Die Zukunft des Ehrenamts. Neue Formen freiwilligen Engagements und deren Folgen für die ehrenamtliche Arbeit in Pfarrgemeinden


Diplomarbeit, 2006

111 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema
1.2 Der Gang der Untersuchung

2. Geschichtlicher Überblick über das ehrenamtliche Engagement in Deutschland

3. Gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement
3.1 Gesellschaftliche Veränderungen
3.2 Veränderungen im Bereich des Ehrenamtlichen Engagements
3.2.1 Der Freiwilligensurvey
3.2.2 Entstehung von neuen Formen freiwilligen Engagements

4. Ehrenamtliches Engagement und Erwerbsarbeit
4.1 Einleitung
4.2 Geschichtlicher Überblick
4.3 Aussagen des Freiwilligensurveys
4.4 Die „Zeitbalance oder Zeitkonkurrenz“-Studie

5. Die Rolle des Staates
5.1 Einleitung
5.2 Funktionen des Staates
5.3 Empfehlungen der Enquete-Kommission

6. Ehrenamt und Hauptamt in der Kirche
6.1 Einleitung
6.2 Das kirchliche Personal
6.3 Tätigkeiten von Ehrenamtlichen in Bezug auf Hauptamtliche
6.4 Fazit

7. Auswirkungen neuer Formen ehrenamtlichen Engagements auf traditionelle Träger
7.1 Einleitung
7. 2 Auswirkungen auf Wohlfahrtsverbände und Pfarrgemeinden

8. Leitideen für den Umgang mit ehrenamtlichen Mitarbeitern in Pfarrgemeinden

9. Konzeption eines Seminars für ehrenamtliche Mitarbeiter in Pfarrgemeinden
9.1 Intentionen der Seminarreihe
9.2 Bedeutung des Themas
9.3 Aufbau der Seminarreihe
9.4 Erwartungen hinsichtlich der Teilnehmer
9.5 Methodische Überlegungen
9.6 Fazit

10. Schlusswort

11. Literatur

12. Erklärung

13. Anhang

Die Arbeit benutzt die Schriftart „Arial“, 12 cpi,

der Zeilenabstand beträgt 1½ “.

Zitate werden in der Arbeit mit den Vorgaben der neuen Rechtschreibung geändert.

In der Arbeit werden an Stelle der Doppelbezeichnung in der männlichen und der weiblichen Form grundsätzlich männliche Formen benutzt. Dies soll lediglich die Leserlichkeit des Textes verbessern. Unabhängig davon sind natürlich Frauen und Männer gleichermaßen angesprochen.

1. Einleitung

1.1 Hinführung zum Thema

„Die Zukunft des Ehrenamts“ – schon viel ist zu diesem Thema
geschrieben und getagt und erzählt worden.[1] Ein erneutes Interesse auch in der Öffentlichkeit erlangte das Thema mit dem von den Vereinten Nationen initiierten „Jahr der Freiwilligen“ 2001. Auch die damalige Bundesregierung nahm sich dieses Themas an und richtete eine „Enquete-Kommission“ mit dem Titel „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ ein.

Die Diskussion über das Ehrenamt wird von den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen und in unterschiedlichsten Zusammenhängen geführt. So wird Ehrenamt oder Freiwilligenarbeit thematisiert

- „als gesellschaftliches Potenzial und unter der Frage der Rekrutierbarkeit von Freiwilligen,
- als Möglichkeit der Umverteilung gesellschaftlich notwendiger,
bezahlter und unbezahlter Arbeit,
- als ökonomische und soziologische Analyse des Nonprofit-Sektors,
- als Ausdruck für das Unbehagen an der Bürokratisierung professioneller Expertensysteme,
- als Ansatz zur Neukonzeption gesellschaftlicher Solidarität,
- als Ausdruck des Verhältnisses von Individualismus und Gemeinsinn sowie Sozialintegration oder
- in der Funktion der ‚Freiwilligenarbeit’ für Frauen aus der Geschlechterperspektive.“[2]

Diese Auflistung zeigt mit einem kurzen Überblick die Komplexität der Diskussion über das Ehrenamt. Jeder Bereich wird unter unterschiedlichen Funktionen oder Aufgaben betrachtet, doch ist allen gemein, dass sie Ehrenamt als eine wichtige, tragende Säule der Gesellschaft sehen, welche es zu erhalten und zu fördern gilt.

In Deutschland engagieren sich 36 % der Bevölkerung über
14 Jahren in irgendeiner Form freiwilliger Tätigkeit.[3] Vor allem im sozialen Bereich ist das Ehrenamt eine gern gesehene Freizeitbeschäftigung. Kirchen und deren nahe stehende Verbände und
Organisationen greifen zu einem großen Teil auf Ehrenamtliche zurück. Hier aber zeigt sich vor allem bei den traditionellen Trägern ehrenamtlichen Engagements ein Problem, dass eben diese weniger Zulauf an Ehrenamtlichen haben, als sie es benötigten. Umfragen wie der Freiwilligensurvey oder das Soziookönomische Panel dagegen zeigen, dass das Engagement nicht nachlässt.[4] Vielmehr sind neue Formen wie Freiwilligenzentren, Nachbarschaftshilfe
oder Projektgruppen zu bestimmten Themen entstanden, die häufig attraktiver sind, als die Mitarbeit in klassischen Ehrenämtern, wie Kapitel 2 aufzeigt.

An dieser Stelle setzt die Untersuchung ein: Was können traditionelle Träger ehrenamtlichen Engagements von diesen neuen Formen lernen? Lassen sich Ideen oder Leitlinien für die Arbeit mit Ehrenamtlichen in den traditionellen Trägern entwickeln? Wie lassen sich diese Ideen in ein Seminar zur Schulung von ehramtlichen Mitarbeitern umsetzen?

Antworten auf diese Fragen geben das achte und neunte Kapitel am Beispiel der Arbeit mit Ehrenamtlichen in Pfarrgemeinden. Warum gerade der Blick auf Ehrenamtliche in Pfarrgemeinden? Diese Frage verdient eine differenzierte Antwort: Zum einen hat dies den Grund, dass der Verfasser dieser Untersuchung zu Beginn der Arbeit neben dem Studium der Erziehungswissenschaften mit einer 50%-Stelle als Mitarbeiter im Pastoralen Dienst in
einer katholischen Pfarrgemeinde des Bistums Münster in Duisburg (Homberg) arbeitete.[5] Zum anderen ist dem Verfasser durch eigenes Erleben und durch Gespräche mit Kollegen zu Beginn seiner Überlegungen für die Diplomarbeit aufgefallen, dass es im Bereich der Pfarrgemeinden nur wenig Koordination bzw. Management für die Arbeit mit ehrenamtlichen Kräften in Pfarrgemeinden gibt. Dazu ist es dem Verfasser dieser Untersuchung wichtig, Erkenntnisse für die Tätigkeit mit Ehrenamtlichen in Pfarrgemeinden zu erlangen. Auf Seiten der katholischen Verbände sind in den vergangenen Jahren Positionspapiere oder Leitlinien entstanden, die jedoch auf die Arbeit mit Ehrenamtlichen in Verbänden zielen.[6] Diese Untersuchung schaut gezielt auf die Pfarrgemeinde, da es auch in diesem Bereich immer wichtiger wird, die haupt- und ehrenamtlichen Kräfte miteinander zu vernetzen und zu bündeln. Ein Grund hierfür sind die regionalen Strukturen für die Arbeit, die immer größer werden. Hier sei an die Fusionswelle, die die Pfarrgemeinden ‚überrollen’, gedacht.[7] Aber auch der Mangel an Priestern und der absehbare Mangel an weiteren Hauptamtlichen lässt den Blick auf Ehrenamtliche leiten, da diese den „den gemeindlichen Betrieb“[8] aufrechterhalten können. Angeregt wurde der Verfasser auch durch die Lektüre des Buches „Ich bewege etwas – Ehrenamtliches Engagement in der katholischen Kirche“, herausgegeben von Walter Bender, welches aus einem Forschungsprojekt „Kirchliches Ehrenamt“ an der Universität Bamberg hervorgegangen ist.

Dieses Thema wird im Bereich der Erwachsenenbildung im Fachbereich Berufs- und Wirtschaftspädagogik behandelt. Dies hat den Grund, dass sich das Ehrenamt im Laufe seiner Geschichte immer mehr professionalisiert hat bzw. Forderungen nach Professionalisierung deutlicher etabliert werden. Wer ehrenamtlich tätig ist, macht dies in der Regel neben seiner Erwerbsarbeit, arbeitet aber mit denselben Kompetenzen und Qualifikationen im Ehrenamt wie auch im Erwerbsleben. Die Tatsache, dass das Ehrenamt keine Profession, kein Beruf ist, schließt nicht automatisch eine Behandlung dieses Themas im Bereich der Berufs- und Wirtschaftspädagogik aus. Vielmehr verdient ein professionell gestaltetes Ehrenamt eine Betrachtung aus wirtschafts- und berufspädagogischer Sicht. Dies will diese Untersuchung leisten, um so das Ehrenamt auch aufzuwerten.

1.2 Der Gang der Untersuchung

Nach einer Einleitung in die Thematik der Untersuchung folgt das zweite Kapitel mit einem Überblick über die Geschichte des ehrenamtlichen Engagements in Deutschland. Hier werden untersuchungsrelevante Definitionen erstellt. Im dritten Kapitel werden
gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf die ehrenamtliche Tätigkeit mit Blickrichtung auf die Schaffung neuer Möglichkeiten ehrenamtlichen Engagements untersucht. Hierbei wird auf Daten des Freiwilligensurveys[9] zurückgegriffen, die als Basis für diese Untersuchung dienen sollen. Im vierten Kapitel wird auf Wechselwirkungen von ehrenamtlicher Tätigkeit und Erwerbsarbeit geschaut, um herauszufinden, ob die eine Tätigkeit auf die jeweils andere positive oder negative Auswirkungen hat, wozu
weitere Daten aus einer weiteren repräsentativen Studie benutzt werden.[10] Das fünfte Kapitel zeigt Rahmenbedingungen des ehrenamtlichen Engagements aus Sicht der Politik und des Staates. Im sechsten Kapitel wird das Verhältnis von Ehrenamt und Hauptamt, vor allem mit Blick auf Pfarrgemeinden erörtert. Das siebte Kapitel thematisiert Auswirkungen neuer Formen freiwilligen Engagements auf die bisherigen traditionellen Träger ehrenamtlichen Engagements, vor allem mit Blick auf die Arbeit mit Ehrenamtlichen in Pfarrgemeinden. Hierzu wird vor allem das Buch von Walter Bender als Grundlage genutzt. Das achte Kapitel erarbeitet Leitlinien für den Umgang mit ehrenamtlichen Mitarbeitern in Pfarrgemeinden. Hier werden kurze Statements mit Erläuterungen gegeben. Im neunten Kapitel wird ausgehend von den Leitlinien ein Seminar zur Schulung von ehrenamtlichen Mitarbeitern in Pfarrgemeinden entwickelt. Ein Schlusswort als zehntes Kapitel rundet die Untersuchung ab und fasst die einzelnen Abschnitte zusammen.

2. Geschichtlicher Überblick über das ehrenamtliche Engagement in Deutschland

Eine Untersuchung über die Zukunft des Ehrenamts muss auch einen Blick in die Entstehungszeit des Ehrenamts beinhalten, um so aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Seit wann also wird von Ehrenamt gesprochen? Wann in welchem Zusammenhang ist der Begriff entstanden?

Historisch betrachtet ist ehrenamtliches Engagement schon in der Antike begründet: Es geht zurück auf Gedanken der griechischen Polis und der römischen Republik. In bürgerlicher Freiheit sollten die Einwohner zur Mitwirkung in die Verwaltung mit einbezogen werden. Durch freiwilliges Engagement wird eine Selbstverwaltung möglich. Diese taucht dann im Mittelalter in italienischen Stadtstaaten wieder auf.[11]

Weitere historische Wurzeln für ehrenamtliches Engagement findet sich in der jüdisch-christlichen Tradition, auf die die Werteorientierung in Deutschland und Europa gründet. Die Sozialethik des Judentums beinhaltet eine Hinwendung zum anderen Menschen. Ein Wort von Leo Baeck (1873-1956), einem der führenden Gelehrten des Judentums seiner Zeit, besagt: „Im Judentum gibt es keine Religion ohne das Soziale und kein Soziales ohne Religion.“[12] Für das Christentum gilt ebenso: Ein gläubiger Christ kann sich nicht nicht engagieren, da der Glaube immer ein sozial-caritives, diakonales Engagement mit einschließt. Christus selbst sagt auf die Frage, was das höchste Gebot sei: „Du sollst den Herrn, Deinen Gott lieben [...] und den Nächsten wie Dich selbst.“[13] Dieses so genannte ‚Doppelgebot der Liebe’, „das neben die Gottesliebe mit
gleichem Gewicht die Nächstenliebe stellt, will so verstanden sein, dass sich die Gottesliebe in der Nächstenliebe erweist und bewährt.“[14] Nur nach außen gläubig sein, funktioniert nicht, „denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“[15] Das Beispiel vom Barmherzigen Samariter schildert ehrenamtliches soziales Engagement: Ein Fremder, sogar ein Ausländer, übernimmt die Fürsorge eines Kranken, kümmert sich um ihn und zahlt auch noch für seine weitere Versorgung.[16]

Wir können zwar heute von einem mehr und mehr säkularisierten Staat ausgehen, in der kirchliche Milieus nahezu aufgelöst sind, doch ist diese Haltung der Nächstenliebe im ehrenamtlichen sozial-caritativen, diakonalen Engagement der Kirchen noch stark verortet.

Der Begriff des „Ehrenamts“ taucht zum ersten Mal mit Beginn der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland auf. In den Reformen der preußischen Ministerpräsidenten Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757-1831) und Karl August Freiherr von
Hardenberg (1750-1822) wurde gezielt der Bürger mit in die Verwaltung einbezogen. In der preußischen Städteordnung von 1808 wurden „Bürger zur Übernahme ‚öffentlicher Stadtämter’ verpflichtet [...], ohne dafür ein Entgelt beanspruchen zu können.“[17] Es war somit ein ‚Amt’, für das der Akteur je nach Qualität und Engagement ‚Ehre’ erwerben konnte.[18] Mit dem Ehrenamt war immer ein Nutzen für den Träger, also die Kommune oder den Verein, verbunden: Das eigene Prestige und der Einfluss, den der Akteur mitgebracht hat, war für das Amt nutzbar und somit dem Träger nützlich. Die Entstehung des Ehrenamts war an die Selbstverwaltung der öffentlichen Angelegenheiten gekoppelt, immer bezogen auf die Region, auf die Kommune, in der der Akteur lebte. Kritisch betrachten muss man an dieser noch immer gültigen Idee der „Bürgergesellschaft“, die sich freiwillig ehrenamtlich in der Verwaltung engagiert, dass es mehrere Zugangsvoraussetzungen für das Ehrenamt gab: 1. Man musste Bürger sein, was nur 5 – 10 % der damaligen Bevölkerung war – der Großteil der Bevölkerung war bis zu den Reformen noch unfreier Bauer; 2. man musste über entsprechende Bildung und über gesellschaftliches Prestige verfügen, was den Anteil an der Bevölkerung noch weiter schmälerte; 3. man musste männlich sein. Der Begriff der Bürgergesellschaft mit ehrenamtlichem Engagement ist somit ein hohes Ideal, aber ein Anfang einer wirklichen Selbstverwaltung war mit dem verwaltenden, administrativen Ehrenamt gegeben.[19]

Der in diesem Zusammenhang neu geschaffene Ausdruck des „Ehrenamts“ wurde im Laufe der Zeit auf andere Engagementbereiche übertragen, die nicht mit einem öffentlichen Amt zusammenhing: Neben diesem Ehrenamt entstand das soziale Ehrenamt. Dies wurde vor allem durch das ‚Elberfelder System’ im Jahr 1853 gefördert, das im Sinne der Preußischen Städteordnung, Bürger zur Armenfürsorge verpflichtete. Auch hier bestand – ähnlich wie beim administrativen Ehrenamt – ein Lokalbezug zum Wohnort des Akteurs: Jeder half dort, wo er wohnte.[20]

Mit der Zeit entwickelte sich neben dem ehrenamtlichen sozialen Engagement ein immer professionelleres hauptamtliches soziales Engagement. Dies begann im Zuge der Sozialreformen der 1890er Jahre: Die Armenpflege wurde zu einem Teil der kommunalen Sozialpolitik in den in dieser Zeit entwickelten städtischen Armenämtern, die die Fürsorge professionell und hauptamtlich durchführten. Mit Beginn der Weimarer Republik, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg, vermehrte sich die Zahl der hauptamtlich Tätigen und verdrängte die ehrenamtlich Engagierten. Ehrenamtliche Armenfürsorge wurde somit kommunal geordnet und bürokratisiert.[21]

Ein weiteres wichtiges Feld des ehrenamtlichen Engagements ist der Bereich des Vereinswesens. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich vermehrt Vereine als Organisationsformen von ehrenamtlichem Engagement. Der Verein etablierte sich so zur wichtigsten Organisationsform. Zu Beginn war diese Form vor allem für die Bürgerschicht interessant, später aber auch für die Arbeiter- oder Frauenbewegung.[22] Hier engagierte man sich gemeinsam für seine Sache. In den Städten entstanden in der Organisationsform ‚Verein’ neben der kommunalen Fürsorge Wohltätigkeitsvereine, die sich ehrenamtlich um die Armen der Stadt kümmerten – auch hier auf die lokale Ebene bezogen.

Doch auch die Wohltätigkeitsvereine traf dasselbe Los wie die kommunale Fürsorge: Es entwickelten sich in der Weimarer Republik die großen Wohlfahrtsverbände, die sich mehr und mehr auf hauptamtlich-professionell Tätige stützten.

Der Begriff des ‚Ehrenamts’ bedeutet also im Ursprung ein ‚Amt’ auf lokaler Ebene. Der Akteur nutzt es, um sein Ansehen, sein Prestige, seine Ehre für die gute Sache einzusetzen: Zunächst für die damals neu entstandene kommunale Selbstverwaltung oder später für die Armenfürsorge.

Aus dieser Zeit heraus ist auch heute noch das Wort ‚Ehrenamt’ geprägt. Im Abschlussbericht der Enquete-Kommission des deutschen Bundestags zur Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements heißt es:

„Auf Grund der Traditionen der sozialen und kulturellen Vereins- und Ehrenamtstätigkeit wird dieser Begriff heute im alltäglichen Sprachgebrauch besonders oft benutzt – mitunter als Synonym für Engagement schlechthin.“[23]

Dies allerdings ist heute und auch damals schon nicht richtig, da es sich nicht immer um eine funktional-formale Tätigkeit in einem Amt, wie z. B. der des Vereinsvorsitzenden, handelt. Die Enquete-Kommission benutzt daher für ihren Bericht weitere Begriffe neben dem des Ehrenamts. Das Ehrenamt wird folgend definiert:

„Im breiten Feld möglicher Formen von Engagement bezeichnet das Ehrenamt stärker formalisierte, in Regeln eingebundene Formen des Engagements. In seiner Verlässlichkeit ist das Ehrenamt in vielen Engagementfeldern ein Stabilisierungsfaktor.“[24]

Hier wird also von einem längerfristigen Engagement unter bestimmten Regeln gesprochen. Es ist klar strukturiert und von einer eher formalen Tätigkeit geprägt. Hierzu gehört das traditionelle öffentliche Amt in kommunalen Räten oder auch das Amt des Schöffen, aber auch der Vorsitz oder die Mitarbeit in Gremien oder Vorständen von Vereinen oder kirchlichen Institutionen.

Im Titel dieser Untersuchung ist neben dem Ehrenamt oder dem ehrenamtlichen Engagement auch von freiwilligem Engagement die Rede. Diese Tätigkeitsform geht auf einen Begriff aus den angelsächsischen Sprachraum zurück, wo jede Form des freiwilligen Engagements mit ‚volunteering’ bezeichnet wird.[25] Freiwilliges Engagement ist jede Tätigkeit, die keinem gesetzlichen Zwang unterliegt. Jeder Bürger ist frei in seiner Entscheidung und kann somit ein Engagement auch ablehnen. Die Kommission setzt diesen Begriff gleich mit dem des Bürgerengagements bzw. des Bürgerschaftlichen Engagements. Nur dort, wo zu einem Freiwilligendienst auch gezwungen werden kann, sind beide Begriffe nicht identisch. Dies ist z. B. dort der Fall, wo Schöffen oder auch Wahlhelfer zu ihrem freiwilligen Dienst im Sinne einer Bürgerpflicht verpflichtet werden.[26]

Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission benutzt den Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements als Oberbegriff für jedes freiwillige Engagement in der Gesellschaft. Hierzu zählen dann die schon genannten Begriffe ‚Ehrenamt’, ‚freiwilliges Engagement’, aber auch der noch nicht genannte Begriff der ‚Selbsthilfe’. Diese Form des Engagements ist eng gefasst auf nachbarschaftliche oder freundschaftliche Hilfe bezogen. Überall dort, wo sich einander bekannte Menschen gegenseitig helfen, kann von Selbsthilfe geredet werden. Mit Beginn der Neunziger Jahre änderte sich der Bereich der Selbsthilfe: Es entstanden Formen der Koordination von Selbsthilfe. Menschen wurden für ihr jeweiliges Engagement zueinander geführt und halfen sich aus.[27] Auf diese neue Form des freiwilligen Engagements wird im Verlauf der Untersuchung noch eingegangen, besonders hinsichtlich ihrer Wirkung auf traditionelle Träger ehrenamtlichen Engagements.

3. Gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf das ehrenamtliche Engagement

Wenn von einem neuen Verständnis von Ehrenamt oder freiwilligem Engagement gesprochen wird, dann muss dieses neue Verständnis seine Begründungen und Ausgangspunkte haben. Hierzu soll ein Blick auf für die Gesellschaft wichtige Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte getan werden. Im Verlauf des Kapitels wird der Bezug zischen diesen Entwicklungen und ehrenamtlichen Engagement hergestellt.

3.1 Gesellschaftliche Veränderungen

Wirtschaftliche und politische Trends

Die westdeutsche Gesellschaft war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von einem scheinbar endlosen Wirtschaftsaufschwung geprägt. Nach den Jahren der Entbehrungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg ging es ab Beginn der 1950er Jahre durch das ‚Wirtschaftswunder’, der raschen wirtschaftlichen Entwicklung im Zuge der Währungsreform 1948, aufwärts. Vollbeschäftigung und eine stetig wachsende Kaufkraft waren die Folge. Der Staat konnte viele Aufgaben übernehmen und seinen Bürger somit entlasten.

Die späten 1960er Jahre brachten einen gesellschaftlichen Aufbruch mit sich, der sich u. a. in den Studentenrevolten zeigte. Die Gesellschaft wurde modernisiert, sie wurde insgesamt freier und liberaler. Die Nachkriegsgeneration der damals 20- bis 30jährigen wollte nicht mehr obrigkeitshörig sein wie die Elterngeneration. Es entstanden die ersten Bürgerinitiativen und neue politische Gruppierungen wie die Friedensbewegung oder Anti-Atomkraft-Gruppen.

Spätestens mit Beginn der 1970er Jahre fand der stetige Wirtschaftsaufschwung sein Ende: Die Ölkrise zwang die Deutschen zu einem neuen Bewusstsein, die Industrie begann mit einer ersten Automatisierung und Technisierung und setzte Arbeiter frei, erste Arbeitslosigkeit entstand. Durch diese Zunahme von Arbeitslosigkeit ist auch das in Zeiten des endlosen Wachstums entwickelte Sozialsystem nicht mehr haltbar, da es auf eine Vollbeschäftigung baute. Hier wurde mehr und mehr der Bürger selbst gefragt, etwas für sich zu tun, der Staat konnte nicht mehr alle Leistungen finanzieren.

Der größte Wandel auf politischer Ebene ist mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der politischen Wende in Osteuropa verbunden. 40 Jahre Trennung in Europa und speziell in Deutschland hatten ein Ende. Es entstand wieder ein Kontinent mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen: Der reiche Westen, der arme Osten – um es plakativ auszudrücken. Deutschlands Wiedervereinigung, die sehr schnell vollzogen wurde, kostete den Staat eine enorme Summe an Geldern für den Aufbau und den wirtschaftlichen Anschluss der ostdeutschen Bundesländer an die alte Bundesrepublik. Die marode Wirtschaft in den neuen Ländern brachte eine hohe Zahl an neuen Arbeitslosen mit sich, die die Sozialsysteme nicht tragen konnte.

Im Zuge der Technisierung entstand ein neuer schneller Datentransfer, der einen weiteren Trend mit beeinflusst und beschleunigt hat. Hier konnte auch die Wirtschaft profitieren, vor allem weltweit operierende Unternehmen, die nun schneller Daten und Know-how transportieren konnten. Aus der weltweiten Vernetzung entstand der Trend der Globalisierung: Die weltweite Vernetzung der Wirtschaft und die daraus resultierende „verschärfte Konkurrenz um Erwerbsarbeit“[28].

Neue Kommunikations- und Informationstechnologien hielten erst Einzug in Unternehmen der Wirtschaft, doch brachten auch sie zunehmend auch Veränderungen in Haushalten und Familien mit sich: Telefon, Computer, Mobiltelefon, Internet haben in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend auch an Einfluss in den Haushalten und Familien gewonnen.

Soziale Trends

Als weitere für die Gesellschaft wichtige Entwicklungstrends sind folgende zu nennen: Eine zunehmende Individualisierung aufgrund einer Auflösung der bisher tragenden Schichten und Milieus ist festzustellen. Beck spricht in seinem viel beachteten Buch „Risikogesellschaft“ von einer „Enttraditionalisierung der industriegesellschaftlichen Lebensformen“[29]. Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt er, was er mit der Enttraditionalisierung meint: Bürger der unteren sozialen Schichten konnten im Zuge des Wiederaufbaus im Wirtschaftswunder der 1950er Jahre und im Zuge der Bildungsexpansion in den 1960er Jahren Veränderungen und Verbesserungen ihrer Lebensbedingungen erfahren.[30] Neben diesem Grund liefert Beck weitere Begründungen für eine Individualisierung, die „die Menschen aus traditionalen Klassenbindungen herauslöst und sie – um ihres materiellen Überlebens willen – zum Akteur ihres eigenen arbeitsmarktvermittelnden Lebenslaufes macht“[31]:

Im vergangenen Jahrhundert ist die Lebenszeit der Menschen bei gleichzeitiger Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit stark angestiegen. Hieraus ergibt sich eine Erhöhung der freien Zeiten im Leben des Menschen. Durch die gleichzeitige Erhöhung der Löhne um ein Vielfaches war der Mensch in der Lage, seine freien Zeiten auch zu nutzen und zum Konsum zu nutzen. Vor allem der finanzielle Aspekt lässt die ehemaligen Schicht- und Klassengrenzen verschwinden.[32]

Hinzu kommt eine noch nie da gewesene Mobilität der Menschen. Mobilität in vielfachem Sinne: Soziale Mobilität, d. h. neue Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, konnten nach dem Krieg viele Menschen erfahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten viele Stellen der mittleren und unteren Angestellten und Beamten im zunehmenden Dienstleistungssektor durch Arbeiterkinder rekrutiert werden. Es entstand eine berufliche und soziale Aufstiegschance, die man in der Vergangenheit so nicht kannte. Aber auch eine geographische Mobilität entstand in den 1960er und 1970er Jahren: Wohn- und Arbeitsort mussten nicht mehr zwangsläufig derselbe sein. Neue Wege entstanden und verselbständigten so die Lebenswege der Menschen „gegenüber den Bedingungen und Bindungen, aus denen sie stammen“[33].

Trends im Bereich der Bildung

Die „Bildungsexpansion“ der 60er und 70er Jahre beeinträchtigte den sozialen Aufstieg massiv. Die Bedeutung der Volks- bzw. Hauptschule nahm bei gleichzeitigem Anstieg der Bedeutung der höheren weiterführenden Schulen stark ab: Während in den 1950er Jahren die Volkschule einen Schulbesuch von 70 %, nahm dieser in den 1960er und 1970er Jahren um 20 % ab. Dies hatte zur Folge, dass sich die Anzahl der Absolventen von höheren Schulen in den Jahrzehnten von 1950 bis 1980 verfünffacht (Realschulen) bzw. verdreifacht (Gymnasien) haben.[34] Ebenso wie die höhere Schulbildung wuchs auch die Bedeutung der Hochschulbildung. Arbeiterkinder nahmen zunehmend auch ein Studium auf.[35]

Vor allem in den letzten zehn bis 15 Jahren entwickelte sich im Bereich der Bildung ein neuer Trend zum „Lebenslangen Lernen“. Ausgehend von den Bildungsreformen in den 1960er Jahren hielt dieser Begriff seit den 1970er Jahren, verstärkt in den letzten zehn bis 15 Jahren Einzug in die Erziehungswissenschaft.[36] Jeder ist verpflichtet, sich sein Leben lang neues Wissen anzueignen, um ‚auf dem Laufenden zu bleiben’. Jeder Arbeiter und Angestellte muss sich durch Fortbildungen und eigenes Erarbeiten ‚arbeitmarktfähig’ halten. Nimmt er nicht am Programm des Lebenslangen Lernens teil, kostet ihn dies unter Umständen seinen Arbeitsplatz, da nicht genügend qualifiziert ist.

Verschiedene Veröffentlichungen großer internationaler Organisationen, aber auch das „Europäische Jahr des Lebenslangen Lernens“ 1996 dokumentieren die Wichtigkeit dieser Forderung.[37]

Fazit

Aus all diesen Gründen entwickelte sich eine Enttraditionalisierung der bisher tragenden Lebensformen: Es war nicht mehr allein durch die Herkunft bestimmt, was man tat, welchen Beruf man ergriff, wo man wohnte. Alles musste selbst geplant und gestaltet werden, individuelle Lebensläufe entstanden. Die Individualisierung des Lebensweges erforderte ein „aktives Handlungsmodell des Alltags, das das Ich zum Zentrum hat, ihm Handlungschancen zuweist und eröffnet und es auf diese Weise erlaubt, die aufbrechenden Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten in Bezug auf den eigenen Lebenslauf sinnvoll kleinzuarbeiten.“[38] Jeder ist somit sein eigener Herr und muss sich seine Biographie ‚basteln’.

Im Bereich der Familien bzw. der Familienstruktur hat es ausgehend von den genannten Trends grundlegende Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten gegeben. Seit Beginn der 1960er Jahre sorgten dies Trends dafür, dass sich das traditionelle Familienbild auflöste. Eickelparsch listet als Indizien in seinem Aufsatz über die „postmoderne Gesellschaft“ auf:

- „Rückgang der Eheschließungen seit 1960 um mehr als ein Viertel;
- Verdopplung der Scheidungsziffern im gleichen Zeitraum;
- Sprunghafter Anstieg der ‚Ehen ohne Trauschein’. In der Bundesrepublik leben derzeit etwa 2,5 Millionen Menschen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. [1997, 2004 waren es 2,4 Millionen Menschen[39]]
- Rückgang der Geburtenziffer seit 1960 um mehr als ein Drittel;
- Anstieg der Einelternfamilien seit 1970 um mehr als ein Drittel. Zurzeit leben mindestens 10 % aller minderjährigen Kinder bei allein erziehenden Müttern oder Vätern. [2005: 14 %[40]]
- Immer mehr Menschen leben allein. In den Großstädten sind etwas 40 % aller Haushalte Einpersonenhaushalte.“[41]

Hieraus lässt sich schließen, dass sich die traditionelle Familie als normale Lebensform auflöst und neue Lebensformen entstehen, weshalb man von einer „Pluralität familialer Lebensformen“[42] spricht.

3.2 Veränderungen im Bereich des Ehrenamtlichen Engagements

In den letzten Jahrzehnten hat ein Wandel im Ehrenamt stattgefunden. Gründe hierfür finden sich den genannten gesellschaftlichen Veränderungen. Hier ist vor allem die durch die genannten Trends hervorgegangene Enttraditionalisierung zu nennen. Wir können feststellen, dass die traditionellen Organisationen ehrenamtlichen Engagements wie Vereine, Verbände und Kirchen an ehrenamtlich Engagierten verloren haben. Eine Begründung hierfür ist sicherlich die Auflösung von bisher tragenden traditionellen Milieus. Aus diesen Milieus, in die man hineingeboren wurde, und in denen man aufwuchs, rekrutierten die Organisationen ihren Nachwuchs. Man wuchs in seinen Verein hinein, in dem man nach und nach Aufgaben und Verantwortung übernahm. In der Mobilität, der zunehmenden Indivudualisierung und Pluralisierung der Lebensstile verloren die traditionellen Milieus zunehmend ihre Bindungkraft und ihre Relevanz. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu ist somit nicht mehr allein bzw. fast gar nicht mehr ausschlaggebend für ein Engagement ist. Es stellt sich die Frage, warum Menschen engagiert sind. Was treibt sie an?

Wenn man diesen Fragen nachgehen will, muss man überlegen, wie Daten über das ehrenamtliche Engagement zu finden sind. Im Zuge der Diskussion über das Ehrenamt oder das bürgerschaftliche Engagement in den 1990er Jahren wurden verschiedene Untersuchungen zum Engagement durchgeführt. Als wichtigste sind hier der Freiwilligensurvey (FWS) von 1999 und das Sozioökonomische Panel (SOEP), welches seit 1985 regelmäßig durchgeführt wird. Beide arbeiten unabhängig voneinander, was zur Folge hat, dass sie aufgrund einer Unterschiedlichkeit in der Fragestellung nur schwer vergleichbar sind. Dennoch können beide für eine Bestandsaufnahme zum ehrenamtlichen Engagement zu Rate gezogen werden.[43]

So sind ausgehend von diesen beiden Untersuchungen
34 % der deutschen Wohnbevölkerung (FWS 1999) bzw. 32,1 % (SOEP) in irgendeiner Form freiwillig tätig. Beide Untersuchungen fragen unterschiedlich nach „freiwilligem Engagement“ oder nach „ehrenamtlichem Engagement“. Dennoch zeigen beide übereinstimmend, dass sich ein großer Teil der Deutschen engagieren.

Diese Untersuchung basiert vor allem auf Aussagen des FWSs, da dieses im Gegensatz zum SOEP auf eine breitere Definition von freiwilligem Engagement setzt. Neben dieser Studie wird dem vierten Kapitel ‚Ehrenamt und Erwerbsarbeit’ eine weitere mit dem Titel „Zeitbalance oder Zeitkonkurrenz“ zu Grunde gelegt, da diese sich direkt mit den Zusammenhängen von Ehrenamt und Erwerbsarbeit befasst.

3.2.1 Der Freiwilligensurvey

Der Gang der Untersuchung des Freiwilligensurveys

Im FWS von 1999 wurde in einer repräsentativen Erhebung versucht, ein Gesamtbild über das ehrenamtliche freiwillige Engagement im umfassenden Sinn zu schaffen. Alle Bereiche des freiwilligen Engagements wurden mit einbezogen: Freiwilliges Engagement in Verbänden, Organisation, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Initiativen, Projekten und Selbsthilfegruppen.[44] Basis der Erhebung war die deutsche Wohnbevölkerung ab 14 Jahren, d. h. nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern alle in Deutschland lebenden Personen ab 14 Jahren wurden befragt. Zu diesem Personenkreis gehörten 1999 ca. 63,5 Mio. Menschen.[45] Ziel war es, ein möglichst umfassendes Ergebnis zu erlangen, um Aussagen über verschiedene Bevölkerungsgruppen tätigen zu können. Der FWS wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter der damaligen Bundesministerin Christine Bergmann in Auftrag gegeben und vom Institut Infratest Burke Sozialforschung im Zeitraum von Mai bis Juli 1999 durchgeführt.

Folgende Diskussionspunkte aus der Debatte um das Ehrenamt begleiteten den Prozess der Untersuchung, die jedoch selber keine Antwort geben, sondern vielmehr den Status quo des freiwilligen Engagements aufzeigen sollte:

- „Das gewandelte Interesse am Ehrenamt – die Frage nach dem Integrationspotenzial unserer Gesellschaft.
- Ehrenamt als Reaktion auf Bürokratisierung und Kostendruck – Krise des Sozialstaats und Eigenarbeit der Bürger.
- Freiwilliges oder bürgerschaftliches Engagement? – Modelle politischer und sozialer Steuerung in der Bürgergesellschaft.
- Die neue staatliche Rolle der Engagementförderung – Bürgerengagement und ‚aktivierender Staat’.
- Ehrenamt und Arbeitsmarkt – Ergänzung oder Substitution.“[46]

Die Untersuchung verfolgte zwei Ebenen: Die der „engagierten Person – also wer engagiert sich wie und warum?“ und die der „freiwilligen, ehrenamtlichen Tätigkeiten“. Anhand der Untersuchung können somit Aussagen über die ehrenamtlich Tätigen hinsichtlich ihrer persönlichen Hintergründe wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Bildung etc. sowie ihres zeitlichen Einsatzes im Ehrenamt und ihrer Motivation zum Ehrenamt gemacht werden. Dazu können anhand der zweiten Ebene die verschiedenen Tätigkeiten des Ehrenamts abgelesen werden.[47]

Aktive Beteiligung und freiwilliges Engagement

Die Untersuchung verfolgte als erstes das Ziel, herauszufinden, wer sich in gesellschaftlichen Bereichen aktiv beteiligt, d. h. wer in Vereinen, Gruppierungen, Organisationen und Einrichtungen „mitmacht“. Diese Definition des „Mitmachens“ hat zunächst noch nichts mit freiwilligem Engagement zu tun. „Mitmachen“ bedeutet lediglich die Mitgliedschaft und die Beteiligung in einem Verein. Der Untersuchung zufolge sind zwei Drittel der Bundesbürger in einem oder in mehreren Bereichen wie „Sport und Bewegung“, „Freizeit und Gesellschaft“, „Sozialer Bereich“ oder „Kirchlicher oder religiöser Bereich“ aktiv beteiligt. „Dabei werden im Durchschnitt pro Person – sofern man überhaupt irgendwo mitmacht – 2,3 Bereiche genannt, in denen man sich aktiv beteiligt.“[48] Die für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung wichtigsten Bereiche sind die Bereiche „(6) Kirchlicher oder religiöser Bereich“ mit 10 % aktiv Beteiligten, was 6,35 Mio. Bundesbürger ausmacht, und „(10) Außerschulische Jugendarbeit oder Bildungsarbeit für Erwachsene“ mit 6 %, was 3,81 Mio. Bundesbürger ausmacht. Hinzu kommen aber auch andere Bereiche wie „(2) Freizeit und Geselligkeit“ mit 25 %
(= ca. 16 Mio. Bundesbürgern) oder „(5) Sozialer Bereich“ mit 11 % (= ca. 7 Mio. Bundesbürgern).[49]

Ausgehend von diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage, wer von diesen aktiv Beteiligten neben der Beteiligung auch eine Tätigkeit im Sinne des freiwilligen Engagements übernimmt. Hierbei fragt die Untersuchung nicht konkret nach freiwilligem oder ehrenamtlichem Engagement, sondern umschreibt diese Tätigkeiten in der Frage. Dies wird mit der Enge des Begriffs ‚Ehrenamt’ bzw. mit der Unklarheit der neuen Begriffe ‚freiwilliges Engagement’ oder ‚bürgerschaftliches Engagement’ begründet. Aufgrund dieser Problematik wurde eine weitere Frage in die Untersuchung nach der Bezeichnung für das Engagement aufgenommen.[50] Der Untersuchung folgend sind über alle Bereiche hinweg 34 % der Bundesbürger freiwillig engagiert, wobei verständlicherweise herausgefunden wurde, dass nicht immer alle aktiv Beteiligten auch freiwillig engagiert sind: In einigen Bereichen ist es die Hälfte, manchmal aber auch weniger. Für die in dieser Untersuchung wichtigen Bereiche ergab dies folgendes:

Bereich (6) „Kirchlicher/ religiöser Bereich“:

Von 10 % aktiv Beteiligten sind 5 % freiwillig engagiert.

Bereich (10) „Außerschulische Jugend- und Bildungsarbeit“:

Von 6 % aktiv Beteiligten sind 2 % freiwillig engagiert.[51]

Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass eine Überschneidung bei den Bereichen nicht zu vermeiden ist: „beispielsweise ist ‚außerschulische Jugendarbeit oder Bildungsarbeit für Erwachsene’ zwar als eigener Bereich ausgewiesen (Bereich 10), doch findet Jugend- und Bildungsarbeit auch innerhalb anderer Bereich statt und kann von den Befragten auch dort zugeordnet sein.“[52] Dies Problem ist auch für diese Untersuchung nicht außer Acht zu lassen.

Wie bezeichnen freiwillig Engagierte ihr Engagement?

Die schon angedeutete Frage nach der Bezeichnung für das freiwillige Engagement ergab eine überraschende Antwort: So bezeichneten die weitaus meisten Engagierten (48 %) ihr Engagement als „Freiwilligenarbeit“, gefolgt von „Ehrenamt“ (32 %). Die weiteren Möglichkeiten dienten lediglich wenigen als mögliche Bezeichnung. Für diese Untersuchung ist wichtig, dass 41 % der im kirchlichen/ religiösen Bereich Engagierten den Begriff des „Ehrenamts“ wählten.[53]

Bedingungen für freiwilliges Engagement

Die Untersuchung hat versucht, soziale Bedingungen, die für ein freiwilliges Engagement förderlich sind, auszumachen. Die Bereitschaft zum freiwilligen Engagement, aber auch zur aktiven Beteiligung, ist immer Teil der sozialen Einbindung einer Person. Hierzu sind Voraussetzungen vorhanden, die freiwilliges Engagement stützen und erleichtern. Die Untersuchung hat ergeben, dass engagierte Personen sich auch in anderen Formen des gesellschaftlichen Lebens beteiligen: So sind engagierte Personen oft in hohem Maß in anderen gesellschaftlichen Bereichen aktiv: „Die Zahl der gesellschaftlichen Bereiche, in denen eine Person aktiv beteiligt ist, steigt von 0 bei Personen der Stufe 1 der Skala [Personen ohne aktive Beteiligung] schrittweise auf durchschnittlich 4,9 bei den Mehrfach-Engagierten.“[54] Es zeigt sich, dass Engagierte ein hohes Maß an Gemeinsinn haben. Dies zeigt sich in der Übersicht „Freiwilliges Engagement und Stellung in der Gesellschaft“[55]: Der Statistik folgend nehmen auch weitere soziale Voraussetzungen, wie ein großer Bekanntenkreis, eine große Familie bzw. ein großer Personenhaushalt, der Bildungsgrad mit der Zunahme von Engagement, zu. Von Bedeutung ist für diese Untersuchung vor allem der Zusammenhang zwischen Engagement und Kirchenbindung: So geben nur 8 % der Nicht-Aktiv-Beteiligten eine Kirchenbindung an. Diese steigt von Stufe zu Stufe der Engagement-Skala hin zu 28 % bei den Mehrfach-Engagierten. Hier zeigt sich ein klarer Zusammenhang zwischen Engagement und Kirchenbindung.

[...]


[1] Vgl. hierzu das Gutachten für die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“: „Recherche über Handbücher zum bürgerschaftlichen Engagement" von Dr. Stefan Nährlich, Aktive Bürgerschaft e.V., Münster 2001.

[2] Beher (2000), S. 23 unter Verweis auf Nadai, Eva, Gemeinsinn und Eigennutz. Freiwilliges Engagement im Sozialbereich, Bern 1996. Im Kapitel 1 dieses
Buches fasst die Autorin unter der Überschrift „Freiwilligenarbeit als Diskussionsgegenstand“ den Stand der Diskussion zusammen.

[3] Neueste Ergebnisse der letzten Umfrage im Freiwilligensurvey 2004 (Siehe Kap. 3.2) ergeben einen Prozentsatz von 36 % der Bevölkerung. Vgl.: Presse- und Informationsamt (2005), S. 16.

[4] Zu beiden Umfragen: Siehe Kap. 3.2.

[5] ‚Mitarbeiter im Pastoralen Dienst’ ist eine Bezeichnung für eine bestimmte Stufe in der Ausbildung zum Pastoralreferenten, einem kirchlichen Laienberuf, im
Bistum Münster. ‚MipD’ sind meist in einer Pfarrgemeinde beschäftigt und erarbeiten sich in einem Studium als Fortbildung eine zweite berufliche Qualifikation.

Seit Februar 2006 arbeitet der Verfasser mit einer Vollzeitstelle als Pastoralassistent (Vorstufe zum Pastoralreferenten) in einer Pfarrgemeinde in Coesfeld/ Westfalen.

[6] Z. B.: Kfd (2001).

[7] So sind bis heute z. B. in der Region Niederrhein des Bistums Münster, die die Kreise Wesel und Kleve umfasst, von 176 Pfarrgemeinden 78 zu 23 neuen Fusions-Pfarrgemeinden zusammengelegt worden.

[8] Bucher (2005), S. 127.

[9] Im Freiwilligensurvey von 1999 wurden in einer repräsentativen Erhebung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend versucht, ein Gesamtbild über das ehrenamtliche freiwillige Engagement im umfassenden Sinn zu schaffen. Vgl.: Rosenbladt (2001).

[10] Die Studie trägt den Titel „Zeitbalance oder Zeitkonkurrenz“ und wurde im Auftrag des Landesministeriums für Arbeit und Soziales, Qualifikation und Technik im Jahr 2000 durchgeführt. Vgl.: MASQT (2001).

[11] Deutscher Bundestag (2002), S. 40.

[12] BMFSFJ (2001a), S. 29. Der Autor benutzt dieses Zitat ohne weitere Quellenangaben.

[13] Nach: Evangelium nach Matthäus, Kap. 22, Verse 37-40 in: Die deutschen Bischöfe (1980), S. 1117.

[14] Die Deutsche Bischofskonferenz (1995), S. 40f.

[15] 1. Johannesbrief, Kap. 4, Vers 20: „Bruder“ gilt in diesem Zusammenhang nicht nur für den leiblichen Bruder sondern auch für alle Glaubensbrüder und
–schwestern. In: Die Bischöfe Deutschlands (1980), S. 1383.

[16] Nach.: Evangelium nach Lukas, Kap. 10, Verse 30-37 in: ebd., S. 1172.

[17] Sachße (2002), S. 3.

[18] Deutscher Bundestag (2002), S. 32.

[19] Vgl.: Ebd., S. 40.

[20] Vgl.: Sachße (2002), S. 4.

[21] Vgl.: Ebd., S. 4.

[22] Vgl.: Deutscher Bundestag (2002), S. 40.

[23] Ebd., S. 32.

[24] Ebd.

[25] Vgl.: Rosenbladt (2001), S. 50. – Auf Seiten der Pfarrgemeinden ist das Wort ‚volunteer’ im Jahr 2005 bekannt geworden, da die freiwilligen Helfer beim Weltjugendtag in Köln im August diese – international gängige – Bezeichnung trugen. Dennoch halte ich dieses Wort auf die Ehrenamtlichen in Pfarrgemeinde bezogen als nicht sinnvoll.

[26] Vgl.: Deutscher Bundestag (2002), S. 32.

[27] Vgl.: Ebd.

[28] Ebd., S. 43.

[29] Beck (1986), S. 5.

[30] Vgl.:Ebd., S. 122.

[31] Ebd., S. 124.

[32] Ebd., S. 124 f.

[33] Ebd., S. 126.

[34] Vgl.: Cortina, S. 76ff.

[35] Beck (1986), S. 127 f.

[36] Vgl.: Olbrich (2001), S. 346ff., Edding (1974), S. 35ff., Cortina (2003), S. 626.

[37] Vgl.: Kraus (2001), S. 57-105. Die Autorin stellt hier verschiedene Konzepte internationaler Organisationen wie der UNESCO, der OECD und des Europarats bzw. der EU vor.

[38] Beck (1986), S. 217.

[39] Statistisches Bundesamt (2005), S. 19 ff.

[40] Ebd., S. 27.

[41] Eickelpasch (1997), S. 20.

[42] Ebd.

[43] Der FWS hat mittlerweile eine Neuauflage im Jahr 2004 erfahren, dessen Daten teilweise (Vgl. z. B.: Presse- und Informationsamt (2005)) veröffentlicht sind. Eine Gesamtveröffentlichung steht aber noch aus.

[44] Vgl.: Rosenbladt (2001), S. 33 ff.

[45] Vgl.: Ebd.,S. 41, Anm. 1).

[46] Ebd., S. 35 f.

[47] Vgl.: Ebd., S. 37 f.

[48] Ebd., S. 40.

[49] Vgl.: Ebd., S. 41. Eine genaue Übersicht mit allen Bereichen befindet sich im Anhang Abb. 1: Zahl der aktiv Beteiligten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.

[50] Vgl.: Ebd., S. 43. Zur Frage nach der Selbstbezeichnung der Engagierten: Siehe unten.

[51] Vgl.: Ebd., S. 45. Eine genaue Übersicht mit allen Bereichen befindet sich im Anhang Abb. 2: „Freiwillig Engagierte“: Die Teilgruppe der aktiv Beteiligten im jeweiligen Bereich, die freiwillige, ehrenamtliche Tätigkeiten übernommen hat.

[52] Ebd., S. 46.

[53] Vgl. Ebd., S. 51. Eine genaue Übersicht befindet sich im Anhang Abb. 3:
Präferierte Bezeichnung für das Engagement in der jeweils ausgeübten Tätigkeit.

[54] Vgl. Ebd., S. 59. Eine genaue Übersicht befindet sich im Anhang Abb. 4:
Freiwilliges Engagement und andere Formen von Aktivität und Gemeinsinn.

[55] Vgl.: Ebd., S. 60 ff.: Eine genaue Übersicht befindet sich im Anhang Abb. 5: Freiwilliges Engagement und Stellung in der Gesellschaft.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Die Zukunft des Ehrenamts. Neue Formen freiwilligen Engagements und deren Folgen für die ehrenamtliche Arbeit in Pfarrgemeinden
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Institut für Berufs- und Weiterbildung)
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
111
Katalognummer
V61993
ISBN (eBook)
9783638553230
ISBN (Buch)
9783656753971
Dateigröße
5852 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zukunft, Ehrenamts, Neue, Formen, Engagements, Auswirkungen, Arbeit, Mitarbeitern, Pfarrgemeinden, Konzepte, Alternativen, Professionalisierung
Arbeit zitieren
Martin Reuter (Autor:in), 2006, Die Zukunft des Ehrenamts. Neue Formen freiwilligen Engagements und deren Folgen für die ehrenamtliche Arbeit in Pfarrgemeinden, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61993

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