Delinquenz bei Jugendlichen


Studienarbeit, 2006

29 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsbestimmung

3. Soziologische Aspekte delinquenten Verhaltens
3.1 Statistische Daten
3.2 Labeling Approach
3.3 Anomietheorie
3.4 Theorie der differentiellen Kontakte

4. Psychologische Theorien delinquenten Verhaltens
4.1 Entwicklungspsychologische Ansätze
4.2 Psychoanalytische Ansätze
4.2.1 Neurotisch bedingte Delinquenz
4.2.2 Durch Verwahrlosung bedingte Delinquenz
4.3 Individualpsychologische Ansätze
4.4 Lerntheoretische Ansätze
4.5 Konzept der Selbstkontrolle

5. Handlungsrelevanz für die Sozialarbeit

6. Prävention delinquenten Verhaltens

7. Literaturliste

1. Einleitung

Aggressivität, Gewalt und Kriminalität von Kindern und Jugendlichen sind wie nie zuvor Gegenstand der öffentlichen Diskussion und scheinen die Probleme unserer Gesellschaft wieder zu spiegeln.

Das Jugendalter wird von Entwicklungspsychologen wie auch Sozialwissenschaftlern als Übergangsphase oder auch als Entwicklungsabschnitt der Konflikte und Krisen bezeichnet. Der Jugendliche befindet sich an der Schwelle zur autonomen Partizipation am gesellschaftlichen Leben. Veränderungen auf biologischer Ebene gehen mit interpersonellen Beziehungs- und sozialen Statusveränderungen einher. In diesem fortschreitendem Übergang in das Erwachsenenalter ergeben sich neuartige Handlungsanforderungen und Handlungsmöglichkeiten, damit aber auch neue Gefahren scheiternder Entwicklung. Jugend ist eine Phase mit anspruchsvoller Anforderungsstruktur, die die Ausbildung situationsadäquater Bewältigungsstrategien abverlangt.

Die Kluft zwischen den Erwachsenen und den Heranwachsenden scheint zu diesem Zeitpunkt oft so groß zu sein, so dass ein gegenseitiges Verstehen nicht mehr möglich erscheint. Jugendliche bilden sich eigene Werte und Normen, wollen sich absetzen von den Eltern, der Gesellschaft und ihr „eigenes Ding durchziehen“. Auferlegte Normen und Werte werden als unerträgliche Zwänge empfunden, aus denen es auszubrechen gilt. Nicht selten werden hierbei gesellschaftliche Normen verletzt und es kommt zu delinquentem Verhalten.

Verschiedene Untersuchungen belegen, dass die Delinquenz nicht nur in ihrem Auffälligkeitsgrad unterschiedlich ist, sondern auch in ihrer Art und Häufigkeit mit dem Alter variiert. Bei den 16- bis 20-jährigen erreicht die Kriminalitätsbelastung ihren Höhepunkt und fällt danach kontinuierlich ab. Zudem sind Mädchen kriminell weniger auffällig als Jungen.[1]

Der Wunsch, die Ursachen von delinquentem Verhalten zu bestimmen ist groß, die Entstehung lässt sich aber nur schwer feststellen und sich keinesfalls auf nur eine Bedingung zurückführen. Die frühere Auffassung, Verhaltensstörungen und somit auch Delinquenz als eine krankhafte und individuelle Eigenschaft zu sehen, musste der Annahme weichen, dass Verhaltensstörungen als ein Ergebnis negativer Einflüsse gesehen wird. Verhalten ist niemals an sich abweichend, sondern steht immer in Zusammenhang der Bezugsvariablen des Verhaltens, des Beobachters und des sozialen Kontexts, somit der Gesellschaft.

Soziologische Aspekte delinquenten Verhaltens als auch psychologische Theorien delinquenten Verhaltens sind unerlässlich, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die kriminalbiologischen Theorien sind sicher auch ein wichtiger Teil, um kriminelles Verhalten zu erklären, sollen aber hier nicht erörtert werden. Auch würden rechtliche Ausführungen und Maßnahmen den Rahmen dieser Arbeit überziehen. Diese genannten Betrachtungsweisen bilden die Grundlage, um delinquentes Verhalten zu verstehen.

Wichtig scheint mir jedoch nicht nur das bloße Erklären und Verstehen von delinquentem Verhalten, sondern vielmehr die Suche nach Möglichkeiten einer Prävention, die nicht nur den/die SozialarbeiterIn einbezieht, sondern gerade den Jugendlichen selbst. Das Ziel sollte sein, Handlungsmöglichkeiten und Alternativen anzubieten und somit Chancen aufzuzeigen. Hiermit möchte sich diese Arbeit auseinandersetzen.

2. Begriffsbestimmung

In folgendem Abschnitt möchte ich mich mit den Begriffen Devianz, Delinquenz und Verhaltensstörung auseinandersetzen und ihren Zusammenhang verdeutlichen.

Die Devianz wird auch als abweichendes Verhalten oder Abweichung von der Norm bezeichnet. Als deviant gilt somit ein Verhalten, das mit den als richtig und wünschenswerten bezeichneten Normen und Werten der Gesellschaft nicht in Einklang steht.[2] Sie lässt sich in primäre und sekundäre Devianz aufteilen. Hierauf wird ausführlich in Abschnitt 3.2 eingegangen.

Der Begriff der Delinquenz stammt aus dem Englischen und bezeichnet ein Verhalten, das gegen geltendes Gesetz verstößt und differenziert benannt werden kann, wie „(…) Pflichtverletzung, Missetat, Vergehen und Verbrechen“[3]. Delinquenz und Kriminalität werden hier als synonyme Begriffe gebraucht.[4] Das lateinische Ursprungswort der Delinquenz „delinquentia“ heißt übersetzt „hinter dem erwarteten Verhalten zurückbleiben“. Delinquenz ist somit die Tendenz, vor allem rechtliche, aber auch soziale Grenzen zu überschreiten. Sie stellt sich als Zeichen für nicht erfolgte sekundäre Sozialisation dar.

Im Vergleich zum Begriff der Kriminalität bei Erwachsenen hat der der Delinquenz in diesem Sinne eine entstigmatisierende Wirkung und beruht auf der Tatsache, dass hier eine psychologisch verstehende Erklärung und eine eher helfende als strafende Reaktion auf das abweichende Verhalten angemessen ist.

Wer vom Gesetz her als delinquent gilt, ist im Jugendgerichtsgesetz (JGG) definiert. Jedes Kind ist vor Vollendung des vierzehnten Lebensjahres strafrechtlich nicht verantwortlich. Das Strafgesetzbuch (StGB) wird zur Definition von Straftaten bei Jugendlichen und Heranwachsenden ebenso herangezogen, wie bei Erwachsenen.

Psychologisch gesehen gilt die Delinquenz als Verhaltensstörung bzw. Verhaltensauffälligkeit und findet sich in verschiedenen Klassifikationen wieder.

Havers unterscheidet vier Gruppen von Verhaltensstörungen: Verhaltensstörungen aggressiver Art, Verhaltensstörungen gehemmter Art, Verhaltensweisen, die für das Alter des Kindes als unangemessen gelten und Verhaltensstörungen delinquenter Art.[5] Er bezeichnet die Verhaltensstörungen delinquenter Art auch als „sozialisierte Delinquenz“[6]. Die Teilnahme an gemeinsamen Diebstählen, Kontakt zu anderen Delinquenten, Mitgliedschaft in Banden und häufiges Schulschwänzen werden hier als charakteristisch aufgezeigt. Diese Verhaltensmuster werden einerseits in Gruppen, andererseits durch Nachahmung und Verstärkung erworben.

Im ICD-10, der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, ist Delinquenz in Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ zum einen unter dem Schlüssel F91 Störungen des Sozialverhaltens, darin F91.8 Sonstige Störungen des Sozialverhaltens-Delinquenz beim Jugendlichen, Delinquenz und zum anderen unter dem Schlüssel F92 Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen, darin F92.8 Neurotische Delinquenz zu finden.[7]

Verhaltensstörung ist somit einerseits nicht nur ein Sammelbegriff für psychische Störungen, sondern andererseits auch für abweichendes bzw. regelverletzendes Verhalten. Unangepasst, sozial abweichend, dissozial, erziehungsschwierig, verhaltensgestört oder verhaltensauffällig sind nur einige adjektivische Bezeichnungen, die aber alle gemein haben, dass es sich um eine Abweichung von der „Norm“ handelt.

Die Auswahl der Theorien zur Erklärung delinquenten Verhaltens ist groß. Die Zuordnung einzelner Theorien zu wissenschaftlichen Disziplinen gestaltet sich schwierig, da die Grenzen zwischen Soziologie und Psychologie häufig verschwimmen. Im Folgenden sollen nun die in meinen Augen wichtigsten soziologischen und psychologischen Aspekte delinquenten Verhaltens vorgestellt und erörtert werden.

3. Soziologische Aspekte delinquenten Verhaltens

Der Labeling-Ansatz, die Anomietheorie und die Theorie der differentiellen Kontakte scheinen mir die aufschlussreichsten soziologischen Theorien zur Erklärung delinquenten Verhaltens zu sein und sollten als sich ergänzend betrachtet werden. Als wichtig anzusehen sind jedoch auch statistisch Daten, die Aufschluss über die Entwicklung der Jugenddelinquenz geben sollen.

3.1 Statistische Daten

Statistische Daten sind zur Darlegung und Analyse von Kriminalität unerlässlich. Im Folgenden soll kurz auf die Entwicklung der Delinquenz anhand von graphischen Darstellungen eingegangen werden.

Tatverdächtige der Altersgruppen bei Straftaten insgesamt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2004

Wie die Darstellung der polizeilichen Kriminalstatistik 2004 zeigt, sind insgesamt 27,9 % der Tatverdächtigen Kinder, Jugendlichen und Heranwachsenden. Sieht man diesen Teil mit 100 % an, so hatte die Gruppe der Jugendlichen mit 44,8 % den größten Anteil.

Folgende Graphik soll die Entwicklung der tatverdächtigen Jugendlichen, besonders ab 1993, verdeutlichen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2004

Festzustellen ist, dass die Entwicklung der tatverdächtigen Jugendlichen ab 1993 stark angestiegen ist. Waren es 1993 noch zwischen 200 000 und 220 000, so sind es im Jahr 1998 ca. 300 000 tatverdächtige Jugendliche. Der starke Anstieg der tatverdächtigen Jugendlichen seit 1993 hat sich ab 1998 nicht mehr fortgesetzt, die Entwicklung ist in sich stabil geblieben.

Gegenüber der Stagnation der Jugenddelinquenz in den 80er Jahren, die sich auf die alten Bundesländer bezieht, sind, wie in den Graphiken ersichtlich, nach der Wiedervereinigung Deutschlands bis etwa Mitte der 90er Jahre die polizeilich ermittelten Straftaten bei Jugendlichen erheblich angestiegen.

Diese Entwicklung könnte man dahingehend interpretieren, dass Jugend als „Symptomträger“ der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen werden kann. Die Tatverdächtigenzahlen seit 1998 wieder geringfügig zurück, was jedoch nicht als Entwarnung gesehen werden sollte.

3.2 Labeling Approach

Der Labeling Approach wird auch sozialer Reaktionsansatz genannt.[8] Als Urvater des Labeling Approach gilt Tannenbaum (1938, 1951), der die soziale Reaktion der Umwelt als entscheidende Ursache für das Auftreten von delinquentem Verhalten sah: „The young delinquent becomes bad because he is defined as bad.“[9] Delinquenz ist somit nicht im Einzelnen angelegt, sondern wird durch die Umweltreaktionen produziert.

Der Labeling Approach kann in eine Mikro- und Makro-Perspektive aufgeteilt werden. Die Makro-Perspektive geht von Gesamtphänomenen aus. Hier wird sich auf den Zusammenhang zwischen Kriminalität und sozialen Strukturen oder Prozessen, wie Bevölkerungsdichte oder Einkommensverteilung, bezogen. Die Mikro-Perspektive beschäftigt sich vorwiegend mit den sozialpsychologischen Aspekten. Es werden Prozesse analysiert, die Menschen kriminell werden lassen. Die Ausführungen dieser Arbeit sollen sich auf die Mikro-Perspektive konzentrieren, da eine gesamte Ausführung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

Diese Perspektive basiert auf Meads Theorie des symbolischen Interaktionismus (1934).[10] Eine wesentliche Annahme der Mikro-Perspektive ist, dass der Mensch im Laufe seiner Erfahrung ein Selbstverständnis erwirbt, das wesentlich durch die Interpretationen beeinflusst wird, die dieser Mensch anderen in Bezug auf sich selbst zuschreibt und in sich aufnimmt. Dies bedeutet, dass ein Mensch, der durch seine Umwelt als kriminell definiert wird, sich selbst auch als kriminell definiert. Edwin M. Schur (1971) schreibt dazu treffend: „So wie ein Mensch ständig andere Menschen „typisiert“, so wird er ständig von anderen typisiert und sogar auch von sich selbst.“[11] Der Betreffende definiert sich somit durch die gesellschaftlichen Reaktionen auch als kriminell, entwickelt eine kriminelle Identität und agiert entsprechend. Hierauf folgen, durch Wiederholungstaten, härtere Reaktionen der Gesellschaft, die Stigmatisierung wird stärker und die kriminelle Identität verfestigt sich weiter. Diese Etikettierung kann durchaus als „self-fulfilling prophecy“[12] bezeichnet werden.

Lemert (1951) präzisierte Tannenbaums Gedanken und führte die Begriffe der primären und sekundären Devianz ein. Die primäre Devianz wird durch bestimmte Normen vordefiniert, die in der Gesellschaft sehr verbreitet sind und die verschiedenste Ursachen haben können.[13] Sie wird als abweichendes oder sozial unerwünschtes Verhalten beschrieben, welches sich nur unwesentlich auf den Status und die psychischen Strukturen des devianten Handelns auswirkt.

Die sekundäre Devianz ist im Rahmen des Labeling Approach von größerer Bedeutung, da sie als Folge gesellschaftlicher Reaktionen und Rollenzuschreibungen gesehen wird. Als Ursache für die sekundäre Devianz wird einzig und allein die Rollenzuschreibung der Umwelt angesehen, welche in einem „dynamischen Interaktionsprozess“[14] abweichendes Verhalten stabilisiert. Das abweichende Verhalten wird durch Sanktionsträger, wie Polizei und Gerichte, verfolgt, sanktioniert und nimmt so an Intensität zu. Es entsteht eine Verfestigung in der Abwendung von legalen und adäquaten Formen. Die sekundäre Devianz kann somit als ein Reaktion auf die gesellschaftlichen Reaktionen der Abweichung gesehen werden. Die gesellschaftliche Reaktion besteht aus Definitionen, Etikettierung und Stigmatisierung.

Der Labeling Approach geht somit davon aus, dass abweichendes Verhalten gar nicht existiert, sondern erst dadurch entsteht, dass eine Person aufgrund einer bestimmten Handlung als kriminell etikettiert wird. Delinquenz kann somit als Prozess der Zuschreibung und selektiven Anwendung von Strafrechtsnormen verstanden werden.

[...]


[1] vgl. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie, S. 862 f

[2] vgl. Fachlexikon Soziale Arbeit

[3] Myschker, Verhaltensstörungen, S. 448

[4] vgl. Myschker, Verhaltensstörungen, S. 448

[5] vgl. Havers, Klassifikation Verhaltensstörungen, S. 29 ff

[6] vgl. Havers, Klassifikation Verhaltensstörungen, S. 34

[7] vgl. ICD-10-GM-2005

[8] vgl. Jung, Kriminalsoziologie, S. 75

[9] Rüther, Abweichendes Verhalten und labeling approach, S. 27

[10] vgl. Oerter/Montada, Entwicklungspsychologie, S. 7

[11] Schur, Abweichendes Verhalten und Soziale Kontrolle, S. 44

[12] vgl. Myschker, Verhaltensstörungen, S. 114

[13] vgl. Rüther, Abweichendes Verhalten und labeling approach, S. 28

[14] vgl. Rüther, Abweichendes Verhalten und labeling approach, S. 28

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Delinquenz bei Jugendlichen
Hochschule
Universität Kassel  (Fachbereich Sozialwesen)
Veranstaltung
Psychopathologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
29
Katalognummer
V63446
ISBN (eBook)
9783638565011
ISBN (Buch)
9783638727136
Dateigröße
589 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Wunsch, die Ursachen von delinquentem Verhalten zu bestimmen ist groß, die Entstehung lässt sich aber nur schwer feststellen und nicht nur auf eine Bedingung zurückführen. Die Arbeit beschäftigt sich mit den soziologischen Aspekten (Labeling Approach, Anomietheorie...), den psychologischen Theorien (psychoanalytischen, lerntheoretischen, ...) und setzt sich mit der Handlungsrelevanz für den SA/SP, wie auch der Prävention in der Praxis auseinander.
Schlagworte
Delinquenz, Jugendlichen, Psychopathologie
Arbeit zitieren
Stephanie Scheck (Autor:in), 2006, Delinquenz bei Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/63446

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