Der Menschensohn: Eine Auseinandersetzung mit dem Titel und dem Selbstverständnis Jesu


Hausarbeit, 2002

27 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Der biblische Befund
1.1 Der Gebrauch des Titels im Neuen Testament
1.2 Der alttestamentliche Hintergrund
1.3 Der Menschensohn in den Nachtgesichten des Daniel

2. Menschensohnerwartungen im Judentum zu hellenistisch-römischer Zeit
2.1 Der Mensch aus der Esra-Apokalypse
2.2 Der Menschensohn im Buch Henoch
2.3 Der Menschensohn: Ein Titel in der jüdischen Apokalyptik?

3. Jesus der Menschensohn
3.1 Eine sprachliche Beobachtung: Der υιος του αθρώπου
3.2 Jesus der Menschensohn: Der Sprachgebrauch beim historischen Jesus
3.3 Jesus der Menschensohn: Die Deutung des Menschensohntitels

4. Literatur

0. Einleitung

Der Titel "Menschensohn" wird in der neutestamentlichen Forschung übereinstimmend als einer der wichtigsten christologischen Begriffe angesehen. Allerdings herrscht unter den deutschen Exegeten Uneinigkeit darüber, mit welchem Inhalt der Begriff zu füllen ist und ob er als Hoheitstitel dem Sprachgebrauch des historischen Jesus zugewiesen werden kann.

In der vorliegenden Arbeit sollen die Bedeutung, der Inhalt und die Wesensmerkmale des Menschensohnbegriffs untersucht werden. Dazu soll zunächst der Gebrauch des Titels im Neuen Testament untersucht werden. In welchen neutestamentlichen Schriften taucht der Titel überhaupt auf? Gibt es unter diesen Schriften, in denen er besonders häufig verwendet wird? Darüber hinaus ist nach der Verwendung des Titels im Alten Testament zu fragen. Sind für den Menschensohntitel der Ursprung oder zumindest Anklänge im Alten Testament auszumachen? Diese Überlegung leitet weiter zur Frage nach dem Auftreten des Titels in der apokalyptischen Literatur des Judentums zu hellenistisch-römischer Zeit[1].

Sind auf diesem Weg die Herkunft des Titels und seine neutestamentliche Verwendung bedacht worden, so kann sich die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu anschließen. Zeigt uns der Titel 'Menschensohn' etwas über das Selbstverständnis Jesu? Und – wenn er das tut – was ist das Besondere dieses Titels?

Bei diesen Überlegungen sollen unterschiedliche Positionen der neutestamentlichen Wissenschaft zur Sprache kommen und reflektiert werden.

1. Der biblische Befund

Der Titel "Menschensohn" taucht explizit nur in den Schriften des Neuen Testaments auf[2]. Darüber hinaus gibt es Vorläufer für die Verwendung des Menschensohnbegriffs im Alten Testament, die allerdings nicht ganz einfach zu entdecken und zu entschlüsseln sind.

In diesem Kapitel der Arbeit soll festgehalten, in welchen Zusammenhängen der Titel in der Bibel zu finden ist. Dabei sind sowohl die Stellen zu berücksichtigen, in denen der Titel dem Wort nach erscheint, als auch diejenigen, in denen der Titel nicht wörtlich erscheint, die aber für die Bedeutung des Titels von Belang sind.

1.1 Der Gebrauch des Titels im Neuen Testament

Im Neuen Testament begegnet uns der Titel "Menschensohn" fast ausschließlich in den Evangelien. In der Form "Menschensohn" ist er nur an drei anderen Stellen zu finden: Zweimal in der Offenbarung des Johannes (Offb 1,13 und Offb 14,14) und einmal in der Rede des Stephanus (Apg 7,56). Bei den beiden Stellen aus der Offenbarung handelt es sich augenscheinlich um die Verwendung von Bildern, die sich an die Nachtgesichte des Danielbuches (Dan 7) anlehnen. Sie können daher an dieser Stelle außer Acht gelassen werden, da die Bilder vom Menschensohn in Dan 7 im Abschnitt 1.3 behandelt werden.

Das Wort des Stephanus von Jesus als dem Menschensohn, der zur Rechten Gottes sitzt (Apg 7,55f.), stellt einen Sonderfall dar. Hier wird der Menschensohntitel durch den Menschen Stephanus auf Jesus bezogen. Die Verwendung des Titels durch einen Menschen unterscheidet Apg 7,56 in formaler Hinsicht von der Verwendung des Titels in den Evangelien; inhaltlich stimmt Apg 7,56 jedoch mit einer der Bedeutungen, die dem Menschensohnbegriff von den Evangelien her zukommen, überein: Es geht um die Hoheit Jesu.

Damit ist der Untersuchung zur Deutung des Titels im Neuen Testament allerdings schon vorgegriffen. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass der Titel fast ausschließlich in den Evangelien zu finden ist. Siebenundzwanzigmal taucht er bei Matthäus auf, dreiundzwanzigmal bei Lukas, dreizehnmal bei Markus und elfmal bei Johannes. Kein anderer Titel erscheint in den Evangelien so häufig.

Die Aussagen über den Menschensohn werden durch drei formale Merkmale charakterisiert[3]:

1. Der Menschensohnbegriff begegnet uns immer in Jesusworten – mit Ausnahme von Joh 12,34, wo das Volk die Worte Jesu (Joh 12,23) aufgreift.
2. Jesus spricht vom Menschensohn immer in der dritten Person und scheint damit einen anderen zu bezeichnen.
3. Der Menschensohnbegriff bedarf keiner Erklärung und ruft bei Jesu Zuhörern auch keinen Widerspruch oder Streit hervor. Nur in Joh 12,34 fragt das Volk Jesus: "Wer ist dieser Menschensohn?"

Die Worte vom Menschensohn lassen sich in drei Gruppen einteilen: Worte über die Gegenwart des Menschensohns, Worte über das Leiden des Menschensohns und Worte über die Zukunft des Menschensohns[4]. Diese Gruppen geben die drei entscheidenden Schwerpunkte an, die dem Menschensohnbegriff zukommen, wobei für die Worte aller Gruppen die oben genannten Charakteristika gelten.

1. Worte über die Gegenwart des Menschensohns

Die Gegenwart des Menschensohns ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Ort seines Wirkens wirklich bei den Menschen ist – und zwar bei denen, die ganz unten sind, bei den Ärmsten der Armen und den Ausgegrenzten (Mt 11,19). Der Menschensohn sieht seine Aufgabe darin, für die Sünder, für die "Fresser und Weinsäufer", da zu sein, diese Verlorenen aufzusuchen und ihnen zu dienen (Mk 10,45; Lk 19,10). Den Zugang zu den Sündern sucht der Menschensohn zu finden, indem er sich mit ihnen identifiziert: Er ist selbst einer, der keinen Rückzugsort hat, der ruhelos und heimatlos unter den Menschen umherzieht (Mt 8,20). Hier liegt die Betonung im Wort 'Menschensohn' auf dem Menschen. Der Menschensohn ist zunächst und vor allem Mensch. Darüber hinaus gibt es aber in den Worten zum gegenwärtigen Wirken des Menschensohns einen Aspekt, der über sein Menschsein hinausweist: Nach Mk 2,10 (parallel Mt 9,6 und Lk 5,24) hat der Menschensohn die Vollmacht zur Sündenvergebung. Außerdem ist er bereits in seinem irdischen Wirken Herr über den Sabbat (Mk 2,28; Mt 12,8; Lk 6,5).

2. Worte zum Leiden des Menschensohns

In einer Reihe von Worten wird angesprochen, dass zum Dasein des Menschensohns auch das Leiden gehört. Dabei ist vor allem an die Leidensankündigungen Jesu zu denken. An allen synoptischen Stellen, an denen Jesus die Jünger auf sein bevorstehendes Leiden hinweist, gebraucht er dabei – in der Komposition der Evangelisten – den Titel Menschensohn (Mk 8,31; 9,31; 10,33f. sowie die synoptischen Parallelen)[5]. Im Johannesevangelium wird das Leiden des Menschensohns bereits als Teil der Hoheit Jesu gedeutet: Kreuzigung und Tod Jesu werden hier mit Vokabeln wie "Verherrlichung" und "Erhöhung" benannt (Joh 3,14; 12,23 u.a.). Dass diese Erhöhung zunächst einmal den Tod Jesu bedeutet, ist nur aus dem Zusammenhang heraus erkennbar, nicht aber in den einzelnen Worten.

3. Worte zur Zukunft des Menschensohns

In der dritten Gruppe der Menschensohnworte finden sich Aussagen über einen kommenden Menschensohn. Diese Worte haben einen stark eschatologischen Charakter; sie stehen im Kontext von Worten über die Endzeit (z. B. Mk 13,24-27 sowie die synoptischen Parallelen). Danach wird am Ende der Zeiten eine von Jesus als Menschensohn bezeichnete Gestalt erscheinen und eine Anzahl auserwählter Menschen um sich sammeln (Mk 13,27). Das Lukasevangelium erwähnt die Sammelung der Auserwählten nicht (Lk 21,25-27), spricht aber davon, dass das Kommen des Menschensohns der Beginn einer Heilszeit ist (Lk 21,28).

Bei Matthäus findet sich ein weiterer wichtiger Aspekt des kommenden Menschensohns: Der kommende Menschensohn ist ein Richter (Mt 25,31-46). Seine Ankunft ist mit einem Gericht über alle Völker, einem Weltgericht, verbunden. Entscheidend ist hierbei das Kriterium, das seinem Gericht zugrunde liegt: Es ist das Kriterium der Nächstenliebe (Mt 25,40). Maßstab für die Gerichtsentscheidungen ist die Barmherzigkeit; allerdings – so wie es in dieser Perikope formuliert wird – die Barmherzigkeit, die die Menschen ausgeübt haben.

Alle Aussagen über den kommenden Menschensohn sind ausgesprochen hoheitliche Aussagen. Der Menschensohn wird als der Mächtige, auf einer Wolke Kommende beschrieben (Mk 13,26; Lk 21,27 u.a.). Er wird über den Völkern thronen (Mt 25,31), er wird sogar "der König" genannt (Mt 25,34.40).

Neben dem Titel "Menschensohn" findet sich im Neuen Testament an einer Stelle im Hebräerbrief die Wendung "Sohn des Menschen": In Hebr 2,6 werden Verse aus Psalm 8 zitiert. Der Verfasser des Hebräerbriefes bezieht die Verse 5 bis 7 auf Jesus Christus; Christus ist "des Menschen Sohn" (Hebr 2,6), dem alles "unter seine Füße getan" (Hebr 2,8) wurde, der also Herrscher über die ganze Welt ist. In Psalm 8 ist dagegen mit der Wendung "des Menschen Sohn" zunächst offenbar an den Menschen gedacht, ohne mit dieser Formulierung sofort eine Hoheitsaussage zu machen – dementsprechend übersetzt M. Luther den fünften Vers so: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?"

Wir müssen also danach fragen, welchen Hintergrund die Wendung "Sohn des Menschen" im Alten Testament hat. Was ist das Besondere am "Sohn des Menschen" beziehungsweise am "Kind des Menschen" im Verständnis des Alten Testaments? Verbunden mit dieser Überlegung ist die Frage danach, ob bereits im Alten Testament der Titel "Menschensohn" zu finden ist. Dem soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.

1.2 Der alttestamentliche Hintergrund

Es ist nicht ganz einfach, sich einen Überblick über das Auftreten der Wendungen "Sohn des Menschen", "Kind des Menschen" und "Menschensohn" in den Schriften des Alten Testaments zu verschaffen. Die Schwierigkeit liegt hierbei in den unterschiedlichen Begriffen, mit denen deutsche Übersetzungen das hebräische Wort "ben-adam" beziehungsweise das aramäische Äquivalent "bar-nascha" wiedergeben[6]. So findet sich in der Zürcher Bibel im Buch Ezechiel an vielen Stellen das Wort "Menschensohn" (Ez 2,1.3.6.8; 3,1.3.4 u.v.m). "Menschensohn" ist hier die Anrede Gottes an den Propheten Ezechiel. Bei M. Luther finden wir dagegen an all diesen Stellen statt des Wortes Menschensohn die Anrede "Menschenkind" (Ez 2,1.3 u.a.). Nach M. Luther geht es also an diesen Stellen bei Ezechiel weniger um einen bestimmten Titel, sondern zunächst darum, das Menschsein des Propheten – im Gegensatz zum Gott-Sein des Sprechers – zu betonen. Der Schwerpunkt liegt daher weniger darauf, dass der Angesprochene Sohn ist; entscheidend ist, dass er Kind eines Menschen ist: Seiner Abstammung nach gehört er zu den Menschen.

[...]


[1] Die gängige Bezeichnung "Spätjudentum" wird offenbar zunehmend als schwierig empfunden, da sie unterstellt, dass mit der Zeitenwende das Judentum an sein geistiges Ende gelangt sei (so z. B. http://www.uni-leipzig.de/~nt/asp/blaetter/judaism.htm, http://www.buber.de/cj/chrjud7.htm, http://www.sonntagsblatt.de/artikel/1998/4/4-s10.htm). Aus diesem Grund soll in dieser Arbeit die Bezeichnung "Judentum zu hellenistisch-römischer Zeit" verwendet werden; gemeint ist damit der Zeitraum zwischen dem 2. Jh. v. Chr. und dem 2. Jh. nach Chr.

[2] Alle Angaben zum Auftreten des Titels und anderer sprachlicher Wendungen (Sohn des Menschen, Menschenkind, der Menschen Sohn) in der Bibel beziehen sich auf die Übersetzung nach M. Luther und wurden mit Hilfe der Multimediabibel ermittelt.

[3] Nach G. Theißen und A. Merz. Theißen, S. 474

[4] O. Cullmann beschränkt sich auf zwei Kategorien von Jesusworten zum Menschensohnbegriff: Worte zum eschatologischen Werk und Worte zur irdischen Aufgabe (Cullmann, S. 158). Er sieht das Leiden des Menschensohns eingebunden in seine Richterfunktion, die wiederum Bestandteil des eschatologischen Wirkens ist (Cullmann, S. 160f.). Ich unterteile die Menschensohnworte nach G. Theißen und A. Merz in drei Gruppen (Theißen, S. 474 - 476). Über G. Theißen und A. Merz hinausgehend sehe ich in den Worten zum Leiden des Menschensohns deshalb Worte mit einem eigenen Stellenwert, weil dem Leiden die wichtige Funktion der Verbindung zwischen dem gegenwärtigen und dem kommenden Menschensohn zukommt. Siehe dazu den Abschnitt 3.3 "Jesus der Menschensohn: Die Deutung des Menschensohntitels".

[5] Mit einer Ausnahme: Mt 16,21 nennt den Titel nicht. Nach der Komposition der Evangelien haben die Jünger die Leidensankündigungen so verstanden, dass Jesus mit dem Wort vom Menschensohn sich selbst bezeichnet; dafür sprechen jedenfalls ihre Reaktionen: Trauer, Unverständnis und sogar Abwehr (Mt 17,23; Mk 9, 32; Mk 8,32).

[6] Die wörtliche Übersetzung für beide Begriffe, "ben-adam" und "bar-nascha", ist zwar "Sohn des Menschen", sie werden aber ebenso in der Bedeutung "Mensch" verwendet. Siehe dazu auch die philologischen Erwägungen im Abschnitt 3.1 "Eine sprachliche Beobachtung: Der υιος του αθρώπου ".

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Der Menschensohn: Eine Auseinandersetzung mit dem Titel und dem Selbstverständnis Jesu
Hochschule
Universität Bielefeld
Veranstaltung
Seminar christologische Hoheitstitel
Note
1.0
Autor
Jahr
2002
Seiten
27
Katalognummer
V62301
ISBN (eBook)
9783638555678
ISBN (Buch)
9783656806875
Dateigröße
561 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit reflektiert den Gebrauch der Wendungen "Sohn des Menschen/ Menschensohn" in den Evangelien und die mögliche Herkunft der Bezeichnung in ausgewählten Schriften des Judentums zu hellenistisch-römischer Zeit (Dan, äthHen, 4Esr). Unter Berücksichtigung des AT und sprachlicher Beobachtungen geht sie der Frage nach, inwieweit "Menschensohn" ein Hoheitstitel ist und ob Jesus sich selbst als Menschensohn verstanden hat.
Schlagworte
Menschensohn, Eine, Auseinandersetzung, Titel, Selbstverständnis, Jesu, Seminar, Hoheitstitel
Arbeit zitieren
Marcus Weber (Autor:in), 2002, Der Menschensohn: Eine Auseinandersetzung mit dem Titel und dem Selbstverständnis Jesu, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/62301

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