Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Rechtsprechung des EuGH


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2006

18 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Das Jahr 2006 ist zum Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer erklärt worden. Ziel dieser Aktion ist die Sensibilisierung der Unionsbürger für die Rechte und Möglichkeiten zur Ausübung einer Berufstätigkeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat. Der Europäische Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit, Vladimir Špidla, wies in diesem Zusammenhang aber darauf hin, dass gegenwärtig nur ca. 2% der Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Herkunftsland leben. Damit handelt es sich in etwa um den gleichen Anteil wie vor 30 Jahren.[1]

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art.39ff. EGV stellt eine der zentralen Grundfreiheiten des EG-Binnenmarktes dar. Das Ziel der Europäischen Gemeinschaft, einen Gemeinsamen Markt zu schaffen (vgl. Art.14 Abs.1 EGV), kann ohne eine weitgehende Mobilität auch des Produktionsfaktors Arbeit nicht verwirklicht werden.[2] Allerdings werfen Wanderungsbewegungen von Arbeitnehmern innerhalb der EU erhebliche soziale und arbeitsmarktpolitische Fragen mit teilweise hohem Konfliktpotenzial auf, die zu einer progressiven Anpassung der nationalen Rechtsordnungen geführt haben. Insbesondere die langfristige soziale und gesellschaftliche Eingliederung der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen gewann an Bedeutung, weil viele Wanderarbeitnehmer nicht mehr in ihre Heimat zurückkehrten.[3]

I. Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit

1. Sachlicher Anwendungsbereich

a) Grenzüberschreitende wirtschaftliche Betätigung

Eine Grundbedingung für die Berufung auf die Freizügigkeit ist ein grenzüberschreitender Bezug der wirtschaftlichen Tätigkeit. Ein Arbeitnehmer kann sich also nicht im Rahmen eines rein internen Sachverhalts auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen.[4] Hieraus können sich zwar Schlechterstellungen der Inländer ergeben (sog. umgekehrte Diskriminierung oder Inländerdiskriminierung), diese müssen dann aber über das nationale Recht (z.B. Gleichbehandlungsgebot des Art.3 GG) gelöst werden.

In der Entscheidung „Walrave und Koch“ aus dem Jahr 1974 stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest, dass auch sportliche Leistungen als wirtschaftliche Tätigkeit in den Schutzumfang des Art. 39 EGV fallen, wenn der betroffene Sportler eine entgeltliche Arbeitsleistung erbringt.[5] Damit zählen auch Betätigungen nicht rein wirtschaftlicher Art, wie z.B. Kunst und Sport, grundsätzlich zum sachlichen Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit.

b) Öffentliche Verwaltung als Bereichsausnahme

Gemäß Art.39 Abs.4 EGV ist die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung von dem Geltungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen. Die nach dem Verständnis der einzelnen Mitgliedstaaten unter den Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ fallenden Aufgaben variieren allerdings erheblich und betreffen Funktionen in den unterschiedlichsten öffentlichen Bereichen (Bildungs-, Gesundheits-, Steuerwesen, innere Sicherheit etc.). Die Herausnahme aller dieser Bereiche würde die Reichweite der Arbeitnehmerfreizügigkeit erheblich einschränken.[6] Aus diesem Grund hat der EuGH eine spezifische gemeinschaftsrechtliche Auslegung des Begriffs geprägt. Im Fall „Lawrie-Blum“ stellte der EuGH zudem fest, dass die Freizügigkeitsrechte Personen nicht dadurch entzogen werden können, dass sie in ein Beamtenverhältnis berufen werden.[7] Damit kommt es nicht auf das formale Anstellungsverhältnis zum Staat an, sondern der EuGH hat sich für eine funktionelle Betrachtungsweise entschieden.

Unter einer „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ sind nach der Rechtsprechung des EuGH nur jene Stellen zu verstehen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse beinhalten und die im Zuge der Wahrnehmung solcher Aufgaben auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates gerichtet sind.[8] Diese Stellen setzen ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat voraus, das sich im Staatsangehörigkeitsband ausdrückt. Hiermit sind insbesondere Tätigkeiten wie der Polizeidienst, das Soldatenverhältnis, der auswärtige Dienst, die Steuerverwaltung und Tätigkeiten von Richtern und Staatsanwälten gemeint. Dagegen fallen weite Teile der Hoheitsverwaltung wie die Lehrberufe, die Gesundheits- und Sozialverwaltung nicht in den Ausnahmebereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit.[9]

2. Persönlicher Anwendungsbereich

Zentraler Ausgangspunkt der Gewährung der Rechte im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist der Begriff des „Arbeitnehmers“ in Art.39 Abs.1 EGV. Als Abgrenzungskriterium zur Dienstleistungsfreiheit der Selbstständigen gem. Art.49ff. EGV und zu anderen Personengruppen wie Studenten, Praktikanten etc. hat er elementare Bedeutung.

a) Der Arbeitnehmerbegriff

In seiner Rechtsprechung hebt der EuGH die gemeinschaftsrechtliche Bedeutung des Arbeitnehmerbegriffs und die Erforderlichkeit einer europaweit einheitlichen Auslegung hervor.[10] Hiermit will der EuGH den Mitgliedstaaten die Möglichkeit nehmen, durch nationale Gesetzgebung den eigenen Arbeitnehmerkreis auch für den europäischen Kontext zu bestimmen. Dies würde angesichts der zahlreichen einzelstaatlichen Rechtsordnung sonst zu ganz unterschiedlichen Einordnungen der arbeitenden Bevölkerungen führen. Aus der umfangreichen Judikatur des EuGH zu diesem Bereich kann die folgende Definition des Begriffs abgeleitet werden:

Arbeitnehmer ist danach jede Person, die während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung eine Leistung als tatsächliche und echte Tätigkeit erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.[11]

[...]


[1] Europäische Kommission, Interview von Kommissar Špidla: 2006, Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer, Januar 2006 (http://ec.europa.eu/employment_social/workersmobility_2006/
index.cfm?id_page=1; letzter Zugriff am 4. August 2006); siehe auch Sozial Agenda, März 2006, S.4.

[2] Oppermann, Thomas, Europarecht. Ein Studienbuch, 3. Aufl., München 2005, §25 Rn.3.

[3] Siehe hierzu Verordnung (EWG) Nr.1612/68 (ABl.EG1968 Nr. L257, S.2) für die Herstellung der Freizügigkeit sowie Verordnung (EG) Nr.883/2004 (ABl.EU2004 Nr. L200, S.1) zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit.

[4] EuGH, Rs.180/83, Moser, Slg. 1984, 2539 (2548); verb. Rs.C-64 u. 65/96, Uecker und Jacquet, Slg. 1997, I-3171ff. in st. Rspr.

[5] EuGH, Rs. 36/74, Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405 (1418, Rn. 4) in st. Rspr.

[6] Vgl. Oppermann (Fn.2), §25 Rn. 30.

[7] Vgl. EuGH, Rs. 66/85, Lawrie-Blum, Slg.1986, 2121ff.

[8] Vgl. EuGH, Rs. 149/79, Kommission/Belgien, Slg. 1980, 3881 (3900).

[9] Vgl. Oppermann (Fn.2), §25 Rn.31.

[10] EuGH, Rs. 53/81, Levin, Slg. 1982, 1035 (1049, Rn. 11).

[11] EuGH, Rs. 66/85, Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 (2143, Rn. 12); Rs. 197/86, Brown, Slg. 1988, 3025 (3244, Rn. 21); Rs. 344/87, Bettray, Slg. 1989, 1621 (1646, Rn. 12); Rs. C-85/96, Sala, Slg. 1998, I-2691 (I-2719, Rn. 32); Rs. C-337/97, Meeusen, Slg. 1999, I-3289 (I-3310, Rn. 13).

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Details

Titel
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Rechtsprechung des EuGH
Hochschule
Universität Hohenheim  (Rechtswissenschaft)
Autor
Jahr
2006
Seiten
18
Katalognummer
V62839
ISBN (eBook)
9783638560122
ISBN (Buch)
9783656661146
Dateigröße
619 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arbeitnehmerfreizügigkeit, Rechtsprechung, EuGH
Arbeit zitieren
Dr. Gerald G. Sander (Autor:in), 2006, Die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Rechtsprechung des EuGH, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62839

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