Das Phänomen des Christusnarrentums in "Moskva-Petushki"


Hausarbeit, 2005

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Zur Phänomenologie des jurodivyj

3. Die Gestaltung der Figur Venička als jurodivyj
3.1. Genese der Rolle Veničkas
3.2. Das Motiv der Erkenntnisreise
3.3. Alkoholisiertheit als Stigma
3.4. Die Funktion des Alter Ego
3.5. Das Motiv des Schauspiels
3.6. Die Mission Veničkas
3.7. Die Provokation Veničkas
3.8. Die Weltsicht eines Narren oder die Betrachtung einer närrischen Welt?

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Christusnarren – oder jurodivye, wie sie im Verlaufe dieser Arbeit genannt werden sollen – haben ein lange Tradition in Russland und galten schon in der alten Rus‘ als feste Bestandteile von Dorfgemeinschaften. Zunächst heidnischen Ursprungs vermischte sich das Schamanenhafte, das ihnen eigen war, mit christlichen Elementen. Ihr Verhalten gleicht einem freiwilligen Martyrium; aus der Gesellschaft ausgeschieden, begibt sich der jurodivyj auf seine christliche Mission, die allgemeinen Missstände in der Gesellschaft durch sehr eigensinnige Methoden aufzuzeigen. Erkenntnis- und Wahrheitssuche sind dabei die hohen Ziele, die der jurodivyj verfolgt.

Die Poėma „Moskva – Petuški“ entstanden 1969 und durften erst 1989 in Russland veröffentlicht werden. In ihnen spiegeln sich Tendenzen jenes Dissidententums, das dem Autor Venedikt Erofeev zu Zeiten der Sowjetdiktatur vorgehalten wurde. Seine Figur „Venička“ fährt gleich einem Vagabunden mit dem Vorortzug von Moskau nach Petuški und schildert dem Leser seine kontroversen Weltanschauungen. Sein Stigma und seine Maske ist die fortwährende Alkoholisiertheit: Moralische Bewertungen und Einschätzungen erfahren ihre jeweilige Kanalisierung, wenn die entsprechende Trunkenheit eingetreten ist.

Schon in der alten Rus‘ bestand eine gewisse Äquivalenz zwischen Narrheit und Trunkenheit – so würden sich Betrunkene von Narren nur durch ihre sittliche Unreinheit unterscheiden, der Betrunkene aber offene Ehrlichkeit demonstrieren.[1]

Die von der Figur Venička evozierten Werte und Überzeugungen wirken mitunter paradox und unsinnig. Seine Berichte sind von provokativem Gehalt und die Vermutung liegt nahe, dass sich hier des Gestus des klassischen jurodivyj bedient worden sein könnte. Nach Aufschlüsselung der für jurodivye gemeinhin geltenden Charakteristika soll untersucht werden, inwiefern Venička einem jurodivyj ähnlich ist.

2. Zur Phänomenologie des jurodivyj

Jurodivye gehören zum russischen kulturellen Identitätsverständnis – für sie gibt keine direkte westliche Entsprechung. Im Gegenteil: Sie gelten sogar als Gegenentwurf zur bourgeoisen westlichen Zivilisation. Sie sind in ihrer Typologie einzigartig.

Typische Verhaltens- und Wesenszüge eines jurodivyj sind nach Lichacev/ Pančenko seine asketische Selbsterniedrigung, sein vermeint-licher Wahnsinn und die Verachtung und Abtötung des Geistes.[2] Der jurodivyj wählt freiwillig den Weg des Einzelgängers, indem er seine Kultur verlässt. Um seiner Mission nachzukommen, legt er die Maske des Wahnsinns oder der Schwachsinnigkeit an.

Sein als Martyrium bezeichneter Weg gleicht dem Muster der imitatio Christi. Durch Selbstverleugnung und Demut wird bewusst die Nähe zu Gott gesucht:

„In den altrussischen Quellen wird das Christusnarrentum, voll von Beschwerden, Leiden und Schmach, mit dem Kreuzweg Jesu Christi verglichen, und der Narr selbst mit dem Erlöser (...) Dies ist eine symbolische Darstellung des Erlösungsopfers. Wenn der Leib Christi Opfer ist, dann ist der Leib des Christusnarren ebenfalls Opfer.“[3]

Laut Lichacev/ Pančenko sei es die Aufgabe der jurodivye, die Laster und Sünden von Arm und Reich zu entlarven ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Umgangsformen. Deren Verachtung gelte den jurodivye als Privileg und notwendige Bedingung. Die Tatsache, dass sie ein Leben voller Mühsal und Schmach zubringen, gebe ihnen das Recht, die ‚stolze und eitle Welt zu beschimpfen‘.[4] Gemäß Ewa Thompson diene dies jedoch als Mittel der christlichen Vervollkommnung: „They did so to perfect themselves spiritually. Their nasty behavior was a means of avoiding the love and admiration usually accorded to persons of high spiritual achievement.“[5]

Doch neben der Ablehnung der Huldigung ihrer Heiligkeit zeigt sich ihre Aggression auch in der Form, dass sie möglichst provokativ versuchen, die „Welt zu erschüttern“[6], um ihr deren Sündigkeit vorzuhalten. Diese Didaktik ist wesentlich für den jurodivyj.

Es gebe lt. Thompson fünf binäre Oppositionen, die einen so genannten „Code“ für jurodivye darstellten: „wisdom – foolishness, purity – impurity, tradition – rootlessness , meekness – aggression , veneration – derision“[7].

Durch die ostentative Zurschaustellung des Negativen soll dem Sündigen das Positive offenbar werden. Der jurodivyj trägt das Gute in sich und will es durch diese Methode verbreiten. So besteht sein ethisches Prinzip darin, allgemein verbindliche Verhaltensnormen auf ihre moralische und christliche Standhaftigkeit zu prüfen.

3. Die Gestaltung der Figur Venička als jurodivyj

3.1. Genese der Rolle Veničkas

Jurodivye wählen ihre Rolle freiwillig. Es gibt für gewöhnlich einen entscheidenden Punkt in ihrem Leben, an dem sie sich entscheiden, sich als Narr auf göttliche Mission zu begeben. Hierbei spielt auch das theatralische Element eine wesentliche Rolle: Sie streifen sich die Maske des Wahnsinns bzw. der Schwachsinnigkeit über. Von diesem Wendepunkt spricht auch Venička. Ein dreimal auftauchendes Motiv in „Moskva – Petuški“ ist das der Henker in Form von vier Gestalten, die für eine bestimmte Zeit Veničkas Gefährten sind und ihn schließlich verstoßen, weil er sich nicht gemäß ihren Regeln verhält bzw. sein eigener Wertekosmos sich nicht mit ihrem deckt.

In den Episoden „Kuskovo – Novogireevo“ und „Novogireevo – Reutovo“ erzählt Venička von seinem Versuch, seine autoritäre Position als Brigadiersposten auszunutzen, um seinen Angestellten Bildung angedeihen zu lassen. Dies geht für ihn einher mit der mutwilligen Unterlassung der von der Autorität des Staates auferlegten Arbeitspflicht. Dies assoziiert er unmittelbar mit zurückeroberter Freiheit:

„O, svoboda i ravenstvo! O, bratstvo i iždivenčestvo! O, sladost‘ nepodotčetnosti! O, blažennejščee vremja v žizni moego naroda – vremja ot otkrytija i do zakrytija magazinov.“ (28)

An dieser Stelle wird – wie auch an vielen anderen Stellen der Poėma – das Genussprinzip im Zusammenhang mit anarchistischen Impulsen thematisiert. Dies scheint Teil der Visionen zu sein, die Venička in Bezug auf die Glückseligkeit seines Volkes hat. Das Wohlergehen seines Volkes ist ihm, wie auch den klassischen jurodivye, ein direktes Anliegen. In göttlicher Mission sollen jurodivye christliche Werte vermitteln – so auch Venička:

„(...) vspomni, ty čital u kakogo-to mudreca, čto Gospod‘ Bog zabotitsja tol’ko o sudbe princev, predostavljaja o sudbe narodov zabotit’sja princam. A ved‘ ty brigadir i, stalo byt‘, ‚malen’kij princ‘. Gde že tvoja zabota o sudbe tvoich narodov?“ (29)

Diese Pädagogik muss scheitern, da „sein Volk“ ihn und seine Botschaften nicht versteht. Sobald er fahrlässig an die tatsächliche geltende Autorität verraten wird, verabschiedet er sich von den Maßstäben, die ein Überleben in seiner Gesellschaft garantierten. Insofern wird er auch annähernd dem Anspruch Lichacevs/ Pančenkos an jurodivye gerecht, der besagt, dass, wenn er unter die Christusnarren gehe, verlasse der Mensch die Kultur und zerreiße alle Verbindungen zu ihr.[8]

„I vot – ja toržestvenno objavljaju: do konca moich dnej ja ne predprimu ničego, čtoby povtorit‘ moj pečal’nyj opyt vozvyšenija. Ja ostajus‘ vnizu i snizu ploju na vsju vašu obščestvennuju lestnicu. Da. Na každuju stupen’ku lestnicy – po plevku. Čtoby po nej podymat’sja, nado byt‘ židovskoju mordoju bez stracha i upreka, nado byt‘ pidorasom, vykovannym iz čistoj stali s golovoy do pjat. A ja – ne takoj.“ (32)

[...]


[1] Vgl. Ottovordemgentschenfelde, Natalia, Jurodstvo: eine Studie zur Phänomenologie und Typologie des Narren in Christo, Frankfurt a. M., Europäische Hochschulschriften, Reihe XVIII. Vergleichende Literaturwissenschaft, Bd. 111, S. 191.

[2] vgl. Lichacev, D. S., Pančenko, A. M., Die Lachwelt des alten Rußland, München 1991,

S. 92.

[3] Ebd., S. 103f.

[4] Vgl. ebd., S. 93.

[5] Thompson, Ewa M., Understanding Russia. The Holy Fool in Russian Culture, Lanham 1987, S. 7.

[6] Ottovordemgentschenfelde, Jurodstvo, S. 141.

[7] Thompson, Understanding Russia, S. 16.

[8] Vgl. Lichacev, Pančenko, Lachwelt, S. 92.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das Phänomen des Christusnarrentums in "Moskva-Petushki"
Hochschule
Universität Hamburg  (Institut für Slavistik)
Veranstaltung
Heilige, Idioten, Narren und Sonderlinge in der russischen Literatur
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
23
Katalognummer
V61014
ISBN (eBook)
9783638545600
ISBN (Buch)
9783656798811
Dateigröße
565 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Phänomen, Christusnarrentums, Moskva-Petushki, Heilige, Idioten, Narren, Sonderlinge, Literatur
Arbeit zitieren
Anke Kell (Autor:in), 2005, Das Phänomen des Christusnarrentums in "Moskva-Petushki", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/61014

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Das Phänomen des Christusnarrentums in "Moskva-Petushki"



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden