Der Film als semiotisches System - Eine Untersuchung der Theorien Jurij Lotmans auf der Grundlage von Michelangelo Antonionis Film "Blow Up"


Hausarbeit, 2004

19 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Zielsetzung der Arbeit

2. Kurzbeschreibung von Michelangelo Antonionis ‚Blow Up‘

3. Bedeutung von Bildern auf der Leinwand

4. Die Filmsprache
4.1 Tendenzen der Filmsprache
4.2 Elemente der Filmsprache

5. Aufteilung von Texten
5.1 Der sujethafte / künstlerische Text
5.2 Der sujetlose / nicht künstlerische Text

6. Die drei Erzähltypen des Films

7. Die vier Ebenen des Films

8. Das Prinzip der Räumlichkeit

9. Resümee

Bibliographie

1. Einleitung und Zielsetzung der Arbeit

Was ist Semiotik? Diese Frage stellt sich der Mehrheit der Menschen bei einer ersten Konfrontation mit dem Begriff. Selbst Wissenschaftler sind sich zum Teil nicht einig über eine genaue Definition. Fest steht jedoch, dass Semiotik die Lehre von Zeichen und Zeichensystemen beschreibt. Untersuchungsobjekt dieser „allgemeine[n] Zeichentheorie“[1] sind die „Strukturen sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen(-systeme)“[2]. Aufgrund dieses allumfassenden Anspruchs kann die Semiotik alles auf der Welt nur Vorstellbare in ein System von Zeichen umwandeln und somit auf den verschiedensten Gebieten angewandt werden, darunter Malerei, Architektur, Werbung, Musik und Film.

Ein weiterer Definitionsansatz beschäftigt sich mit der sogenannten ‚Versprachlichung‘ der Welt, wobei die Semiotik menschliches und tierisches Verhalten ebenso als Sprache und somit wiederum als ein System von Zeichen beschreibt, wie auch scheinbar unzusammenhängende Bereiche wie Gestik, Mimik, Spielregeln, Kochkunst und religiöse Bräuche.[3]

Aus diesem breitgefächerten Anwendungsspektrum der Semiotik werden für diese Arbeit nun besonders die Bereiche Literatur und Film von Bedeutung sein, die als ein System von Zeichen erfasst, analysiert und interpretiert werden sollen.

Als einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Semiotik gilt der russische Professor, Strukturalist und Kultursemiotiker Jurij Lotman. Er veröffentlichte zahlreiche Abhandlungen über ebensolche „Sign System Studies“[4], bevor er sich schließlich der Filmwissenschaft zuwandte.

Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, auf der Grundlage von Lotmans Erkenntnissen den Film als semiotisches System näher zu beschreiben und die Elemente der Filmsprache herauszuarbeiten. Als Untersuchungsobjekt hierfür soll der 1966 veröffentlichte Filmklassiker ‚ Blow Up’ von Regisseur Michelangelo Antonioni herangezogen werden, welcher von einem Fotografen handelt, der bei der Vergrößerung einiger seiner Schnappschüsse einen Mord zu entdecken glaubt. Bei der Analyse und Interpretation von ‚ Blow Up’ soll besonders auf die Symbolik und Sujethaftigkeit eingegangen werden, wobei die spezielle Sprache des Films eine bedeutende Rolle spielen wird.

2. Kurzbeschreibung von Michelangelo Antonionis ‚Blow Up‘

In seinem Film beschreibt Antonioni die vergeblichen Bemühungen eines Modefotografen bei der Aufklärung eines Mordes, dessen unfreiwilliger Zeuge er scheinbar bei Aufnahmen eines Liebespaars im Park geworden ist. Nach wiederholter Vergrößerung und eingehender Untersuchung von Ausschnitten der Schnappschüsse meint er eine Pistole und später sogar eine Leiche zu entdecken, was seine Neugier weckt und ihn dazu veranlasst, dem Mysterium auf den Grund zu gehen. Während er nach persönlicher Suche nachts tatsächlich eine Leiche im Park entdeckt hatte, ist diese bei seiner morgendlichen Rückkehr zum gleichen Ort ebenso verschwunden wie all seine Beweisfotos.

Antonionis Film versucht mittels der Visualität und Faszination von Bildern den Kontrast zwischen Illusion und Realität zu verdeutlichen, die Möglichkeiten der Manipulation aufzuzeigen und zugleich ein Porträt der Londoner Beat-Generation der 60er Jahre zu zeichnen, deren Leben von Sex, Drugs und Rock’n’Roll geprägt war.

3. Bedeutung von Bildern auf der Leinwand

„Jede Abbildung auf der Leinwand ist ein Zeichen, das heißt sie hat Bedeutung, ist ein Informationsträger.“[5] So lautet Jurij Lotmans semiotische Kernthese, die darauf schließen lässt, dass kein Gegenstand auf der Leinwand als einfaches Objekt gesehen werden darf, sondern jeder Abbildung stets eine tiefergehende Bedeutung zugrunde liegt. Ein im Alltag völlig gebräuchlicher und nebensächlich erscheinender Gegenstand erhält allein durch seine Abbildung auf der Leinwand eine zusätzliche Bedeutung. Die Hausnummer 39 ist so kein nebensächliches und alltägliches Detail mehr, nachdem sie in ‚Blow Up‘ wiederholt in Nahaufnahme gezeigt wurde, sondern gewinnt allein durch ihre häufige Abbildung an Bedeutung. Hausnummer 39 wird vom Zuschauer mit dem Atelier des Fotografen verbunden, wohin er immer wieder zurückkehrt. Darüber hinaus lassen die häufigen Nahaufnahmen den Zuschauer rätseln, ob eben diese bestimmte Zahl noch eine zusätzliche unbekannte Bedeutung haben könnte. Ein weiteres im Film zu findendes Beispiel der Bedeutungshaftigkeit eines gewöhnlichen Gegenstandes ist der Propeller, den der Fotograf in einem Antiquitätenladen entdeckt und sofort als Dekoration für sein Atelier kauft. Der Propeller begeistert den Fotografen sehr, unklar bleibt nebenbei bemerkt jedoch, warum er zudem den ganzen Antiquitätenladen ersteigern will. Indem der Zuschauer den Propeller auf das Leben des Fotografen projiziert und eine tiefergehende Bedeutung vermutet, kann er zu dem Schluss kommen, dass Parallelen zwischen beiden bestehen. Denn ebenso wie der Propeller sich fortwährend im Kreise dreht, scheint dem Fotografen sein Leben als eine stetige Wiederkehr des Gleichen vorzukommen. Diese These lässt sich insbesondere an seinem rüden und gelangweilten Umgang mit den Models festmachen. Für ihn sind sie nur nervige und austauschbare Objekte, die alles für ein paar Aufnahmen geben würden. Diese Langeweile ist ein Grund dafür, dass er sich auf geheime Aufnahmen spezialisiert hat. Dies suggeriert die Anfangsszene des Films, in der er Männer in einer Fabrik filmt, ebenso wie die Aufnahmen im Park. Auch hier bevorzugt der Fotograf die Arbeit im Verborgenen und sucht Schutz hinter einem Zaun und hinter Bäumen. Die Tatsache, dass ein an ein Guckloch erinnerndes Bild in seinem Atelier hängt, unterstreicht den Eindruck des verbotenen Voyeurismus noch.

Lotman vergleicht das Phänomen der Bedeutungshaftigkeit von Bildern auf der Leinwand dahingehend mit der menschlichen Sprache, dass diese ebenfalls aus einem System von Zeichen aufgebaut ist und eine bestimmte Kommunikationsabsicht verfolgt. Erst im Kontext erhalten die aus scheinbar arbiträren Zeichen bestehenden Wörter eine übertragene Bedeutung. Auf der Leinwand bildet sich darüber hinaus zwischen den abgebildeten realen Gegenständen und dem Bild eine Beziehung heraus. Dadurch werden „die Gegenstände die Bedeutungen der auf der Leinwand reproduzierten Bilder.“[6]

Hieraus lässt sich zusammenfassen, dass Bilder auf der Leinwand zweifache Bedeutung besitzen. Zum einen werden Gegenstände aus der realen Welt abgebildet und erhalten allein durch ihre Abbildung Bedeutung. Diese ist schon in der isolierten Einstellung, also in einer einzigen Aufnahme, vorhanden. Als Beispiel lässt sich hier wie oben bereits erwähnt der Propeller anführen.

Zum anderen können auf der Leinwand abgebildete Gegenstände bisweilen eine zusätzliche, oft überraschende Bedeutung erhalten, welche mittels Techniken wie Montage, anderer Beleuchtung oder wechselnder Entfernungseinstellung hervorgerufen wird. Ein solch überraschendes und unvorhergesehenes Ereignis bewirkt eine symbolische oder metaphorische Bedeutung der Bilder. Zum Entstehen dieser Bedeutung ist im Gegensatz zum vorher angesprochenen einzigen Bild eine ganze Kette aneinandergereihter Einstellungen, also eine Abfolge nötig. Auf ein Beispiel im zu untersuchenden Film angewandt, bedeutet dies, dass die mehrfach abgebildeten Pantomimen erst durch eine Kette aneinandergereihter Einstellungen eine Bedeutung erhalten, da es dem Zuschauer ansonsten schwer fiele, das isolierte Bild eines Pantomimen in den Zusammenhang der Geschichte einzuordnen und seine Bedeutung zu erfassen. Im Laufe des Films wird jedoch klar, dass die Tätigkeit der Pantomimen mit der des Fotografen in Verbindung gebracht werden kann. Beide versuchen mit Hilfe von stummen Bildern eine Geschichte zu erzählen, wobei ihnen nur beschränkte Mittel zur Verfügung stehen. So fehlt der Pantomime ebenso Sprache und Ton wie auch der Fotografie. Die Abbildung von Pantomimen sowohl an Anfang und Ende von ‚Blow Up‘ verleiht dem Film darüber hinaus einen Rahmen. Überraschend ist hierbei, dass die Pantomimen sowohl in einer der ersten als auch in einer der letzten Szenen des Films ihrem Beruf ganz und gar nicht entsprechen, da sie laut jubelnd und schreiend auf einem Wagen durch die Stadt rasen und keineswegs stumm handeln. Der Film schließt mit einem von den Pantomimen nachgestellten Tennisspiel, welches die Möglichkeiten der Manipulation in Film und Fotografie nachzeichnet. Die Kamera folgt dem imaginären Tennisball, der über das Netz geschlagen wird, als wäre er tatsächlich präsent. Auch der Zuschauer meint ihn förmlich sehen zu können, als er vom Platz rollt und vom Fotografen wieder zurückgeworfen wird. Dieses reale Gefühl wird anschließend sogar noch durch die Geräusche eines aufschlagenden Tennisballs verstärkt, die zur Großaufnahme des nachdenklichen Fotografen ertönen. Durch die Tatsache, dass etwas gehört wird, das gar nicht da ist, unterstreicht Antonioni hier zum wiederholten Mal die Möglichkeit, dass auch etwas gesehen werden kann, das ebenfalls nicht existiert – so auch die Leiche im Park.

4. Die Filmsprache

4.1 Tendenzen der Filmsprache

Der Film besitzt seine eigene spezifische Sprache, genannt Filmsprache. Diese setzt sich aus zwei Tendenzen zusammen, wobei die erste eine Erwartungshaltung hervorruft, die zweite sie dagegen durchbricht. Mit Hilfe eines alltäglichen Beispiels lässt sich die erste Tendenz ausführlich wie folgt erklären.

Jeder Mensch macht in seinem Leben praktische Erfahrungen, die bei einer späteren Konfrontation mit einer ähnlichen Situation eine Erwartungshaltung hervorrufen. Hat sich ein Kind etwa einmal an einer heißen Herdplatte verbrannt, wird es ab sofort bei jeder heißen Herdplatte Schmerz erwarten. Erscheint nun auf der Leinwand eine Hand auf einer rot glühenden Herdplatte, erwartet der Zuschauer - sich an seine eigene schmerzhafte Erfahrung erinnernd - ein schnelles Wegziehen der Hand, was weitere Schmerzen vermiede.

Die mit diesem Beispiel anschaulich erklärte Tendenz der Filmsprache beruht also auf praktischen Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben und auf der „Wiederholbarkeit der Elemente“[7], da durch die Wiederholung alltäglicher oder bekannter Situationen auf der Leinwand eine bestimmte Erwartungshaltung beim Zuschauer hervorgerufen wird.

Die zweite Tendenz widerspricht nun aber dieser hervorgerufenen Erwartungshaltung grundlegend. Um auf das oben angeführte Beispiel mit der heißen Herdplatte zurückzukommen, wird hier die Hand nicht mehr wie vom Zuschauer erwartet vor Schreck und Schmerz weggezogen, sondern verharrt auf der glühenden Platte, wo sie langsam verbrennt. Die auf unserer Lebenserfahrung beruhenden Erwartungen werden in dieser zweiten Tendenz der Filmsprache also durchbrochen und bekannte Abfolgen durcheinander gebracht. Diese „Asynchronität“[8] und „Deformation gewohnter Abfolgen, Fakten oder Ansichten von Dingen“[9] bildet die Grundlage der Bedeutungen auf der Leinwand und ist somit auch Basis der Filmsprache, da solch unerwartete Überraschungsmomente als bedeutungstragend gelten.

[...]


[1] Schweikle, Günther und Irmgard (Hrsg.): Metzler-Literatur-Lexikon – Begriffe und Definitionen. Stuttgart: Metzler 1990, S. 423

[2] Ebd.

[3] http://www.zhurnal.ru/staff/gorny/english/semiotic.htm

[4] http://www.ut.ee/SOSE/onlotman.htm

[5] Lotman, Jurij M.: Probleme der Kinoästhetik – Einführung in die Semiotik des Films. Frankfurt am Main: Syndikat 1977 (im Folgenden zitiert als: Kinoästhetik 1977), S. 51

[6] Kinoästhetik 1977, S. 51

[7] Kinoästhetik 1977, S. 52

[8] Ebd.

[9] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Film als semiotisches System - Eine Untersuchung der Theorien Jurij Lotmans auf der Grundlage von Michelangelo Antonionis Film "Blow Up"
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft / Komparatistik)
Veranstaltung
Proseminar: Filmsemiotik
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V61118
ISBN (eBook)
9783638546447
ISBN (Buch)
9783656780007
Dateigröße
510 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Film, Untersuchung, Theorien, Jurij, Lotmans, Michelangelo, Antonionis, Filmsemiotik, Semiotisch, Filmtheorien, Blow up, Filmwissenschaft, Filmanalyse, Fotografie, Filminterpretation
Arbeit zitieren
Julia Deitermann (Autor:in), 2004, Der Film als semiotisches System - Eine Untersuchung der Theorien Jurij Lotmans auf der Grundlage von Michelangelo Antonionis Film "Blow Up", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61118

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