilhard de Chardin wurde am 1.Mai 1881 als viertes von elf Kindern auf Schloss Sarcenat bei Clermont-Ferrand geboren. Beide Eltern beeinflussten ihn grundlegend: die Mutter durch ihre religiös-katholische Erziehung und ihre Liebe zu Gott, besonders zum Herzen Jesu,[15] der Vater, ein Landadeliger, in seiner Liebe zur Natur. „Beide Züge, der Sinn für das Christliche und der Sinn für das Kosmische, sollten sich zu Teilhards religiös-intellektueller Weltanschauung ent-falten und verbinden.“[16]

Schon früh wurde seine religiöse Erziehung dadurch vertieft, dass er bereits mit elf Jahren als Schü-ler in ein Jesuitenkolleg kam, dann mit achtzehn Jahren in den Jesuitenorden eintrat und schließlich 1911, mit dreißig Jahren, zum Priester geweiht wurde.Wenig später entstanden seine Schriften, in denen er seine Christus-Erlebnisse festhielt: Christus in der Materie (1916), Die geistige Potenz der Materie (1919) und Die Messe über die Welt (1923). Bereits die Titel deuten darauf hin, dass seine spirituellen Erfahrungen nicht jenseits der Materie angesiedelt sind, sondern diese zum Erlebnishin-tergrund haben. „Teilhard erfindet nicht die Geistigekit der Materie, sondern er erlebt sie. Er erfährt unmittelbar, wie Christus die Materie vergeistigt und verklärt.“[17] Daneben verfolgte er seine natur-wissenschaftlichen Interessen. Schon als Kind sammelte er Steine, züchtete Raupen und beobachte-te Sterne; ein Jahr nach seiner Priesterweihe begann er ein Studium der Geologie und Paläontologie in Paris. Unmittelbar zuvor hatte ein für seine spätere Philosophie grundlegender Gedanke von ihm Besitz ergriffen: der Schritt vom Verstehen des Seins der Natur zum Verständnis des Werdens aller Kreatur; „mit Zwangsläufigkeit (durchdrang ihn) der damals noch so stark umkämpfte Gedanke der Evolution aller unorganischen und organischen Wesen“.[18] Dass diese Idee bei ihm nicht wie bei vielen der damaligen Naturforscher zu einer Ablehnung der christlichen Lehre führte, sondern zu einem „spiritualistischen Evolutionismus“[19], gekennzeichnet durch die funktionelle Einheit von Ma-terie und Geist, ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass er durch Henri Bergson auf dieses Ideen-gut gestoßen ist, der „eine Versöhnung der gegensätzlichen Auffassungen von Schöpfung und Ent-wicklung (...) herbeizuführen (suchte)“.[20] „Die Verbindung der Christologie, wie sie dem Dogmen-gebäude der römischen Kirche zugrunde liegt, mit der Lehre von Lyell, Huxley und Darwin konnte Bergson (aber) nimmermehr herstellen. (...) Um so mehr wurde dies zum Lebensthema Pierre Teil-hard de Chardins“[21], der sich damit auf eine lebenslängliche Gratwanderung begab, umgeben von der „Gefahr (...), von beiden Seiten als Ketzer, Häretiker und Verräter angesehen zu werden“.[22]

Nach vierjährigem Kriegsdienst vertiefte er seine wissenschaftliche Laufbahn, indem er promovier-te, 1922 außerordentlicher Professor für Geologie am Institut Catholique in Paris wurde und 1923 /24 seine erste Forschungsreise unternahm, der seit 1926 bis zu seinem Tod im Jahr 1955 weitere Jahrzehnte dauernde Reisen nach China, Afrika, Indien, Java, Birma und die USA folgten, verur-sacht durch Berufs- und partielle Publikationsverbote seines Ordens. Im Laufe dieser Jahre reifte er zu einem Forscher von internationalem Rang, dessen Weltbild sich mehr und mehr vervollkommne-te In dem zwischen 1938 und 1940 entstandenen Buch Le Phénomène Humaine, das postum 1955 veröffentlicht wurde und seinen Verfasser in der Welt bekannt machte, gab „Teilhard dem Grund-impuls seines Lebens literarischen Ausdruck“.[23] Alle zentralen Elemente seiner Philosophie sind hier bereits zum Ausdruck gebracht: „die Einheit von Gottes- und Weltwirklichkeit, ferner ihr dyna-misches Verständnis, ihre Prozesshaftigkeit sowie die Zugehörigkeit von Natur- und Heilsgeschich-te.“[24] Daher soll dieses Werk im Zentrum der folgenden Untersuchung über Teilhards Anthropologie stehen.

2.2 Teilhards Anthropologie

"Der Mensch ist nicht, wie er so lange geglaubt hat, fe-

ster Weltmittelpunkt, sondern Achse und Spitze der

Entwicklung – und das ist viel schöner."

Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos

Der Ausgangspunkt von Teilhards Anthropologie ist die These, dass der Mensch Teil des gesamten Seins ist, dass er „der Natur wahrhaft als eine Tatsache angehört und als solche (zumindest teilwei-se) den Ansprüchen und Methoden der Naturwissenschaften unterliegt“[25] und evolutiv mit der Ent-wicklung des Kosmos und des Lebens verbunden ist. Dennoch ist er aufgrund seines Ich-Bewusst-seins, der Fähigkeit, zu „wissen, dass man weiß“[26], ein vom Tier qualitativ verschiedenes Wesen. Will man ihn richtig verstehen, so ist es nach Teilhard zunächst einmal notwendig, den Blick zurück in die Vergangenheit zu richten, um Entstehen und Werden des Menschen im Rahmen der gesamten Kosmogenese zu verfolgen, in der er mit seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten bereits keimhaft enthalten ist. Aus dieser „Flugbahn in die Vergangenheit“[27], so Teilhard, ergäbe sich mit Notwen-digkeit die gegenwärtige Stellung des Menschen in der Welt, die gekennzeichnet ist durch „die größte Breite, die reichste Mannigfaltigkeit an irdischen, d.h. materiellen, psychischen und geistigen Möglichkeiten“.[28] Die „Kurve des Phänomens Mensch“[29] erstrecke sich aber noch weiter, nämlich in die Zukunft hinein. Teilhard schließt nun noch eine visionäre Beschreibung dessen an, „was des Menschen Bestimmung und Anspruch“[30] sei: die materielle Energie mit Hilfe der psychisch-geisti-gen zu überhöhen und so der gesamten Evolution eine Wendung ins rein Geistige zu geben, so dass sie auf den Punkt Omega, auf Christus, zustreben und ins Göttliche münden könne. So ist der Mensch im doppelten Sinne Achse der Evolution: einmal als Längsachse, die von den Uranfängen des Kosmos bis zum Ende der Zeiten reicht, und einmal als Dreh- und Angelpunkt der grundlegen-den Wende innerhalb der Evolution.

Bevor diese drei Entwicklungsphasen der Menschheit genauer betrachtet werden, soll noch ein kur-zer Blick auf Teilhards Methode geworfen werden. Sein Ausgangspunkt ist der des Naturwissen-schaftlers, doch lässt er die materialistisch-mechanistische Naturwissenschaft bereits dann hinter sich, wenn er die Spuren des Geistes selbst in der unbelebten Materie postuliert. „Es ist eine mysti-sche Schau, in der Teilhard diese Einsicht zuteil wird, - doch anders als durch mystische Erfahrung ist das Inwendige der Welt, ihre innere Energie, nicht zugänglich.“[31] Somit offenbart er sich als Mensch der Synthese, der eine Zusammenschau alles Existierenden in einer Welt leisten will, eine „Vereinigung des naturwissenschaftlichen Menschenbildes mit dem theologischen, der Weltlichkeit mit der Spiritualität, der Wissenschaftlichkeit mit der Religion“.[32]

2.2.1 Die Entstehung des Menschen im Rahmen der Evolution

2.2.1.1 Kosmogenese und Biogenese

Teilhard gliedert die Evolution in drei große Phasen: die prävitale, die sich vom Uranfang an bis zum Erscheinen des Lebens erstreckt, die vitale, die bis zum Auftreten des Menschen reicht, und die reflektive, die letzte, die Anthropogenese vollendende Entwicklungsphase.[33]

Am Beginn der prävitalen Evolutionsphase stehe die Kosmogenese, die mutmaßliche Entstehungs-geschichte der Materie und des Kosmos. Eine monistische Tradition zugrunde legend, führt Teil-hard alles Werden auf einen einheitlichen Weltstoff zurück. Diese Geist-Materie in der Urform be-zeichnet er als „Urstoff“[34], dessen Grundlage Energie sei. Diese stellt sich Teilhard in zweifacher Form dar: als physische oder tangentiale Energie einerseits, die die Materie schaffe und so divergie-rend, vermehrend, vervielfachend wirke und identisch sei mit der Energie, die Physik und Chemie erforschen und deren Gesetze sie mathematisch formulieren können; und als psychische oder radiale Energie andererseits, die vereinigend wirke und im Bereich der reinen Materie naturwissenschaft-lich nicht greifbar sei.[35] Durch ihr dialektisches Zusammenwirken entständen materielle Gebilde und entwickelten sich weiter. Dies geschehe folgendermaßen: Motor sei die primäre radiale Energie, die sich verwirklichen wolle und daher die tangentiale zur Materialisation antreibe und jedes Ele-mentarteilchen zu einem immer komplexeren und zentrierteren Zustand hintreibe, um so selbst im-mer reiner, ungebundener und freier hervortreten zu können. Das Elementarteilchen geselle „sich den benachbarten Teilchen zu und folglich, (da seine Zentriertheit dadurch automatisch wachse) steigere es entsprechend seine radiale Energie. Diese werde nun ihrerseits auf tangentialem Gebiet in Gestaltung einer Neuordnung wirksam werden und so weiter.“[36] So verlaufe die Evolution in Zeit und Raum nach dem Prinzip steigender Komplexität. Das Leben selbst sei nur Mittel zum Zweck für die psychische Energie, die auf einen Bewusstwerdungsprozess hinziele: „Sie strebt danach, sich im Bewusstsein, ja im Selbstbewusstsein zu verwirklichen: sie ist geistiger Natur.“[37] Und mehr noch: Da „der Geist bzw. die Psyche (...) vereinigend (wirke), (...) (strebe) er schließlich auf ein letztes, alle vereinigendes Zentrum hin und führe somit die Welt zu Gott.“[38]

Mit dem Erscheinen der ersten Zellen, also des ersten Lebens auf der Erde[39], trete die Evolution, für den heutigen Menschen aber nicht mehr sichtbar, in ein qualitativ neues Stadium,: in die vitale Pha-se, die Teilhard auch Biogenese nennt . Diese werde nicht etwa eingeleitet durch einen Schöpfungs-akt, wie die traditionsgebundene Theologie dies erkläre, sondern durch einen immanenten Prozess. Die im Unbelebten latent wirkende psychische Energie gelange zum Durchbruch, indem sie, nach vollbrachter Materialisation, etwas Überschuss behalte. So entstehe ein „Spielraum für eigenpsychi-sche Äußerung, eventuell sogar Tätigkeit (...). Die Zelle als Trägerin des Lebens sei bereits des psy-chischen Lebens fähig, freilich in der allerprimitivsten Form.“[40] Sei einmal das Leben auf der Erde erschienen, so beginne es sich auszubreiten und zu entwickeln. Entsprechend dem Grundprinzip alles Werdens, der Orthogenese, wiesen die aufeinanderfolgenden Gebilde eine ständig steigende Komplexität und Zentralisierung auf, die psychische Energie werde zunehmend dominanter, steuere die Entwicklung in zunehmendem Maße[41] und zahlreiche Phylen entständen als Manifestation einer Art kollektiver Psyche[42]: „Keine am Boden dahinkriechende Sinuskurve mehr, sondern eine Spirale, die sich kühn in die Höhe schraubt! Von einer zoologischen Schicht zur anderen gibt es ein Werden und sprunghaftes Wachsen, das rastlos in dieselbe Richtung drängt. Dies ist auf dem Gestirn, das uns trägt, das wirklich Wesentliche.“[43] So verlängere sich die Achse der Kosmo- und Geogenese durch die Biogenese nun in die Psychogenese hinein. Bedingt durch die Ausbreitung des Lebens auf der Erde entstehe eine neue Hülle, die Biosphäre, die sich, ebenso wie das Leben selbst, in dauern-der Entwicklung befinde.

2.2.1.2 Psychogenese

Im Pliozän dann komme die Entwicklung des Lebens an ihren zweiten Wendepunkt: „Geheimnis-voll wie das Erscheinen des Lebens auf der Erde ist auch das Auftreten des Menschen in der Evolu-tion“[44] In Afrika, so vermutet Teilhard, befinde sich die Wiege der Menschheit, die sich aus der Gruppe der Primaten durch Rückgang des Instinks bei gleichzeitiger Ausbildung des Gehirns ent-wickelt habe. „Der Mensch, soweit es der heutigen Wissenschaft gelingt ihn zu erfassen, ist ein Tier unter anderen (...) und zugleich unglaubliche Erschütterung der Lebenssphären“[45], denn die morpho-logische bzw. rein biologische Betrachtungsweise reiche nicht aus um aufzuzeigen, dass im Men-schen das Bewusstsein eine völlig neue, qualitativ andere Stufe erreiche als bei allen anderen bisher existierenden Lebenwesen: die des „Ichbewusstseins“.[46] Der Mensch sei nicht nur fähig zu reflektie-ren, was z.B. In der Erfindung des Werkzeugs zum Ausdruck komme, und seine Denkfähigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu steigern, sondern „vom Standpunkt der Erfahrung (...) (sei) das Ich-Bewusstsein, seinem Wortsinn entsprechend, die von einem Bewusstsein erworbene Fähigkeit, sich auf sich selbst zurückzuziehen und von sich selbst Besitz zu nehmen, wie von einem Objekt (...): nicht mehr nur kennen, sondern sich kennen; nicht mehr nur wissen, sondern wissen, dass man weiß. Durch diese Individualisierung seiner selbst auf dem Grund von sich selbst findet sich das le-bende Element, das sich bisher ihn einem weitläufigen Kreis von Wahrnehmungen und Tätigkeiten zerstreute und verteilte, zum ersten Mal als punktförmiges Zentrum, in dem sich alle Vorstellungen und Erfahrungen verknoten und in einer bewussten Gesamtorganisation festigen.“[47]

„Die Persönlichkeit (entstehe) in und durch die Personalisierung.“[48] Dieselbe psychische Energie, die die Natur geschaffen habe, arbeite nun im Menschen weiter, so Teilhard. Nur erscheine sie nun nicht mehr als Art verändernde oder Art hervorbringende Kraft, auch nicht mehr als unmittelbar gebundener Instinkt, sondern als Intelligenz.

[...]


[1] Sartre, Existentialismus, S.145

[2] ebd., S.148

[3] ebd., S.164

[4] Meyer, S.437

[5] Sarte, Existentialismus, S.165

[6] vgl. seine bei Hemleben zitierten Äußerungen, in denen er sein Denken als „Neohumanismus“ (S.153) bezeichnet, als wissenschaftlich fundierte „Idee des Fortschritts“ (S.138) in der Tradition „sowohl des Humanismus als auch des Christentums“ (ebd.) stehend, dem er eine Rettungsfunktion für die Zukunft der Erde und der Menschheit zuschreibt.

[7] Teilhard, zit. bei: Cuénot, S.618

[8] Teilhard de Chardin, EdM, S.10

[9] ebd.

[10] ders., MiK, S.22

[11] Daecke, S.29

[12] Spitz, S.639

[13] ebd.

[14] ebd.

[15] Cuénot, S.50, weist darauf hin, dass das ganze Leben Teilhards „eine Explizierung seiner Frömmigkeit Christus gegenüber sein (werde) und dieses (...) Organ, das Herz Jesu ,(...) durch seine Strahlung vergrößert zu dem unwandelbaren Zentrum des ganzen Kosmos (werde)“.

[16] Gläßer, S.13

[17] Gosztonyi, S.196. Teilhards Christologie stützt sich dabei auf das Johannes-Evangelium, vor allem aber auf die Paulus-Briefe, besonders Kol 1,15-20; und Eph 1,9-23.

[18] Hemleben, S.35

[19] Cuénot, S.85

[20] Hemleben, S.35

[21] ders., S.39

[22] ders., S.42

[23] Hemleben, S.125

[24] Daecke, S.29

[25] ebd., S.21

[26] ebd., S.165

[27] ebd., S.21

[28] Gosztonyi, S.70

[29] Teilhard, MiK, S.21

[30] ebd., S.17

[31] ebd., S.19

[32] Gosztonyi, S.26

[33] Diese Unterscheidungen sind zwar als Arbeitsmittel hilfreich, jedoch sind sie insofern lediglich formal, als sie nur ein kontinuierliches psychisches Milieu zerteilen, das derselben allgeminen Transformation unterworfen ist.

[34] Teilhard, MiK, S.28

[35] Das bedeutet, dass sich das einheitliche Prinzip, sobald es in den Aufnahmeradius menschlicher Erfahrungsmöglich-keit gerät, als doppeltes Prinzip erweist. Gosztonyi betont deshalb, Teilhards Konzeption sei „also der Intention nach monistisch, in der praktischen Entfaltung jedoch dualistisch. Man (...) (könne) sie einen dynamischen Monismus nennen.“ (a.a.O., S.228)

[36] Teilhard, MiK, S.54f.

[37] Gosztonyi, S.50f. Eine begriffliche Unterscheidung zwischen Psyche und Bewusstsein trifft Teilhard nicht.

[38] ebd., S.230

[39] zur genaueren Beschreibung des Vorgangs vgl. Teilhard, EdM, S.28ff. Wie die biologischen Vorgänge sich im Einzelnen abspielen, kann und soll im Rahmen dieser Arbeit nicht genauer beschreiben werden.

[40] Gosztonyi, S.65

[41] Ein Beispiel hierfür wäre, dass Teilhard entgegen der traditionellen wissenschaftlichen Auffassung sagen würde, dass die Raubtierseele ein Tier veranlassen würde, seine Klauen zuzuspitzen und seine Fangzähne zu verlängern, nicht umgekehrt (vgl. Teilhard, MiK, S.150).

[42] vgl. die Darstellung dieser Phylen in Form eines Lebensbaums, den Teilhard von L. Cuénot übernimmt,in MiK, S.133

[43] ebd., S.147

[44] Gosztonyi, S.91

[45] Teilhard MiK, S.163

[46] ebd., S.165

[47] ebd.,

[48] ebd., S.173

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Pierre Teilhard de Chardin und Jean-Paul Sartre. Zwei Philosophen in der Tradition des Humanismus?
Hochschule
Universität Bremen  (FB Religionswissenschaft)
Veranstaltung
Seminar: Ist Gott tot? Kritische Theorie der Religion
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
39
Katalognummer
V64076
ISBN (eBook)
9783638569736
ISBN (Buch)
9783638725132
Dateigröße
818 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Überblick über Teilhards Anthropologie im Rahmen seines naturwissenschaftlichen Werks im Vergleich zu Sartres Existentialismus
Schlagworte
Pierre, Teilhard, Chardin, Jean-Paul, Sartre, Zwei, Philosophen, Tradition, Humanismus, Seminar, Gott, Kritische, Theorie, Religion
Arbeit zitieren
Hildegard Herzmann (Autor:in), 2006, Pierre Teilhard de Chardin und Jean-Paul Sartre. Zwei Philosophen in der Tradition des Humanismus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/64076

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