Die Förderung musikalischer Grundkompetenzen im Anfangsunterricht der Grundschule durch Chorarbeit in der Klasse


Examensarbeit, 2006

77 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Musikalische Grundkompetenzen
2.1 Ziele des Musikunterrichts laut Lehrplan
2.2 Begri serläuterungen
2.2.1 Der Kompetenzbegri
2.2.2 Der Begri Musikalische Grundkompetenz
2.3 Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten
2.4 Komponenten eines didaktischen Konzepts zur Förderung mu- sikalischer Grundkompetenzen

3 Funktionen von Musik und Bedürfnis nach Musik
3.1 Ursprüngliche Funktionen von Musik
3.1.1 Die sozial integrierende Kraft der Musik
3.1.2 Musik als Teil der Symbolwelt des Menschen
3.1.3 Musik bei der Arbeit
3.2 Funktionen von Musik heute
3.3 Das Bedürfnis nach Musik
3.4 Musizierpraxis von Kindern heute
3.4.1 Singpraxis und Singfähigkeiten von Kindern heute .
3.5 Fazit

4 Neurobiologische Forschungsergebnisse
4.1 Musikverarbeitung im Kopf
4.1.1 Mentale Repräsentationen von Musik
4.1.2 Musikalische Wahrnehmung und Kognition
4.2 Musikalisches Lernen
4.2.1 Ist Musiklernen wie Sprechenlernen?
4.3 Günstige Lernbedingungen aus neurobiologischer Sicht .
4.3.1 Die Lust am Lernen

5 Chorarbeit in der Klasse
5.1 Chorklassen
5.1.1 Das niedersächsische Konzept
5.1.2 Organisation
5.1.3 Zielsetzungen
5.1.4 Erfahrungen
5.2 Die Eignung des Schwerpunktes (Chor-)Singen im Anfangsun- terricht
5.2.1 Stimme als ursprünglichstes Instrument
5.2.2 Befähigung zur Teilhabe am kulturellen Leben
5.2.3 Förderung von Sprache und Schriftspracherwerb . .
5.2.4 Soziales Lernen
5.2.5 Herausbildung musikalischer Neigungen
5.2.6 Fazit
5.3 Stimmbildung in der Grundschule
5.3.1 Die Kinderstimme
5.3.2 Ziele schulischer Stimmbildung
5.3.3 Gefahren der Stimmbildung
5.4 Methoden zur Förderung musikalischer Grundkompetenzen .
5.4.1 Klassenmusizieren
5.4.2 Patternarbeit
5.4.3 Relative Solmisation

6 Schlussbemerkungen
6.1 Ausblick

7 Quellenangaben
7.1 Literaturverzeichnis
7.2 Texte aus dem Internet

8 Anhang
8.1 Anhang 1: Verbindliche Anforderungen am Ende von Klasse 4 laut Lehrplan
8.2 Anhang 2: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten

9 Schlusserklärung

1 Einleitung

Der Musikunterricht in der Grundschule wird von Schule zu Schule und von Lehrer1 zu Lehrer sehr unterschiedlich gestaltet. Die mir bekannten Lehrplä- ne für den Musikunterricht lassen dem einzelnen Lehrenden groÿe Spielräume hinsichtlich der Methodik und den Inhalten seines Unterrichts, und da in die- sem Fach auch keine externe Kontrolle des Leistungsstandes der Kinder erfolgt (wie inzwischen in Deutsch und Mathematik üblich), hat der Musikpädagoge hier recht freie Hand. Zunächst ist dies durchaus positiv zu bewerten, denn die Kinder pro tieren m. E. am meisten, wenn der einzelne Lehrende die Möglich- keit hat, die Schwerpunkte des Unterrichts von seinen eigenen Kompetenzen abhängig zu machen.

Die Realität des Musikunterrichts in der Grundschule ist allerdings oftmals ernüchternd. Abgesehen von der besorgniserregenden Tatsache, dass Musikun- terricht an Grund- und Hauptschulen bis zu 80% ausfällt oder fachfremd erteilt wird2, lässt sich eine a ektive Distanz ganzer Schülergenerationen gegenüber dem Musikunterricht feststellen.3 Aber wie kommt es dazu? Die Schulanfänger kommen doch in der Regel hochmotiviert in den Musikunterricht, sind leicht zu begeistern und zeigen Neugier und Interesse! Noch sind ihre Einstellungen gegenüber Musik(-unterricht) nicht festgelegt, so dass a ektive Bindungen bei ihnen geweckt werden können. Ich nehme an, dass vielen Musiklehrenden in der Grundschule ein schlüssiges Gesamtkonzept fehlt, das so strukturiert ist, dass die natürliche Lernfreude der Kinder erhalten bleibt.

Bei der Erstellung eines Gesamtkonzeptes für den Musikunterricht in der Grund- schule muss zu Beginn eine allgemeine Zielsetzung erfolgen. In der Grund schule sollen die Kinder wie der Name schon andeutet grundlegende Fähigkei- ten erwerben. Im Musikunterricht könnte das Übergeordnete Ziel daher die Förderung musikalischer Grundkompetenzen sein. Der Begri musikalische Grundkompetenzen wurde in den vergangenen Jahren von einem Kreis ver- schiedener Musikpädagogen geprägt und mit ganz bestimmten Inhalten gefüllt. Was genau darunter verstanden werden soll, wird Thema des ersten Kapitels dieser Arbeit sein.

Im darauf folgenden Kapitel werde ich mich damit auseinandersetzen, warum der Musikunterricht welcher zu den ältesten Schulfächern überhaupt zählt4 auch in einer Zeit von PISA, TIMMS5, Bildungsstandards und Diskussionen um Schlüsselfunktionen noch einen wichtigen Stellenwert in der Grundschule haben sollte. Meine Fragestellung lautet hier: Wieso machen Menschen über- haupt Musik? Welche Ursprünge hat diese zunächst scheinbar nutzlose Tä- tigkeit? Ich denke, dass Musik aus einem lebensnotwendigen Bedürfnis heraus entstanden sein muss. Und wenn dem tatsächlich so ist, dann müsste dieses Bedürfnis in irgendeiner Art und Weise noch immer beim Menschen bestehen. Dies wiederum hätte für mich die Konsequenz, dass die Förderung musikali- scher Grundkompetenzen ein ernstzunehmender Auftrag für den Musikunter- richt in der Grundschule wäre.

Lernfreude erhalten war, neben der Entwicklung eines Gesamtkonzeptes, mein zweiter wichtiger Gedanke hinsichtlich der Qualitätssicherung des schu- lischen Musikunterrichts. Lernfreude bleibt dann erhalten, wenn die Kinder durch Lern- und Kompetenzzuwachs in Bereichen, die sie selbst als wichtig erachten, motiviert werden. Um diesen beiden Kriterien zu genügen, muss sich ein guter Musikpädagoge damit auseinandersetzen, wie Musiklernen tatsäch- lich funktioniert . Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse hierzu nden sich im Bereich der Neurobiologie. Die Betrachtung neurobiologischer Forschungs- ergebnisse soll mir dabei helfen, geeignete Methoden für den Musikunterricht zu nden, die einen Aufbau musikalischer Grundkompetenzen begünstigen. Schlieÿlich soll noch ein geeignetes Gesamtkonzept betrachtet werden, das durch die Förderung musikalischer Grundkompetenzen möglich macht, das kindliche Bedürfnis nach Musik zu stillen. Singen ist die eigentliche Mut- tersprache des Menschen6, so Yehudi Menuhin. Singen ist auch der erste Zugang zu eigener musikalischer Aktivität, denn die Stimme ist jedem gesunden Menschen gegeben und jedes Kleinkind beginnt schon früh, mit diesem körpereigenen Instrument zu experimentieren. Warum also nicht Singen als Ausgangspunkt musikalischer Erziehung in der Grundschule wählen? Als praktisches Beispiel soll daher das neu entwickelte Chorklassenkonzept aus Niedersachsen vorgestellt werden. Mit Rückgri auf die vorangegangenen Kapitel soll hier erläutert werden, wie die Förderung musikalischer Grundkompetenzen in der Grundschule realisiert werden kann.

2 Musikalische Grundkompetenzen

Die Förderung musikalischer Grundkompetenzen würde sicherlich niemand als ein wichtiges Ziel des Musikunterrichts in der Grundschule in Frage stel- len. Allerdings ist diese Formulierung zunächst ein sehr allgemein gehaltenes Schlagwort, das sehr unterschiedlich mit Inhalten gefüllt werden kann. Kaiser formuliert sehr tre end die Frage: Ist es eine (Grund)Kompetenz Noten lesen zu können, ein Instrument spielen zu können, eine Liedbegleitung schreiben zu können oder eine Analyse eines Musikstücks anfertigen zu können oder. . . ?1

Und welche der Grundkompetenzen gilt es in der Grundschule zu fördern? Die Antworten auf diese Fragen sollten sich in erster Linie in den Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschule nden. Daher werde ich zunächst darlegen, welche Ziele das Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen für den Musikunterricht vorsieht.

Im darauf Folgenden möchte ich den Begri musikalische Grundkompetenz näher betrachten, wobei insbesondere der Begri sbestandteil Kompetenz in Augenschein genommen und in seinem in der pädagogischen Forschung durch Chomsky und Habermas geprägten Verständnis erklärt werden soll.2 Mithil- fe aktueller musikpädagogischer Konzepte und Gedanken werde ich dann das Verständnis von musikalischen Grundkompetenzen für mich eingrenzen und damit festlegen, worauf ich mich in dieser Arbeit bei der Verwendung dieses Begri es beziehe.

Um als zukünftige Lehrerin musikalische Grundkompetenzen bei den mir dann anvertrauten Schülern aufbauen zu können, ist in einem weiteren Schritt die Auseinandersetzung mit den musikalischen Kompetenzen, über die die Kinder zum Zeitpunkt ihrer Einschulung bereits verfügen, notwendig. Dies erfordert eine Beschäftigung mit musikpsychologischen Erkenntnissen über die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten im Vorschulalter.

Vor dem Hintergrund der bis dahin gegebenen theoretischen Informationen werde ich mich dann in einem weiteren Schritt damit auseinandersetzen, welche Komponenten ein auf den Aufbau musikalischer Grundkompetenzen gerichte- ter Unterricht in der praktischen Umsetzung haben sollte. Denn die Vermitt- lung musikalischer Grundkompetenzen erhält, wie Jank betont, erst im Blick auf ein Gesamtkonzept musikalisch-ästhetischer Bildung den ihr angemessenen Stellenwert.3

2.1 Ziele des Musikunterrichts laut Lehrplan

In den Richtlinien für die Grundschule nden sich die allgemeinen Aufgaben und Ziele für diese Schulstufe, die von der Ausbildungsordnung für die Grundschule festgelegt werden. Unter anderem wird dort formuliert:

Die Grundschule als die für alle Kinder gemeinsame Grundstufe des Bildungswesens hat [...] die Aufgabe, 1. alle Schülerinnen und Schü- ler unter Berücksichtigung ihrer individuellen Voraussetzungen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, in den sozialen Verhaltensweisen sowie in ihren musischen und praktischen Fähigkeiten gleicherma- ÿen umfassend zu fördern,[...]4

Hier wird deutlich, dass in der Grundschule, als einem Ort des Lernens, der alle Kinder erreicht, darauf geachtet werden muss, dass alle Kinder gleichermaÿen gefördert werden sollen. Dies gilt natürlich auch bezüglich des Erwerbs musikalischer Grundkompetenzen. Für viele Kinder ist die Schule der einzige Ort, wo sie diese Kompetenzen erwerben können.

Im Lehrplan Musik werden die Aufgaben des Faches konkretisiert. Dort heiÿt es: Die Aufgaben des Musikunterrichts in der Grundschule sind:

- die Freude und das Interesse der Schülerinnen und Schüler an Musik zu fördern
- ihre musikalische Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit wei- ter zu entfalten
- ihre musikalischen Kompetenzen zu entwickeln.5

Welche musikalischen Kompetenzen genau gemeint sind, wird unter Verbind- liche Anforderungen formuliert. Einer detaillierten Liste6 wird dort vorange- stellt:

Jede Schülerin und jeder Schüler in Nordrhein-Westfalen soll trag- fähige Grundlagen im Sinne einer ausgebauten Wissensbasis und verlässlicher Kompetenzen erreichen, die ein erfolgreiches Lernen in der Sekundarstufe I ermöglichen.7

An dieser Stelle sind also die vom Ministerium vorgeschriebenen Kompetenzen im Fach Musik explizit aufgelistet. Ob diese sich mit der im folgenden Abschnitt de nierten Vorstellung einer musikalischen Grundkompetenz decken, soll im Laufe dieser Arbeit noch diskutiert werden.

Das Ministerium unterteilt die verbindlichen Anforderungen, die die Kinder am Ende der Klasse 4 erfüllen sollen, in drei Bereiche. Zum Bereich Fähigkei- ten und Fertigkeiten zählt z.B.: Lieder melodisch, rhythmisch und dynamisch adäquat singen; bei einfachen Formen der Mehrstimmigkeit mitsingen; Nota- tion nach musikalischen Ereignissen entwerfen und in Musik umsetzen; sich mit Musik auseinander setzen und darüber sprachlich verständigen; sich zu Musik angemessen bewegen. Im Bereich Kenntnisse wird gefordert, dass die Kinder eine angemessene Anzahl von Liedern kennen; einfache Formprinzi- pien der Musik; Musikbeispiele verschiedener Genres von früher und heute; exemplarische Schlag-, Blas- und Saiteninstrumente kennen und elementare Begri e der musikalischen Fachsprache und unterschiedliche Notationsformen kennen . Der dritte Bereich wird mit Einstellungen und Haltungen betitelt und umfasst Aspekte wie Freude am Singen und Musizieren entwickeln; Mu- sik unterschiedlicher Stile, Epochen und Kulturen mit Interesse und Neugier begegnen, Musik als Mittel der Verständigung zwischen Menschen erkennen und nutzen sowie Musik als Ausdruck eigener und fremder Ideen und Em- p ndungen erfahren und nutzen.8

Sicherlich stellt sich dabei auch die Frage, ob die vom Ministerium formulier- ten verbindlichen Anforderungen tatsächlich zu einem erfolgreichen Lernen in der Sekundarstufe I beitragen. Problematisch ist in dieser Hinsicht, dass der Musikunterricht in der Sekundarstufe I, wie Nimczik formuliert, in sehr frag- würdiger Weise ausgeführt wird, da im Vorgri auf die Anforderungen in der gymnasialen Oberstufe nicht Musikunterricht angeboten würde, sondern weit- gehend Musikwissenschaft bzw. Musiktheorie. Der Musikunterricht im Gym- nasium ist weitgehend rezeptiv orientiert: Isoliertes Wissen über Musik wie Regeln und Merksätze über Tondauern, Skalen, Intervalle und Tonartfolgen im Quintenzirkel werden oftmals ohne wirkliches musikalisches Verständnis von Seiten der Schüler auswendig gelernt.9 Solange dieses Wissen über Mu- sik nicht einer klanglichen Vorstellung gegenüber gestellt wird und somit ein hörend musizierendes Verstehen 10 statt ndet, kann man m. E. nicht von mu- sikalischer Grundkompetenz sprechen. Allerdings gibt es in der Grundschule möglicherweise die Gelegenheit, die musikalischen Grundlagen zu legen, die später zu einem echten Verständnis der genannten musiktheoretischen Inhalte führen könnten.

Zu guter Letzt möchte ich noch auf eine weitere interessante Formulierung im Lehrplan hinweisen: Der Musikunterricht stärkt darüber hinaus die kindliche Persön- lichkeit und bildet Kompetenzen aus wie Einfühlungsvermögen und Kreativität, Konzentrations- und Motivationsfähigkeit, Kommuni- kations- und Teamfähigkeit.11

Hier geht es um Auswirkungen von Musikunterricht auf auÿermusikalische Kompetenzen der Kinder. Es ist bemerkenswert, dass im Lehrplan der po- sitive Ein uss des Faches Musik auf andere Lernbereiche als Tatsache dar- gestellt wird. Denn die vorliegenden Forschungsergebnisse bieten kaum eine vernünftige Basis für solche Aussagen , wie Gembris feststellt. Zwar gibt es in wissenschaftlichen Studien und Schulversuchen durchaus Hinweise auf po- sitive Transfere ekte des Musikunterrichts. Aber sie sind eben nicht globaler Natur nach dem Motto ,Musik macht klug` oder ,Musik verbessert das Sozial- verhalten` .12 Dennoch, so fügt Gembris hinzu, hätte sich die Idee der per- sönlichkeitsfördernden Wirkungen musikalischer Aktivitäten . . . nicht so lange gehalten, wenn sie unbegründet und substanzlos wäre. Über Hunderte von Jahren muÿ sie immer und immer wieder durch Beobachtungen und Alltags erfahrungen Nahrung erhalten haben, sonst wäre sie längst gestorben.13

Aufgrund der Aufnahme dieser Ziele bzw. Aufgaben des Musikunterrichts in den Lehrplan ist es erforderlich, zu betrachten, ob man sie möglicherweise auch zu einem erweiterten Verständnis von musikalischen Grundkompeten- zen zählen kann und wie diese Ziele erreicht werden können (vgl. hierzu 5.2.3 und 5.2.4).

2.2 Begri serläuterungen

Wie oben schon deutlich wurde, ist der Begri musikalische Grundkompe- tenz nicht zwingend selbsterklärend und zunächst z.B. nicht von der For- mulierung grundlegende musikalische Fähigkeiten abgrenzbar. Auch gibt es bisher keine allgemein gültige Vereinbarung, was man unter einer musikalischen Grundkompetenz verstehen sollte.14 Die Verwendung dieses Begri es wurde in den letzten Jahren vor allem hinsichtlich seiner funktionalen Bedeutung dis- kutiert. Daher soll im Folgenden ein Einblick in die Debatte um den Begri der musikalischen Grundkompetenz gegeben werden, wie sie von den Mu- sikpädagogen Johannes Bähr, Stefan Gies, Stefanie Stadler Elmer, Ortwin Nimczik, Hermann J.Kaiser und Werner Jank geprägt wurde. Insbesondere Johannes Bähr hat sich intensiv mit diesem Begri auseinan- dergesetzt und seine pädagogische Absicht bei der Verwendung des Begri es ist die Folgende:

Musikalische Grundkompetenz soll in musikdidaktischem Zusam- menhang für eine Intensivierung, E ektivierung und Nachhaltig- keit, kurz, für eine Qualitätsentwicklung von Musikunterricht nutz bar gemacht werden.15

2.2.1 Der Kompetenzbegri

Der Kompetenzbegri ist in der wissenschaftlichen Debatte laut Kaiser in erster Linie von zwei Autoren im Bereich der Linguistik geprägt worden. Das von Chomsky entwickelte Konzept zur Beschreibung von Sprachhandeln wurde von Habermas erweitert und soll hier als Grundlage dienen, um musikalische Kompetenz zu beschreiben.

Chomsky und Habermas gehen von der Annahme aus, dass Menschen die Fähigkeit haben, auf der Grundlage von relativ wenigen sprachlichen Grundda- ten eine Grammatik ausbilden zu können .16 Die Fähigkeit eines vorgestellten idealen Sprechers, mit Hilfe eines abstrakten Systems von Regeln prinzipi- ell unendlich viele Sätze formen zu können, wird von ihm Sprachkompetenz genannt. Demgegenüber steht die Sprachperformanz, welche die tatsächliche Sprachverwendung eines empirischen Sprechers bezeichnet. Sprechen ist also eine Form des individuellen Verhaltens und die grammatische Organisati- on der Sprache ist auf der Ebene des einzelnen Subjekts ein Konstrukt17 Die kognitive Tiefenstruktur 18 (welche der grammatischen Organisation der Sprache eines Individuums entspricht) ist nicht direkt zugänglich. Sie kann nur über die Analyse der Ober ächenstruktur19 (welche der Sprachhandlung entspricht) rekonstruiert werden. Diese Gegebenheit stellt für die Beurteilung der Sprachkompetenzen eines Menschen ein Problem dar, denn ein realer Spre- cher realisiert immer nur ausschnitthaft sprachliche Kompetenz. Folglich kann aus den performativen Akten nur sehr bedingt auf die Form einer darunter liegenden Kompetenz geschlossen werden. 20 Welche Konsequenzen diese Pro- blematik auch bei der Betrachtung von musikalischer Kompetenz hat, soll im Folgenden im Auge behalten werden.

Überträgt man nun Chomskys Überlegungen auf Musikhandeln, lässt sich musikalische Kompetenz als die Fähigkeit eines idealen Musizierenden, ein abstraktes System musikgenerativer Regeln zu beherrschen 21 de nieren. Dem gegenüber steht dann das konkrete Musizieren als performativer Akt. Schon an dieser Stelle zeigt Kaiser auf, dass Chomskys Konzept nicht unverändert auf das Musikhandeln übertragbar ist, denn zur Ausübung von Musik ist die Beherrschung generativer Regeln nicht ausreichend, da die Beherrschung ope- rative Fähigkeiten hinzukommt, die für musikalisches Handeln konstituiv ist. Während es nämlich beim Sprechen keine Rolle spielt, wie gesprochen wird solange der Sprecher verständlich bleibt kann Musik überhaupt erst durch operative Fähigkeiten wie u.a. Hören, Singen und Spielen zum Klingen ge- bracht werden.

Um nun aber den Begri musikalische Kompetenz klar de nieren zu können, schlägt Kaiser vor, eine Antwort auf die Frage zu nden, was ein Mensch tun müsse, um als (musikalisch) kompetent bezeichnet werden zu können.

Er stellt fest, dass in musikalischer Bildung Musik als ein Bereich von Tätig- keitsformen 22 erscheint. Zu diesen Tätigkeitsformen gehören das Musikhören, das Kennenlernen von verschiedenen musikalischen Genres und das Sammeln von Informationen zu verschiedenen Musiken. Menschen, die sich musikalisch bilden, entwickeln ein individuelles Bild von Musik. Dieses Bild sei aber auf- grund der eigenen Entwicklung und der Entwicklung von Musik in der Zeit, in der man lebt, erweiterungs- und vertiefungsfähig. Und da es keine eindeutig de nierte und universell geteilte Vorstellung von musikalischer Bildung gebe, könne im Hinblick auf musikalische Bildung nicht bestimmt werden, wann und ob jemand musikalisch kompetent handelt. Daher sei der Kompetenzbegri im Hinblick auf Bildungsprozesse fehl am Platz.

Anders sieht es hingegen bei der Betrachtung von musikbezogenen Gebrauchs- praxen aus. Kaiser versteht darunter Handlungszusammenhänge, in denen das Musikmachen, das Hören und Spielen von Musik, das Darüber-Reden usf. persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Zwecken eingefügt ist.23 Hier gel- te es zu betrachten, zu welchem Zweck Kinder mit Musik umgehen wollen und welche Handlungen diese erlernen wollen, damit sie ihren musikalischen Um- gang als kompetentes Umgehen emp nden können. Denn jede von den Schülern losgelöste Kompetenzde nition (also ohne Bezug auf die Bedürfnisse der Kin- der) sei zum Scheitern verurteilt. Wenn nun der Lehrende allerdings meint, dass seine Schüler im Hinblick auf bestimmte Formen von Musik, bestimmte Umgangsweisen mit Musik und im Hinblick auf bestimmtes Wissen über Mu- sik kompetent handeln sollen, müssten Situationen gescha en werden, in denen die Kinder den Bedarf entwickeln, darin musikbezogen kompetent handeln zu können und bereit sind, die notwendigen mentalen und operativen Vorausset- zungen zu scha en24.

Der Kompetenzbegri im Zusammenhang mit Musikhandeln kann somit aufgrund der aufgeführten terminologischen und inhaltlichen Schwierigkeiten an dieser Stelle noch nicht endgültig theoretisch eingegrenzt werden, weshalb im Folgenden weitere Aspekte zum Verständnis des Begri es aufgeführt werden sollen. Der bisher noch nicht weiter erläuterte Begri sbestanteil Grund soll dabei im Sinne von grundlegend verstanden werden.

2.2.2 Der Begri Musikalische Grundkompetenz

Musikunterricht in der Grundschule soll, wie unter 2.1 dargestellt wurde, ein erfolgreiches Lernen in der Sekundarstufe I ermöglichen. Im Lehrplan für die Gesamtschule wird Musikunterricht als ein Beitrag zur Kulturerschlieÿung ver- standen:

Musik erscheint so als ein Teil eines vielschichtigen anthropologi- schen und gesellschaftlichen Ganzen, als ein Teil unserer Lebens- welt, zu deren Erschlieÿung emotionale Zuwendung ebenso notwen- dig ist wie Sachwissen und die Erfahrung im Umgang mit fachspe- 25 zi schen Zugangsweisen.

Natürlich sollte der Beschäftigung mit der Musik fremder Kulturen ausrei- chend Platz im Musikunterricht gegeben werden, dennoch ist zur Kulturer- schlieÿung in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der abendländischen Musikkultur wichtig. Denn im Musikunterricht sollen die Schüler, so der Lehr- plan der Sekundarstufe I, wesentliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten für ihr musikalisches Selbst- und Weltverständnis 26 erwerben. Der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht beschreibt die Besonderheit der abendländischen Musik:

Wenn wir danach fragen, was Musik ist, so kann eine Antwort lau- ten: daÿ sie als Praxis, als Ausübung, besonders als Komposition in Erscheinung tritt, daÿ jedoch die Musikpraxis stets von der Theo- rie begleitet wird Theorie hier verstanden als ein auf die Praxis gerichtetes Betrachten, begri iches Erkennen und Lehren. Dieses Beieinandersein von Praxis und Theorie ist in der Tat ein konstitu- ierendes, ein das Wesen betre endes Merkmal der abendländischen 27 Musik.

Abendländische Musik wenn sie möglichst umfassend genossen werden soll bedarf folglich eines theoriegeleiteten Unterrichts. In der Grundschule sollten daher die Grundlagen für ein späteres Theorieverständnis gelegt werden. Die hier angestrebten Grundkompetenzen sind, wie in den vorangegangen Ausfüh- rungen zum Kompetenzbegri bereits deutlich wurde, musikpraktischer Art. Denn, wie Nimczik feststellt, kann das Musikwissen erst im Kontext musika- lischer Handlungserfahrungen einen Gebrauchswert für alle Lernenden entfal- ten.28 Musikalische Grundkompetenzen sollen die Schüler in die Lage versetzen, so Bähr, über ihren privaten, alltäglichen musikalischen Umgang hinaus in musikalischer Gebrauchspraxis [...] erfolgreich tätig sein zu können. 29 Kinder, die über musikalische Grundkompetenzen verfügen, sollten laut Bähr im Alter von etwa 12 Jahren folgende Fähigkeiten vorweisen:

- Die Gesangstimme gefunden haben. Melodisch korrekt und in sauberer Intonation singen können. [...] Eine Tonhöhenvorstellung entwickelt ha- ben, die das Singen von Intervallen, einfachen Skalen und Dreiklängen ermöglicht.
- Das Metrum (den Puls) körperlich emp nden und gleichzeitig zu ande- ren musikalischen Aktionen ausführen können. Einfache Rhythmen [...] auditieren und er nden können. [...]
- Melodisch-rhythmische Stimmen auf Instrumenten spielen können [...]
- Grundschritte und komplexere ganzkörperliche Bewegungen zu Musik koordiniert ausführen können. Bewegungsgestaltungen mitvollziehen und selbst er nden können.
- Musikalische Gestaltungsmerkmale in den Bereichen Tonintensität, Klang und Form erfahren haben [...]30

Vergleicht man Bährs Ausführungen mit denen des Lehrplans, lassen sich viele Übereinstimmungen nden. Auch wenn die Formulierung musikalische Grundkompetenzen im Lehrplan nicht fällt, wird die Förderung dieser Kompetenzen im Grunde gefordert. Bähr konkretisiert sein Verständnis von musikalischer Grundkompetenz allerdings, indem er bestimmte Forderungen an die Methodik des Unterrichts stellt.

Musikalische Grundkompetenzen, wie Bähr sie de niert, können bei den Kin- dern nur dann aufgebaut werden, wenn die Methodik des Unterrichts so ge- wählt wird, dass die Kinder nicht nur bestimmtes Wissen und bestimmte Kenntnisse haben, sondern auch in der Lage sind eigenständig und kompe- tent musikalisch zu handeln. So würden sicherlich auch einige der im Lehrplan aufgeführten Kenntnisse zu einer musikalischen Grundkompetenz im Sinne Bährs gehören, wenn sie denn nach dem Prinzip Vom Handeln zum Können zum Wissen31 vermittelt würden.

Durch das handelnde Musiklernen soll den Kinder ein indirektes Verständnis von Musik vermittelt werden. So müssen Kinder im Grundschulalter zwar noch nicht unbedingt wissen, was ein Grundton ist - sie sollten ihn aber dennoch musikalisch verstanden haben. Ebenso wie Kinder bereits die Grammatik ihrer Muttersprache gröÿtenteils korrekt anwenden können, ohne ihre Regeln zu kennen, sollen Kinder lernen mit musikalischen Mitteln umzugehen und sie intuitiv zu verstehen ohne sie begri ich benennen zu können. Wie ein derarti- ges Musikverständnis aufgebaut werden kann, soll in Kapitel 4 aus der Sicht der Neurobiologie betrachtet werden. Neben diesen Elementen einer musikalischen Grundkompetenz sieht Bähr genau wie der Lehrplan noch weitere not- wendige Voraussetzungen, die Kinder in die Lage versetzen, an musikalischer Gebrauchspraxis teilzunehmen. . . oder Musik zum Ausdruck ihrer Persönlich- keit nutzen zu können.32 Dazu zählen z.B. kommunikative, soziale, kogniti- ve, re exive und kreative Fähigkeiten sowie Fähigkeiten zum hermeneutischen Verstehen, die zur weiteren Kulturerschlieÿung notwendig sind.

2.3 Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten

Wie schon unter 2.2.1 ausgeführt wurde, ist ein von den Schülern losgelöstes Kompetenzverständnis zum Scheitern verurteilt. Es wurde festgehalten, dass Musikunterricht nur dann erfolgreich zum Aufbau musikalischer Grundkompe- tenzen beitragen kann, wenn die Kinder auch einen Bedarf entwickeln, in den angebotenen musikalischen Situationen kompetent handeln zu können. Immer wieder fällt in den aktuellen bildungspolitischen und pädagogischen Debat- ten um didaktische Konzepte und Unterrichtsmethoden das Schlagwort die Kinder dort abholen, wo sie stehen . Denn nur dort, wo zwischen Anknüp- fungsmöglichkeiten an bereits Bekanntes und Herausforderungen durch Neues die Waage gehalten wird, ist die Motivation und Lernbereitschaft der Kinder garantiert. Eine Berücksichtigung von Erkenntnissen der Musikpsychologie über die altersspezi schen Entwicklungsfähigkeiten musikalischer Erfahrung und musikalischen Lernens sowie einer Orientierung des Unterrichts an den Erkenntnissen über Erwerb und Aufbau musikalischer Vorstellungen 33 ist al- so unabdingbar.

Daher soll nun im Folgenden ein kurzer Einblick in musikpsychologische For- schungsergebnisse hinsichtlich der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten von Kindern gegeben werden. Um begri iche Klarheit herzustellen, sei an dieser Stelle eine De nition des Begri es musikalische Fähigkeit von Gembris vor- angestellt:

Unter musikalischen Fähigkeiten verstehen wir in einem umfassen- den Sinn all jene Fähigkeiten, die dazu beitragen und es uns er- möglichen, Musik emotional zu erleben und kognitiv zu verarbei- ten, sowie die Fähigkeit, Musik zu komponieren, zu improvisieren und zu interpretieren.34

Da Musikunterricht wie jeder Unterricht in der Grundschule ein Unterricht für alle Kinder sein soll, soll hier vor allem die Entwicklung musikalischer Fä- higkeiten, die sich ohne zielgerichtetes musikalisches Zutun des Individuums und ohne spezielle musikalische Unterweisung bilden, betrachtet werden. Leider, so bemängelt Bähr, liefert die musikpsychologische Forschung bisher noch kein klares und nach Fähigkeiten di erenziertes Bild musikalischer Ent- wicklungsstadien bei Kindern und Jugendlichen, das unmittelbar pädagogisch genutzt werden könnte. Aufgrund interindividueller Entwicklungsunterschie- de, Ein üsse des sozialen Umfeldes sowie unterschiedlicher Designs in der For- schungsmethodik seien Zuordnungen von Fähigkeiten und Lebensalter sehr un- terschiedlich.35 Auÿerdem sei die Entwicklung reproduktiver und produktiver Fähigkeiten im Singen, Spielen, Bewegen und Hören bisher nur sehr lückenhaft erforscht worden.36 Dennoch könne man davon ausgehen, dass sich grundle- gende musikalische Wahrnehmungsfähigkeit sowie Ansätze zur Bewältigung einfacher musikalischer Ausübung37 bei jedem Kind entwickeln. Auch Gem- bris bestätigt, dass jeder Mensch eine entwicklungsfähige Musikalität besitzt, da man davon ausgehe, dass musikalische Fähigkeiten normalverteilt sind. Da- her könne auch jeder Mensch von musikalischer Unterweisung pro tieren.38

Eine Zusammenstellung verschiedener Forschungsergebnisse durch Bähr mit einer konkreten Au istung musikalischer Fähigkeiten bei Kindern be ndet sich im Anhang, wobei die Altersangaben darin aus den aufgeführten Gründen zu relativieren sind. Hier soll nur ein zusammengefasster Überblick über die bei sechsjährigen Kindern zu erwartenden musikalischen Fähigkeiten gegeben wer- den.

Bei ihrer Einschulung sind Kinder in der Lage, Konsonanz und Dissonanz zu unterscheiden und haben ein Gefühl für Tonalität und Unterscheidung von Harmonien entwickelt. Sie können schnelle und langsame Tempi unterschei- den und einfache, zweitaktige Rhythmen mit zwei verschiedenen Notenwerten nachklatschen. Bei leichter vokaler und rhythmischer Reproduktion können sie das Metrum durchhalten, sowie Bewegung und Metrum koordinieren. Auch ist es ihnen möglich, Instrumente im Zusammenklang mit anderen zu erken- nen.39 Über ihre sängerischen Fähigkeiten werde ich mich im Zusammenhang mit dem Thema Stimmbildung noch ausführlich äuÿern (vgl. hierzu 5.3).

Ein für die Grundschule besonders relevantes Forschungsergebnis, das immer wieder Bestätigung ndet, sei an dieser Stelle noch angeführt. Laut Bähr ist nachgewiesen, dass es ohne elterliche Förderung und besonderen Unter- richt schon vor der Pubertät zur Stagnation sensorisch-rezeptiver Fähigkei- ten kommt, da sich nur solche Fähigkeiten weiterentwickeln, die das Individu- um in seinem täglichen Leben unmittelbar benötigt. Ohne bewusste Planung und Ausbildung entstandene musikalische Fähigkeiten reichten allerdings nicht aus, damit sich Kinder, Jugendliche und Erwachsene verständig und kreativ mit Musik auseinandersetzen und sich erfolgreich musizierend betätigen könn- ten.40 Vielfach nachgewiesen ist auch, dass die Bedingungen für den Erwerb musikalischer Fähigkeiten in den ersten zehn Lebensjahren günstiger als in den folgenden Lebensjahren sind. Damit kommt insbesondere dem Musikunterricht in der Grundschule eine Schlüsselfunktion zu.41

2.4 Komponenten eines didaktischen Konzepts zur Förderung musikalischer Grundkompetenzen

Wie bereits angedeutet, sind die inhaltlichen Komponenten eines Unterrichts, der dem Aufbau musikalischer Grundkompetenzen dienen soll, eher zweitran- gig. Jank stellt heraus, dass das Schlagwort musikalische Grundkompeten- zen eher funktional gesehen werden sollte und dem gemeinsamen Musizieren, vielfältigem musikalischen Handeln und schlieÿlich der Erschlieÿung von Kul- tur verp ichtet 42 sein sollte.

Gies, Jank und Nimczik sehen den Erwerb musikalischer Grundkompetenz im Zentrum eines verbindlichen und durchgängigen Musikunterrichts in den ersten Jahren der Schullaufbahn. Für die Entwicklung eines Konzeptes zur Ver- mittlung musikalischer Grundkompetenzen haben sie zehn Strukturmerkmale, die auf gesichterte Aussagen der Lerntheorie aufbauen, aufgestellt. Sie wol- len über das eigene Tun eine musikalische Grundkompetenz aufbauen und die Schülerinnen und Schüler durch einen konsequenten und kontinuierlichen Lern- zuwachs motivieren.43 Auf diesem Weg sollen die musikalischen Erfahrungen der Kinder auf ein Fundament gestellt werden, von dem aus weitergehende Wege zu ästhetischen Erfahrungen in der Rezeption und Interpretation von Musik im Sinne eines kulturerschlieÿenden Musikunterrichts schrittweise erö - net werden.44 Im Folgenden sollen die zehn von Gies, Jank, und Nimczik aufgestellten Strukturmerkmale kurz vorgestellt werden:

Systematisch aufbauende Lernschritte:

Hierbei geht es vor allem um eine schrittweise aufbauende Di erenzierung der guralen Repräsentationen (auf diesen Begri soll im Kapitel Neurobiologische Forschungsergebnis- se unter 5.1.1 noch ausführlich eingegangen werden) durch musikprak- tische Übungen sowie eine schrittweise Di erenzierung des Musikwissens auf der Basis der erlangten guralen Repräsentationen. Ständige Rück- koppelungen und Einordnungen in gröÿere Zusammenhänge sollten dabei immer integriert sein.

Berücksichtigung unterschiedlicher musikalischer Komponenten:

In Ver- bindung mit Bewegung sollten die Komponenten Tonhöhe, Tondauer, Form und Klang jeweils für sich thematisiert und miteinander verknüpft werden.

Übung und Wiederholung: Musikalische Grundkompetenz kann nur gefes- tigt werden, wenn Übung und Wiederholung einen hohen Stellenwert im Unterricht haben. Daher sollte für diese Aktivitäten viel Zeit eingeräumt werden.

Musiklernen braucht Kontinuität: Dieser Aspekt ist aufgrund des beson- ders hohen Stellenwertes der Musizierpraxis bei einem Unterricht mit dem übergeordneten Lernziel Aufbau musikalischer Grundkompeten- zen unerlässlich, denn nur durch Regelmäÿigkeit und Kontinuität ist ein e zienter Fortschritt zu erwarten.

Früher Beginn: Ein möglichst früher Beginn unterstützt die Nachhaltigkeit des Musiklernens. Welche Bedeutung frühkindlichen Lernprozessen zu- kommt, wurde bereits im vorangegangen Abschnitt angesprochen.

Multisensorielles Lernen und senso-motorische Integration: Wie auch die neurobiologische Forschung bestätigt (vgl. 5.1..), ist dies sehr wichtig und grundlegend zur späteren Ausbildung geistiger und sozialer Fähig- keiten, da die enge und ursprüngliche Beziehung zwischen Musik, Körper und sinnlicher Wahrnehmung den Prozess der sensomotorischen Integra- tion (Prozess des Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke) unter- stützt.

Der Gebrauchswert der Musik für den Menschen: Schon in den vorhe- rigen Abschnitten wurde deutlich, wie wichtig es ist, dass die Schüler den Gebrauchswert der Musik für sich erkennen. Daher ist es notwendig, im Musikunterricht vielfältige Umgangsweisen mit Musik sowie gemein- sames musikalisches Handeln vor Publikum zu fördern.

Vernetzung mit dem Gesamtkonzept: Vorbereitende und aufbauende Übun- gen sollten stets in eine reichhaltige Musizierpraxis eingebettet sein.

Vielfalt musikalischer Erscheinungsformen: Es soll keine Beschränkung auf eine bestimmte Art von Musik geben.

Begründung der vermittelten Idiomatik: Melodisch und harmonisch beruht Popmusik und elektronische Musik wesentlich auf Stilmerkmalen, die in den Kompositionen des frühen 19. Jahrhundert ausgeprägt wurden. Ohne das Gesamtkonzept des Musikunterrichts darauf zu beschränken, muss die Vermittlung musikalischer Grundkompetenzen daher von einer Musik ihren Ausgang nehmen, für die gilt:

- sie ist grundtonbezogen
- sie basiert auf dem 12-tönigen temperierten Tonsystem
- Formen der Mehrstimmigkeit lassen sich auf Dreiklangsbildung zu- rückführen
- Grundlegende Bezugsebene für ihren Verlauf in der Zeit ist eine re- gelmäÿige Pulsfolge, die wiederum in einem engen Bezug zur Kör- perlichkeit steht
- sie ist formal strukturiert45

Um die realen Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Erwerbs musikalischer Grundkompetenzen in der Regelschule aufzuzeigen, möchte ich nun einige Fest- stellungen und Konsequenzen für den Musikunterricht vorstellen, die Bähr aus seinen Untersuchungsergebnissen zur Entwicklung einiger musikalischer Fähig- keiten bei Zehn- bis Zwölfjährigen nach einem zweijährigen Musikunterricht formuliert.

Zunächst stellt Bähr fest, dass man davon ausgehen muss, dass o enbar im üblichen Musikunterricht von der Herausbildung einer musikalischen Grund- kompetenz mit reproduktiven Fähigkeiten im Singen, Spielen und Bewegen, mit komplexeren Hörfähigkeiten und (wenigen) zur Anwendung geeigneten Grundkenntnissen der Notation keine Rede sein kann. 46 Er fordert daher eine stärkere Konzentrierung auf die Förderung solcher Fähigkeiten, die nicht zu- fällig erfolgen dürfe, sondern gestützt durch entwicklungspsychologische, lern- theoretische, didaktische und methodische Begründung und Planung. Für die Nachhaltigkeit der Entwicklung einer musikalischen Grundkompetenz hält er die Arbeit mit Patterns für notwendig. Auf diesen Aspekt soll später unter dem Punkt Methoden zur Förderung musikalischer Grundkompetenzen (vgl. 5.4.2) noch genauer eingegangen werden. Des Weiteren hält Bähr fest, dass die Kenntnis musikalischer Symbole und Begri e nur in Verbindung mit musikali- schen Handlungen erworben und verstanden werden. Sie müssen also immer an- wendungsbezogen angeeignet werden. Die wichtigste Aktionsform musikalisch- ästhetischer Praxis ist laut Bähr das Klassenmusizieren (vgl. 5.4.1).47

3 Funktionen von Musik und Bedürfnis nach Musik

Ein Musikunterricht, der all die oben aufgeführten Strukturmerkmale erfüllt, würde sicherlich mehr Platz in der Stundentafel und im schulischen Leben der Schüler einnehmen als derzeitiger regulärer Musikunterricht an den meis- ten deutschen Grundschulen. Um ihn durchsetzen zu können, müssten Musik- pädagogen Argumente in der Hand haben, warum sie es für wichtig erachten, dass eine breite musikalische Grundkompetenz bei den Kindern gefördert wird. Denn diese ist aus Sicht der meisten Menschen für ihren erfolgreichen, zufrie- den stellenden Umgang mit Musik im Alltag. . . gar nicht notwendig.1

Daher soll in diesem Kapitel eine Begründung dafür entwickelt werden, warum die musikalische Förderung wichtig ist. Nachdem in der ö entlichen Diskussi- on immer wieder die positive[n] Transfere ekte eines erweiterten Musikunter- richts presse-, ö entlichkeits- und ho entlich auch politisch wirksam2 heraus- gestellt wurden, soll es hier insbesondere darum gehen, herauszu nden, warum Menschen überhaupt musizieren, welche Funktion Musik also in der Mensch- heitsgeschichte gespielt hat bzw. heute noch spielt und welches Bedürfnis nach Musik bzw. Musizieren besteht. Denn bildungspolitisch bedeutsam ist das Plädoyer, den Stellenwert von Musik an den Schulen nicht über die Wirkun- gen des Faches für andere Teilbereiche zu legitimieren, sondern Musikerleben und Musikscha en an sich als bildungswertvoll zu betrachten.3

Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen soll die Funktion des Singens und das Bedürfnis nach sängerischem Ausdruck stehen, um eine theoretische Grundlage für die Begründung der Wahl des Schwerpunktes (Chor-)Singen im Anfangsunterricht der Grundschule zu nden. Ich erachte es als sehr sinnvoll, eine Begründungsstrategie für erweiterten Musikunterricht mit dem Ausgangs- punkt Singen im Bereich der Anthropologie zu suchen.

[...]


1 Der besseren Lesbarkeit wegen sind derartige Begri e stets geschlechtsneutral gemeint.

2 Vgl. Bastian, Hans Günther: Kinder optimal fördern mit Musik, Mainz 2003, S.9.

3 Vgl. Bähr, Johannes: Von der Schwierigkeit des Erwerbs musikalischer Grundkompetenz in der Schule. In: Diskussion Musikpädagogik 9/2001, S.31.

4 Vgl. Kraemer, Rudolf-Dieter (Hrsg.): Musikpädagogik eine Einführung in das Studium, Augsburg 2004, S.143.

5 Third International Mathematics and Science Study

6 Menuhin, Yehudi, zitiert in: Mohr, Andreas: Die Kinderstimme Funktion und P ege. Vortrag beim Studientag Chorklassen an der Musikhochschule Hannover, 2005, S.1. http://www.kinderstimmbildung.de/hannover.htm.

1 Kaiser, J. Hermann: Kompetent, aber wann? Über die Bestimmung von musikalischer Kompetenz in Prozessen ihres Erwerbs. In: Musik und Bildung 3/01, S. 5.

2 Vgl. ebd.

3 Vgl. Jank, Werner: Ist Musiklernen wie Sprechenlernen? Musikalische Grundkompeten- zen: Die Musikdidaktik muss von der Lerntheorie lernen. In: Musik und Bildung 3/01, S.38.

4 Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein- Westfalen: Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2003, S.13.

5 Ebd., S.93.

6 Die vollständige Liste be ndet sich im Anhang.

7 Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule, a.a.O., S.104

8 Ebd., S.105

9 Vgl. Nimczik, Ortwin: Musik lernen in der Schule? Einleitende Gedanken zur Situation des Musikunterrichts. In: Musik und Bildung 3/01, S.4.

10 Ebd.

11 Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule, a.a.O., S.93.

12 Gembris, Heiner: Musische Bildung und Persönlichkeitsentwicklung Zur Relevanz kultureller Bildung in allgemein bildenden Schulen. In: Die Grünen im Landtag NRW : Kultur macht schlau. Musische Erziehung in der Schule stärken, S.11. www.gruene.landtag.nrw.de/archiv/archiv2003/broschueren/pdf/0311-Kultur-macht- schlau.pdf.

13 Ebd.

14 Vgl. Bähr, J.: Schwierigkeit des Erwerbs musikalischer Grundkompetenz, a.a.O., S.31.

15 Bähr, Johannes: Was sollten Kinder können? Musikalische Grundkompetenz und Qua- litätsentwicklung im Musikunterricht. In: Musik und Bildung 3/2001, S.24.

16 Kaiser, J.H.: Kompetent, aber wann? a.a.O., S.5

17 Ebd., S.6.

18 Ebd.

19 Ebd.

20 Ebd.

21 Ebd.

22 Ebd., S.9.

23 Ebd., S.10.

24 Ebd.

25 Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen: Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe I Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Musik, Düsseldorf 1999, S.24.

26 Ebd.

27 Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mit- telalter bis zur Gegenwart, München 1991, S.13.

28 Vgl. Nimczik, O.: Musik lernen in der Schule? a.a.O., S.4.

29 Bähr, Johannes: Was sollten Kinder können? Musikalische Grundkompetenz und Qua- litätsentwicklung im Musikunterricht. In: Musik und Bildung 3/2001, S.26.

30 Ebd.

31 Bähr, J.: Was sollten Kinder können? a.a.O., S.27.

32 Vgl. ebd.

33 Gies, Stefan/ Jank, Werner/ Nimczik, Ortwin: Musik lernen. Zur Neukonzeption des Musikunterrichts in den allgemeinbildenden Schulen. In: Diskussion Musikpädagogik 9/01, S.8.

34 Gembris, Heiner: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten. In: De la Motte-Haber, Helga (Hrsg.): Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Band 3 Musikpsycho- logie, Laaber 2004, S.398.

35 Vgl. Bähr, J.: Schwierigkeit des Erwerbs musikalischer Grundkompetenz, a.a.O., S.26.

36 Vgl. Bähr, J.: Was sollten Kinder können? a.a.O., S.25.

37 Bähr, J.: Schwierigkeit des Erwerbs musikalischer Grundkompetenz, a.a.O., S.28.

38 Vgl. Gembris, H.: Die Entwicklung musikalischer Fähigkeiten, a.a.O., S.399.

39 Vgl. Bähr, J.: Schwierigkeit des Erwerbs musikalischer Grundkompetenz, a.a.O., S.27f.

40 Vgl. Bähr, J.: Was sollten Kinder können? a.a.O., S.25.

41 Vgl. Jank, W.: Ist Musiklernen wie Sprechenlernen? a.a.O., S.38.

42 Ebd.

43 Nimczik, O.: Musik lernen in der Schule? a.a.O., S.4.

44 Ebd.

45 Vgl. Gies S./ Jank, W./ Nimczik, O.: Musik lernen, a.a.O., S.17 .

46 Bähr, J: Schwierigkeit des Erwerbs musikalischer Grundkompetenz, a.a.O., S.44.

47 Vgl. ebd.

1 Bähr, J.: Was sollten Kinder können? a.a.O., S.24.

2 Ebd.

3 Kahlert, Joachim/ Huber, Ludowika: Zwischen Bildungserwartung und Nutzenkal- kül - muss sich der Bildungswert von Musikunterricht (wieder einmal) beweisen? In: Huber, Ludowika/ Kahlert, Joachim (Hrsg.): Hören lernen. Musik und Klang machen Schule, Braunschweig 2003, S.12.

Ende der Leseprobe aus 77 Seiten

Details

Titel
Die Förderung musikalischer Grundkompetenzen im Anfangsunterricht der Grundschule durch Chorarbeit in der Klasse
Hochschule
Universität Münster  (Institut für Musikpädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
77
Katalognummer
V62716
ISBN (eBook)
9783638559133
ISBN (Buch)
9783638861649
Dateigröße
818 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Förderung, Grundkompetenzen, Anfangsunterricht, Grundschule, Chorarbeit, Klasse
Arbeit zitieren
Dorothee Ahlrichs (Autor:in), 2006, Die Förderung musikalischer Grundkompetenzen im Anfangsunterricht der Grundschule durch Chorarbeit in der Klasse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62716

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