Der Erfahrungsbegriff der Erziehung nach Josef Dolch


Seminararbeit, 2005

17 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


1. Einleitung

In seinem Aufsatz "Der Erfahrungsbegriff der Erziehung – Versuch einer Explikation" hat sich der Bildungshistoriker Josef Dolch darum bemüht, den Wesenskern von Erziehung herauszuarbeiten. Dieser Aufsatz aus dem Jahre 1966, erschienen in der Zeitschrift für Pädagogik anlässlich des 66. Geburtstags von Dr. Béla Freiherrn von Brandenstein, ist meines Erachtens, obschon in der Pädagogik zahlreiche Versuche stattgefunden haben, eine der wenigen Schriften, in denen es dem Verfasser tatsächlich gelungen ist, die wesentlichen Komponenten der Erziehung zu erfassen und diese präzise und ausführlich darzustellen. Aus diesem Grunde soll in der vorliegenden Arbeit eben dieser Aufsatz vorgestellt und analysiert werden.

Wenn Dolch versucht, die Frage, was Erziehung bedeute, im wörtlichen Sinne zu beantworten, so soll im abschließenden Teil der Arbeit diskutiert werden, was es mit dem übertragenen Sinn dieser Frage auf sich hat, wobei die Ausführungen Dolchs hierzu als Grundpfeiler dienen werden.

2. Der Begriff "Erziehung"

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland heißt es: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft."[1]

Dieser Absatz, der zu den Grundrechten der Bürger gehört, garantiert den Eltern folglich den Vorrang als Erziehungsträger gegenüber dem Staat. Eltern haben das Recht und die Pflicht, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen frei und vor anderen Erziehungsträgern zu gestalten. Doch was ist nun genau mit "Pflege" und "Erziehung" gemeint? Was soll Pflege und, vor allem, was soll Erziehung? Unter Pflege versteht man die allgemeine Sorge für die Person des Kindes, sein körperliches Wohl und seine charakterliche und körperliche Entwicklung. Hierbei ist die Pflege eher als statischer Begriff, d.h. auf die Erhaltung hin bezogen, zu sehen. Die Erziehung hingegen ist prinzipiell ein dynamischer Begriff, der auf die zukünftige Entwicklung, d.h. das "Erwachsenwerden" ausgerichtet ist. Doch gibt es eine eindeutige Definition von "Erziehung"? Wenn man sich die Vielzahl an unterschiedlichen und zum Teil auch widersprüchlichen Aussagen der Wissenschaftler vor Augen führt, muss diese Frage wohl eindeutig verneint werden. Dass "Erziehung" offenbar einer der Begriffe ist, die nicht eindeutig definierbar sind, liegt nach Josef Dolch an der "Natur des Gegenstandsbereiches"[2]. Schon Kant bemerkte in seiner "Kritik der reinen Vernunft" (1781), dass sich Erfahrungswissenschaften am besten um Explikationen bemühen, da empirische Begriffe gar nicht definiert, sondern nur expliziert werden können. Aus selbigem Grunde erhebt Dolch gar nicht erst den Anspruch, eine Definition dieses Begriffes zu liefern, sondern bemüht sich vielmehr um eine Explikation nach den Forderungen des modernen Empirismus. Die Aufstellung einer solchen Explikation ist aber in jedem Fall notwendig, da selbst die Lehrbücher der Pädagogik meist flüchtig darüber hinweggehen, was Erziehung wirklich sei und jedermann es zu wissen glaube[3]. In der umgangssprachlichen Verwendung durchdringen einander verschiedene, und zum Teil sogar konträre Aspekte: unentbehrlich-hilfreiche sowie fatal-unterdrückende Handlungen und Beziehungen. Und in der Fachliteratur wird laut Dolch zumeist zu rasch über bewusste oder unbewusste, über intentionale oder funktionale Erziehung diskutiert, bevor überhaupt der eigentliche Begriff der Erziehung ausreichend geklärt wurde[4]. Bevor Dolch seine Explikation des Begriffes darlegt, geht er aber noch auf die Ausführungen des Pädagogen Tuiskon Ziller ein, der im Jahre 1856 eine Definition der Erziehung aufgestellt hat. Die kritische Auseinandersetzung mit Zillers Definition, die im Folgenden wiedergegeben wird, zieht Dolch dann für seine eigenen Ausführungen heran.

3. Der Erfahrungsbegriff der Erziehung nach Tuiskon Ziller

Der deutsche Philosoph und Pädagoge Tuiskon Ziller[5], eine führende Figur des Herbartianismus, war einer der ersten Pädagogen, die sich ausführlicher mit dem Erziehungsbegriff beschäftigt haben. In seinem systematischen Lehrbuch "Einleitung in die allgemeine Pädagogik"[6] von 1856 findet man einen Einleitungsparagraphen über den "Erfahrungsbegriff der Erziehung". Die darin stehenden Ausführungen befindet Dolch für wissenschaftsmethodisch so interessant, sachlich und lehrreich, dass er diese in seinem Aufsatz vorstellt und anschließend erörtert.

Ziller geht davon aus, dass, wenn es um die Klärung eines Begriffes geht, es immer schon eine "vorwissenschaftliche Erfahrung" gibt, die mal mehr und mal weniger weit reiche. Im Falle der Erziehung reiche diese ziemlich weit, denn wir alle sind selbst "Gegenstand der praktischen Erziehung" gewesen, werden fortwährend mit Erziehung konfrontiert und haben ggf. schon selbst Versuche im Erziehen gemacht. "Ein jeder hat also über Erziehung einen gewissen Kreis von Erfahrungen." Diese Erfahrungen können selbstverständlich noch nicht als unmittelbare Erkenntnisse gelten, doch sie sind durchaus so relevant, dass man von ihnen bei der Betrachtung ausgehen kann.

3.1 Zillers Definition der Erziehung

Zillers Vorgehensweise bei der Begriffsklärung ist die folgende: Es sind die gemeinsamen Merkmale vom Begriff der Erziehung aufzusuchen, die schon in "populären Gedankenkreisen" vorkommen. Hierbei kommt Ziller auf sechs Erfahrungsmerkmale:

1.) Erziehung findet nur bei Menschen statt, denn nur bei ihnen kann von Unterricht und Seelsorge gesprochen werden.
2.) Erziehung findet nur in der Kindheitsperiode statt.
3.) Bei Erziehung erfolgt ein Zusammenspiel von Absichtlichkeit und Planmäßigkeit: "Der zu Erziehende mu[ss] [...] infolge der Absichten der Erziehung etwas werden [...], und um diese Absichten zu erreichen, mu[ss] planmäßig vorgegangen werden."
4.) Erziehung weist ein bleibendes Resultat, eine "bleibende Gestalt" auf.
5.) Nur das "Innere", nicht der Körper des Kindes, wird durch Erziehung ausgebildet.
6.) Erziehung gilt wenigstens zu Anfang dem einzelnen Menschen als solchem.

Anhand dieser sechs Merkmale gelangt Ziller dann zu seiner Definition des Erfahrungsbegriffes der Erziehung: "Sie ist eine absichtliche, planmäßige Einwirkung auf einen Menschen, und zwar auf den einzelnen Menschen als solchen in seiner frühesten Jugend, eine Einwirkung zu dem Zweck, da[ss] eine bestimmte, aber zugleich bleibende geistige Gestalt dem Plane gemäß bei ihm ausgebildet wird."

3.2 Dolchs Kritik an Zillers Definition der Erziehung

Wie äußert sich nun Dolch zu den Ausführungen Zillers? Unter dem Gesichtspunkt einer empirischen Orientierung interessiert ihn zunächst die denkmethodische Seite der Ausführungen. Da Ziller der Meinung ist, dass jedes einzelne der Merkmale "auf Täuschung beruhen" könnte, bezeichnet er seine Definition als Nominaldefinition und nicht als Realdefinition, denn bei einer solchen müssten alle einzelnen Merkmale gültig sein. Dolch aber stellt fest, dass Zillers Definition nach dem heutigen Verständnis auch keine Nominaldefinition sein kann, da "Erziehung" ja kein neuer Ausdruck ist, dem eine bestimmte Bedeutung verliehen wird. Auch handelt es sich bei Zillers Vorgehen um keine Bedeutungsanalyse, da er auf die Grundbedeutung von "ziehen" bzw. "er-ziehen" gar nicht eingeht. Und genauso wenig liegt eine empirische Analyse vor, denn obwohl Ziller die ganze Zeit von Erfahrung spricht, übersieht er sehr wichtige Tatbestände des Erziehungsfeldes und lehnt einige sogar ab. So ist beispielsweise für ihn der Erzieher immer nur Lehrer oder Seelsorger, die Eltern aber, das "Urphänomen der Erziehung"[7], werden völlig außer Acht gelassen. Die einzelnen Erfahrungsmerkmale Zillers bewertet Dolch folgendermaßen:

1.) Zum ersten Merkmal – dass die Erfahrung sage, Erziehung findet nur bei Menschen statt – bemerkt Dolch, dass diese Einschränkung mit den von Ziller gelieferten Begründungen nicht unmittelbar einleuchtet. Denn zur Erziehung gehören auch "Gewöhnungen", d.h. Menschen, die erzogen werden, müssen sich an Vieles gewöhnen. Zu Recht kommentiert Dolch, dass die Erfahrung nicht Aufschluss darüber geben kann, ob sich Pflanzen und Tiere nicht auch gewöhnen müssen. Dass Ziller die Gewöhnung nicht in den Erfahrungsbegriff der Erziehung einbezieht, geht – so Dolch – auf eine theoretisch verstellte Sicht des Herbartianers zurück.
2.) Dass die Erfahrung zeige, dass nur Kinder erzogen werden, leuchtet Dolch ebenfalls nicht unmittelbar ein. Denn findet in Fortbildungsschulen und Hochschulen keine Erziehung mehr statt? Und warum wird seit Platon von "Staatserziehung" gesprochen, wenn Staaten doch "Vereinigungen von Erwachsenen" sind? Ziller behauptet, dass diese Einwirkungen nicht länger zur Erziehung zählen können, weil sie die persönliche Selbstständigkeit des jungen Menschen nicht mehr erreichen und weil die Erfahrung zeigt, dass Erwachsene Erziehung zurückweisen. Doch da er keine näheren Erläuterungen anführt, bleibt diese Behauptung eben auch nur eine Behauptung.
3.) Zum dritten Merkmal sagt Dolch, dass Ziller hier die Erfahrung vollkommen außer Acht gelassen und somit einen Fehler begangen hat, denn die Häufung der Worte "darf, soll, muss" ("Der zu Erziehende muss [...] etwas werden", [...] man darf ihn nicht dem Zufall überlassen, [...] es muss planmäßig vorgegangen werden.") schließt die Erfahrung komplett aus. Folglich dürfte Ziller an dieser Stelle auch gar nicht von einem „Erfahrungsmerkmal“ sprechen. Darüber hinaus sagt Dolch, dass doch ganz einfach zu bemerken sei, dass Erziehung nicht von ihrer Absichtlichkeit oder Zufälligkeit bestimmt wird. Davon betroffen ist natürlich die Beurteilung, meist auch das Reaktionserlebnis des zu Erziehenden, nicht aber die Erziehung - die Einwirkung - als solche. Bei der Begriffsklärung der Erziehung spielt es also gar keine Rolle, ob diese nun geplant oder nicht geplant war. Im Zusammenhang damit steht auch das sogenannte Phänomen der "Mitbetroffenheit". Das bedeutet, dass ein und dasselbe Tun oder Unterlassen erziehlicher Relevanz auf mehrere Personen in gleicher oder verschiedener Weise einwirkt, also mehrere erziehliche Wirkungen zustande kommen; zum anderen kann selbst eine bewusste erziehlich intendierte und auf eine bestimmte Person gezielte Einwirkung auch auf nicht angezielte weitere Personen wirken. Diese erziehliche Mitbetroffenheit ist uralte Erfahrungsweisheit der Menschheit, man denke hier z.B. an die Wirkung des Verhaltens und Handelns und Urteilens der Mitmenschen auf die Jugend oder auch an den Erfahrungsbereich der Familienerziehung, wo überaus oft die erziehliche Wirksamkeit auf bewusstes Tun in erziehlicher Absicht bei den nicht angezielten Geschwistern zustande kommt. Nach diesen Ausführungen betont Dolch, dass er Zillers Merkmal der Absichtlichkeit und Planmäßigkeit ausdrücklich ablehnt.
4.) Wenn es um das "bleibende Resultat" geht, hat Dolch offensichtlich keine Einwände, er verweist lediglich auf das alte Problem, dass Erziehung einerseits auf Veränderung, andererseits auf Dauerwirkung abzielt[8].
5.) Zum 5. Erfahrungsmerkmal der Erziehung – es werde nur das Innere des Kindes erzogen – führt Ziller aus, dass freilich leibliche und geistige Natur in Wechselwirkung stände, aber nur zufällig beim Erzieher die Fürsorge für körperliches und geistiges Wohl vereinigt seien. Ziller behauptet sogar, dass der Begriff "physische Erziehung" der Erfahrung gemäß eine contradictio in adjecto sei, ein Begriff, der logisch verboten ist. Dolch findet diese Anführungen mehr als fragwürdig und die Beweisführung unhaltbar, denn ein Widerspruch läge doch nur vor, wenn der schon Begriff "Erziehung" die physische Seite ausschließen würde, was doch aber erst aufzuzeigen unternommen wird. Dolch meint weiterhin, dass Ziller sich bei diesem Merkmal widerspreche, denn einerseits weist er die anthropologische Relevanz ab, betont andererseits aber die Hilfestellung einer "in ein richtiges Verhältnis zur Physiologie gesetzten Psychologie“. Darüber hinaus erwähnt Ziller, dass nicht nur die Antike, sondern auch Locke, Rousseau, Beneke und Froebel "die physiologische Seite in die Erziehung hereinziehen", wodurch er doch eigentlich sehen müsste, dass gerade dies dem Erfahrungsbegriff der Erziehung zukommt.
6.) Hinsichtlich des 6. Merkmals, dass die Erziehung dem einzelnen Menschen als solchem gelte, merkt Dolch an, dass Ziller selbst eine vorläufige Unsicherheit zugibt. Er relativiert seine Behauptung dadurch, dass er vom Erziehungszweck redet, zu dem sicherlich gehöre, "dass dem Einzelnen als solchem, unabhängig von allen Beziehungen auf die Gesellschaft eine Fürsorge zuteil werde".

Nach der Analyse der einzelnen Merkmale kommt Dolch zu dem Schluss, dass Zillers "Erfahrungsbegriff der Erziehung", wie bereits erwähnt, keine Definition im heutigen Sinne ist, sondern allenfalls eine wenig gelungene Explikation darstellt. Er erkennt Ziller aber sein Bemühen an, immer wieder anzumerken, was nur sprachgebräuchlich sei und was noch sachlicher Untersuchung bedürfe. Dennoch bringt Ziller keine wirklichen Beobachtungen, sondern nur Behauptungen. Ferner hätte er für eine gelungene Explikation zumindest einige Sätze oder Redewendungen anführen müssen, in denen das Explikandum "Erziehung" bzw. "erziehen" umgangssprachlich gebraucht wird.

[...]


[1] Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, I. Grundrechte, Artikel 6, (2).

[2] Dolch, 101.

[3] Vgl. Dolch, 102: Zitat von Aloys Fischer, Deskriptive Pädagogik (1914), jetzt: Leben und Werk 2 (1950) 14.

[4] Vgl. Dolch, 102.

[5] * 1817 in Wasungen, † 1882 in Leipzig.

[6] Ziller, Tuiskon. Einleitung in die allgemeine Pädagogik. Leipzig: 1856. §1.

[7] Dolch, 106.

[8] Dieses Grundproblem des Erziehungsdenkens wurde bereits zwischen Kant, Fichte und Herbart erörtert.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der Erfahrungsbegriff der Erziehung nach Josef Dolch
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Erziehungswissenschaft und Psychologie)
Veranstaltung
Was ist pädagogisches Wissen? Systematische und problemgeschichtliche Annäherungen
Note
2,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
17
Katalognummer
V61332
ISBN (eBook)
9783638548120
ISBN (Buch)
9783640319381
Dateigröße
518 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Aufsatz "Der Erfahrungsbegriff der Erziehung - Versuch einer Explikation" von Josef Dolch (1966) ist eine der wenigen Schriften, in denen es dem Verfasser tatsächlich gelungen ist, die wesentlichen Komponenten der Erziehung zu erfassen und diese präzise und ausführlich darzustellen. Aus diesem Grunde soll in der vorliegenden Arbeit eben dieser Aufsatz vorgestellt und analysiert werden.
Schlagworte
Erfahrungsbegriff, Erziehung, Josef, Dolch, Wissen, Systematische, Annäherungen
Arbeit zitieren
Jasmina Murad (Autor:in), 2005, Der Erfahrungsbegriff der Erziehung nach Josef Dolch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61332

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der Erfahrungsbegriff der Erziehung nach Josef Dolch



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden