Der Asabijja-Begriff in der Gesellschaftslehre von Ibn Chaldun in Reflexion zu E. Durkheims 'sozialer Solidarität'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

23 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 „Wissenschaft“ bei Ibn Chaldun

3 Die Begriffserklärung von ‘Asabijja

4 Die zyklische Bewegung der Geschichte: vom Nomadentum zur Sesshaftigkeit
4.1 Bedeutung der ‘Asabijja für die Herrschaft
4.2 Die segmentären Gesellschaften
4.3 Der Übergang vom ländlichen zum städtischen Leben
4.4 Verfall von Dynastien

5 Die „soziale Solidarität“ und das „Kollektivbewusstsein“

bei E. Durkheims im Vergleich zu Ibn Chalduns

‘Asabijja

6 Schussfolgerung

7 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Ibn Chaldun (1332-1406), der bedeutendste Vertreter der kritischen Forschung[1] des islamischen Mittelalters, gilt als Vorläufer des soziologischen Denkens und hat einen hohen Stellenwert bei den muslimischen Soziologen. Sein Werk „Muqaddima“ bleibt in der deutschen Soziologie jedoch kaum wahrgenommen.[2] Dennoch bei der Lektüre dieses Werkes fällt es sofort auf, dass seine zentralen, soziologisch relevanten Aussagen, nämlich über die wissenschaftlichen Methoden und darüber, was eine Gemeinschaft im Inneren zusammen hält, erstaunlich modern klingen.

Was betrifft die methodologischen Erkenntnisse, so betrachtet Ibn Chaldun die Geschichtswissenschaft als eine Wissenschaft, in der nicht nur Völker und die geschichtlichen Ereignisse einfach beschrieben werden sollten, sondern es geht vor allem um die genaue Erforschung der Ursachen der geschaffenen Dingen und ihre Ausgangspunkte. So erweist sich Ibn Chaldun weit mehr als ein empirischer und deskriptiver Soziologe, der weniger Ratschläge erteilt und akzeptiert im Ganzen die Gesellschaft so, wie er sie vorfindet.[3]

Auf dieser methodologischen Grundlage untersucht Ibn Chaldun die Zustände, die mit der Entwicklung der menschlichen Kultur zusammenhängen. Er charakterisiert dabei eine zyklische Bewegung, in der die nomadischen Beduinen die Kultur in den Städten entfalten, die wiederum durch Aggression von außen oder durch eigene Schuld verfällt, um sie wieder entstehen zu lassen. Die beiden Formen menschlichen Zusammenlebens entnimmt Ibn Chaldun der Situation seiner Zeit und setzt sie in ihrem Wechsel als allgemeines Gesetz der Geschichte und der Gesellschaft. So sah er folglich die Geschichte als permanenten Wechsel der Kultur und der politischen Organisationen, die die Geburt als ihren Niedergang erleben. Der Niedergang erfolgt unmittelbar nach der Hochblüte einer Kultur. Die politische Ordnung, die Ibn Chaldun beschreibt, beruht auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft; und Zusammenhalt kann nur unter den primitiven Bedingungen des Stammeslebens erzeugt werden, wo es keine Zentralmacht gibt und die Sicherheit eines Menschen einzig von dem gegenseitigen Vertrauen zwischen ihm und seinen Stammesgenossen abhängt. Die hier kurz skizzierten gesellschaftlichen Zustände erklärt Ibn Chaldun mittels eines zentralen soziologischen Begriffes seiner Theorie, der ‘Asabijja. Als vereinfacht übersetzt, bedeutet dies soviel wie Zusammenhalt, Zusammen-zugehörigkeit oder Solidarität zwischen den Stammesangehörigen.

Der Gegenstand dieser Arbeit wird daher die Erklärung des Begriffes ‘Asabijja und in diesem Zusammenhag die innere Dynamik einer Gesellschaft, die Ibn Chaldun in seinem Werk beschreibt. Um die Bedeutung des Werkes aufzuzeigen, wird weiterhin einen Bezug auf den anderen Klassiker des soziologischen Denkens E. Durkheim genommen. Denn für Durkheim kann eine Gesellschaft auch nur über die Solidarität ihre Mitglieder erhalten. Daher stellt E. Durkheim in seinem ersten Hauptwerk „Über soziale Arbeitsteilung“ (1893) eine der zentralen Fragen, wie kann ein Individuum gleichzeitig persönlicher und solidarischer sein?[4] Dabei ist es wichtig, den jeweiligen historischen Kontext der beiden Abhandlungen vor den Augen zu behalten. Durkheim lebte in der Zeit der sozialen Krise seines Landes, was ihn dazu veranlasst hat, die Soziologie als eine Moralwissenschaft zu begründen.[5] Ibn Chaldun wirkte in der Verfallsepoche seiner Kultur, die durch eine politische und soziale Instabilität gekennzeichnet wurde.

Die vorliegende Arbeit stützt sich vorwiegend auf die von Annemarie Schimmel übersetzte Abschnitte aus Ibn Chaldun Muqaddima: " Ibn Chaldun. Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima" vom Jahre 1951. Bei der Erläuterung der theoretischen Begriffe E. Durkheims habe ich mich vorwiegend auf die Sekundärliteratur beschränkt und zum Teil auf seine Schrift „Über soziale Arbeitsteilung“ (1893).

2 „Wissenschaft“ bei Ibn Chaldun

Die „Muqaddima“[6] ist eine Einleitung des dreiteiligen Hauptwerkes von Ibn Chaldun: „Buch der Beispiele und Sammlung des Objekts und des Attributs in den Tagen der Araber, der Perser und der Berber und der großen Herrscher, die ihre Zeitgenossen waren“ kurz in der Literatur als „Buch der Beispiele“ (Kitāb al-‘Ibar) bekannt. Dieses Hauptwerk, vor allem der zweite und der dritte Teil, stellt eine universelle Geschichte der Araber und Berber seit der Frühzeit, sowie die biblischen Geschichten und die Geschichte der antiken Völker dar. Damit hat Ibn Chaldun einen Versuch unternommen, eine umfassende Weltgeschichte niederzuschreiben.[7] Wenn die Bedeutung des zweiten und des dritten Teiles des Werkes von Ibn Chaldun umstritten ist, ist der erste Teil, die „Muqaddima“, zweifellos durch in ihr klargelegte theoretisch-philosophische Ideen des Autors von einem hohen wissenschaftlichen Stellenwert.[8] Dass Ibn Chaldun in der „Muqaddima“ ausgearbeitete methodologische Grundlagen in den weiteren Darstellungen der Geschichte nicht angewendet hat, kann wohl daran liegen, dass er die Geschichte im Auftrage von Fürsten geschrieben und an die gegebenen Umstände anzupassen hatte.[9]

An diesem Werk arbeitete Ibn Chaldun sein ganzes Leben lang. In der Kairoer Druckausgabe von 1967 umfasst nur die „Muqaddima“ insgesamt 1475 Seiten. Seine Ideen erschöpfte Ibn Chaldun durch die verschiedenen Tätigkeiten in politischen und juristischen Ämter und als Professor der Azhar-Universität und anderen Lehrtätigkeiten. Die „Muqaddima“ schrieb Ibn Chaldun allerdings in der Zeit, als er von seinen politischen Ämtern zurückgezogen war. Dazu ist es wichtig zu erwähnen, dass die Denkweise des Ibn Chalduns, als einen frommen Muslimen, auf den Grundlagen des islamischen Religionsgesetzes basiert, was wiederum die Modernität seiner Gesichtspunkten nicht bestreiten lässt.[10] So begründet er seine Aussagen an mehreren Stellen durch die Koranversen und durch die göttliche Rechtleitung bekommt er eine Inspiration und gelangt zu den wahren Erkenntnissen in der Wissenschaft.[11]

Was die Entwicklung der Wissenschaften betrifft, unter anderem im Bereich der Medizin, Mathematik, Geisteswissenschaften und Astronomie, so besteht eine herrschende Meinung, dass die islamische Welt bis zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erlebte. Der islamischen Welt waren auch die berühmten Werke der Antike durch die zahlreichen Kommentare und Übersetzungen ins arabische wohl bekannt. Dennoch der Versuch die Geschichte als „Wissenschaft“, mit der Erklärung von Ursachen und Gründen und Formulierungen der historischen Regelmäßigkeiten, zu betrachten und nicht als bloße Aufbewahrung der Tatsachen, zur Unterhaltung oder zur Belehrung geht erstmalig auf Ibn Chaldun zurück.[12] Er schreibt selbst dazu:

„Deshalb hat Ibn Chaldun ein Werk über die Geschichte verfasst: in welchen ich einen Schleier von den Zuständen der Ursprunge der Staaten gehoben habe; [...] ich habe darin erstmals Gründe und Ursachen für den Beginn der Dynastien und der Kultur klargelegt.“[13]

Anders stand es jedoch um die politischen und sozialen Verhältnisse, die sich zu dieser Zeit in einer Krise befanden, was zum Niedergang dieser Staaten führte.[14] Wenn Ibn Chalduns philosophische Erkenntnisse nicht losgelöst von seinen Vorgängern entwickelt wurden, fand er dagegen später keine Anhänger mehr. Wie es H. Simon wohl bemerkt: „dass sein Werk, mit dem er den Grund zu einer neuen Wissenschaft legen wollte, sowohl Anfang wie auch Ende bezeichnet. Europa, das die aristotelische Philosophie in ihrer sarazenischen [d.h. islamische Welt] Vervollkommnung rezipiert hatte, hat dieses Spätprodukt morgenländische Forschung nicht mehr übernommen“[15]. Die politische und soziale Krise dieser Zeit hat die Arbeit von Ibn Chaldun zweifellos unmittelbar beeinflusst.

Wie es schon angedeutet wurde, geht es Ibn Chaldun bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklungen primär um die Ursachenerklärung der geschaffenen Dinge und nicht um die bloße Darstellung der gegebenen Ereignisse, oder um die Vorschläge nach der besten Form des menschlichen Zusammenlebens. Dabei wendete er die Methode der Beobachtung so an, wie seine Vorgänge in den naturwissenschaftlichen und medizinischen Werken benutzt hatten[16] und betonte die Wichtigkeit der Verifizierung und der Objektivität:

"Sie [die Geschichtsschreiber] ließen (die Überlieferungen) zu uns gelangen, wie sie hörten, bedachten und beachten nicht die Ursachen der Ereignisse und der Zustände und gaben weder die unwahrscheinlichen Erzählungen auf, noch wiesen sie sie ab. Die Verifizierung ist selten und die Seite der sorgfältigen Korrektur ist meist schwach.[ ...] wenn die Seele beim Empfang der Nachricht unparteiisch ist, verwendet sie Prüfung und Einsicht auf sie, soviel sie verdient, bis klar wird was wahr und was falsch daran ist. [...] Diese Neigung und Parteinahme sind ein Schleier vor dem Auge ihrer Einsicht, (der es hindert, die Dinge) kritisch zu betrachten und zu prüfen."[17]

Ibn Chaldun versteht sich nicht als ein Philosoph, und lehnt die Philosophie als eine spekulative Wissenschaft ab, in dem er davon ausgeht, dass die Logik keinen Erkenntniswert haben kann. Er kritisiert an mehreren Stellen stark die Philosophie und überführt die Philosophen des Irrtums.[18] Ebenso zieht er die klaren Linien zwischen der Wissenschaft und der Religion. Die Religion für Ibn Chaldun stellt primär eine Anweisung für das Leben und nicht das Erkenntnis. Die wissenschaftlichen Ergebnisse können jedoch nicht im Widerspruch zu der Religion stehen.[19]

Zum anderen neigt er zur Generalisierung vorgefundener Sachverhalte und zur Aufstellung der Gesetzmäßigkeiten.[20] Dadurch gilt die „Muqaddima“ als erste Arbeit, in der ein Versuch unternommen wurde, die gesellschaftlichen Gesetze zu formulieren. Demnach verläuft die Entwicklung einer Gesellschaft immer nach einem bestimmten Muster: nomadisierende Viehzucht, Sesshaftigkeit der nomadischen Stämme, Ackerbau und bis zu den städtischen Entwicklungen mit einer ausdifferenzierten Arbeitsteilung. Die hochentwickelten Kulturstädte werden danach sowohl durch eine Bedrohung von außen als auch durch die eigene Verschuldung, in diesem Falle durch Verschwinden der Solidarität d.h. der ‘Asabijja zwischen der Gemeinschaftsangehörigen, zerstört. Nach dem Verfall einer Dynastie folgt immer Geburt einer neueren. Um zu solchen Schlussfolgerungen gelangen zu können, soll laut Ibn Chaldun ein Wissenschaftler die genaueren Kenntnisse von Institutionen und Normen der verschiedenen Gesellschaften erwerben. Zu der Wissenschaftlichkeit einer Arbeit gehört auch die Vergleichbarkeit der erworbenen Erkenntnisse:

[...]


[1] vgl. H. Simon, S.10

[2] Die „Muqaddima“ wurde zum ersten Mal von der Annemarie Schimmel im Jahre 1951 ins Deutsche übersetzt. Es ist aber leider keine komplette Übersetzung des Werkes. Im Französische erschien das gesamte Buch bereits im Jahre 1862, übersetzt von MacGuckin de Slane. Das soziologische Interesse an diesem Werk wurde zum ersten Mal im Jahre 1893 durch Robert Flint in der „History of Philosophy of History“ geweckt. vgl. Schimmel, S.XVI

[3] E. Gellner, 1992, S.50

[4] R. König, S. 321

[5] R. König, S.320

[6] Muqaddima bedeutet wörtlich übersetz „Einleitung“, „Vorwort“.

[7] H. Simon, S.30

[8] vgl. A. Schimmel, S. XIV

[9] vgl. H.Simon, S.13

[10] vgl. A. Schimmel, S. XX

[11] vgl. A. Schimmel, S.15 f.

[12] vgl. H.Simon, S.35 f.

[13] A. Schimmel, S. 2

[14] vgl. N. Hamarne: „Die Epoche Ibn Haldūn’s aus der Sicht der Geschichte der Wissenschaften“ und Vgl. Simon, S.14 f.f. Gerade zur dieser Zeit musste Ibn Haldūn erleben, wie das Mongolenreich unter dem Timur Leng die weiteren islamischen Gebiete bedrohte. Auch in Nordafrika liefen andauernd Kämpfe zwischen den zu dieser Zeit drei herrschenden Dynastien: Meriniden, Abdalwadiden und Hafsiden. Nicht zuletzt kam auch eine Bedrohung durch die Raubzüge von den angrenzenden nomadischen Berberstämme. In diesem Zusammenhang spricht man von dem Zusammenbruch der politischen Macht im Khalifenreich.

[15] H. Simon, S. 36

[16] H. Simon, S. 41

[17] A. Schimmel, 1951, S.2 und 9

[18] vgl. A. Schimmel, u.a. S.45

[19] H. Simon, S. 43-47

[20] vgl. H. Ley, S.8f.f.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Der Asabijja-Begriff in der Gesellschaftslehre von Ibn Chaldun in Reflexion zu E. Durkheims 'sozialer Solidarität'
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Orientalische Institut)
Veranstaltung
Stamm und Staat in Mittelasien
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
23
Katalognummer
V61054
ISBN (eBook)
9783638545860
ISBN (Buch)
9783656789635
Dateigröße
560 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ibn Chaldun (1332-1406), der bedeutendste Vertreter der kritischen Forschung des islamischen Mittelalters, gilt als Vorläufer des soziologischen Denkens und hat einen hohen Stellenwert bei den muslimischen Soziologen. Sein Werk 'Muqaddima' bleibt in der deutschen Soziologie jedoch kaum wahrgenommen. Dennoch bei der Lektüre dieses Werkes fällt es sofort auf, dass seine zentralen, soziologisch relevanten Aussagen, nämlich über die wissenschaftlichen Methoden und darüber, was eine Gemeinschaft i
Schlagworte
Asabijja-Begriff, Gesellschaftslehre, Chaldun, Reflexion, Durkheims, Solidarität, Stamm, Staat, Mittelasien
Arbeit zitieren
Maritana Larbi (Autor:in), 2003, Der Asabijja-Begriff in der Gesellschaftslehre von Ibn Chaldun in Reflexion zu E. Durkheims 'sozialer Solidarität', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61054

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