Legasthenie. Der Stellenwert der Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule


Diplomarbeit, 2006

103 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Teil I: Legasthenie – Lese-Rechtschreib-Schwäche
1. Geschichtlicher Hintergrund
2. Begriffsbestimmungen
2.1 Lernstörung
2.2 Spezifische Schwäche bei durchschnittlicher Intelligenz
2.3 Teilleistungsschwäche
2.4 Krankheit
2.5 Schwäche, die aus dem Rahmen fällt
2.6 Störung im Aneignungsprozess des Lesens und Schreibens
3. Ursachen
3.1 Der Weg des Schriftspracherwerbs
3.2 Interaktionelle Faktoren
3.3 Gestörte Teilfunktionen
4. Folgen
4.1 Psychologische Erklärungsmuster
4.2 Teufelskreis-Modell von Betz und Breuninger
5. Rechtliche Grundlagen und Erlasse
6. Resümee

Teil II: Theoretische Erklärungsansätze
1. Die strukturfunktionale Theorie nach Parsons
1.1 Systeme, Rollen und Strukturen der Gesellschaft
1.2 Lernen als Internalisierungsprozess
1.3 Sozialisation
2. Die Theorie des kommunikativen Handelns nach Habermas
2.1 Sprache und ihre Geltungsansprüche
2.2 Instrumentelle und kommunikative Rationalität
2.3 Sozialisation und Ich-Identität
2.4 Strukturen des kommunikativen Handelns
3. Die Systemtheorie nach Luhmann
3.1 Die Systemtheorie
3.2 Systeme und Autopoiesis
3.3 Kommunikationssysteme und ihre Elemente
3.3.1 Kommunikation
3.3.2 Sinn
3.3.3 Sprache
3.3.4 Schrift
4. Sozialisationstheoretische Zusammenhänge
4.1 Die Aufgaben der Familie
4.2 Die Aufgaben der Schule
4. Resümee

Teil III: Die Profession der Sozialpädagogik
1. Dienstleistung am Menschen
2. Soziale Kontrolle und sozialer Wandel
3. Sozialpädagogik und Integration
4. Merkmale und Motivationsanforderungen
5. Definitionen und Bestimmungen nach Mollenhauer
5.1 Sozialpädagogik als Erziehungsbereich
5.2 Sozialpädagogik als Eingliederungshilfe
6. Resümee

Teil IV:
Diagnostik und Intervention
1. Kritische Anmerkungen
2. Die Multiaxiale Diagnostik
3. Diagnostik des Zentrums für Legasthenie
4. Resümee

Teil V:
Methoden zur sozialpädagogischen Intervention
1. Schulsozialarbeit
1.1 Arbeitsprinzipien
1.2 Zielgruppe
1.3 Ziele
2. Sozialpädagogische Familienhilfe
2.1 Arbeitsansätze
2.2 Zielgruppe
2.3 Ziele
3. Mediation
3.1 Prinzipien
3.2 Ziele
4. Beratung
4.1 Grundsätze
4.2 Ziele

Teil VI:
Fazit
Literaturverzeichnis
Glossar
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Eidesstattliche Erklärung

Einleitung

Legasthenie / Lese-Rechtschreib-Schwäche…!

Wo immer diese Begriffe auftauchen, entsteht Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und eine Fülle von Vorurteilen gegenüber dem betroffenen Kind und seiner Familie. Stigmatisierung, psychische und physische Folgen gehören ebenso zu den vielfältigen Nebeneffekten, die mit dieser Thematik einhergehen. Der Gegenstand dieser Diplomarbeit im Studiengang Erziehungswissenschaft ist aus persönlicher Erfahrung im Umgang mit dem Phänomen Legasthenie entstanden und letztendlich aus den daraus resultierenden Fragen: Was genau ist Legasthenie? Wann wird sie zum Problem? Wie gehe ich als Sozialpädagoge mit diesem Thema um? Stößt die Sozialpädagogik hier an ihre Grenzen, oder kann sie professionelle Hilfe leisten, ohne über spezielles Wissen oder Fachkompetenzen zu diesem Thema zu verfügen?

Der erste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Begriff der Legasthenie. Ein geschichtlicher Überblick soll erklären, warum es auch heute noch viele kontroverse Meinungen zu diesem Thema gibt. Neben verschiedenen Definitionen werden auch Ursachen und Folgen benannt, sowie spezifische Formen von Legasthenie erläutert. Zur aktuellen Behandlung der Thematik in den verschiedenen Bundesländern gibt es rechtliche Grundlagen zur Förderung betroffener Kinder und Familien, die aus dem Beschluss der Kultusministerkonferenz von 1978 hervorgehen und in die Rahmenrichtlinien der Länder übernommen wurden. Diese werden kurz dargestellt und sollen zeigen, inwieweit Legasthenie in den einzelnen Bundesländern anerkannt und an den Schulen gehandhabt wird / werden sollte. Ziel dieser Darbietungen ist es, zu klären, was genau Legasthenie ist und ob sie behandelt / therapiert werden kann oder nicht.

Im zweiten Teil dieser Arbeit wird auf theoretische Erklärungsansätze zurückgegriffen. Mit Hilfe der Theorien von Talcott Parsons, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann wird herausgestellt, für wen Legasthenie ein Problem darstellt und wie es strukturiert ist. Anhand von allgemeinen Sozialisationstheorien sollen die Aufgaben der Schule und der Familie aufgezeigt werden. Beim Vergleich dieser beiden Instanzen lässt sich schnell feststellen, dass es aufgrund von unterschiedlichen Erwartungen und Aufgaben mit dem Auftreten von Legasthenie zu Konflikten kommt. Häufig sind Spannungen zwischen Familie und Schule der Auslöser zu weiteren Gegensätzlichkeiten und haben wiederum tief greifende Folgen für das Kind und Auswirkungen auf das Ausmaß der Legasthenie.

Der dritte Teil stellt fest, dass das Thema Legasthenie ein Handlungsfeld der Sozialpädagogik ist. Dieser Aufgabenbereich lässt sich aus ihrer Profession heraus ableiten. Die Sozialpädagogik wird mit ihren Aufgaben und ihrer Profession dargestellt. Aus diesen Ausführungen ergibt sich schließlich die Legitimation für sozialpädagogische Eingriffe in die Thematik. Es wird sich herausstellen, dass Interventionen zur Lösung des Problems zwischen Familie und Schule eine grundlegende Aufgabe der Sozialpädagogik bilden. Die Gründe und Argumente für eine solche These werden hier dargelegt.

Der vierte Teil ist allgemein gehalten und beschäftigt sich mit den Diagnose- und Testverfahren, die üblicherweise angewandt werden, um eine Legasthenie festzustellen. Ziel dieser Überlegungen ist es, die Grenzen der Sozialpädagogik aufzuzeigen und möglicherweise Aufschluss darüber zu geben, wie sich der professionelle Sozialpädagoge trotz fehlender Fachkenntnisse für Familien und betroffene Kinder einsetzen kann, um daraus sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.

Die Interventionsvorschläge werden im fünften Teil dargestellt und anhand der beiden vorangegangenen Teile erläutert und begründet. Hier wird die zentrale Fragestellung dieser Diplomarbeit behandelt und schließlich auch beantwortet: Welchen Stellenwert hat die Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule? Ist es ihre Aufgabe einzugreifen? Kann sie intervenieren? Wie soll das geschehen? Welche Probleme treten auf?

Abschließend erfolgt das Fazit, das noch einmal die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassen und den Stellenwert der Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule vor dem Hintergrund des Problems der Legasthenie begründen und darstellen wird.

Teil I: Legasthenie – Lese-Rechtschreib-Schwäche

Zunächst wird die historische Entwicklungsgeschichte der Legasthenie dargestellt, aus der hervorgeht, dass die präzise Definition schon immer schwierig war und bis heute nicht eindeutig geklärt worden ist. Bei den Begriffsbestimmungen wird deutlich, dass das Phänomen Legasthenie noch immer kontrovers diskutiert und in unterschiedliche Begrifflichkeiten gefasst wird. Eine für diese Arbeit gültige Begriffsbestimmung wird vor dem Hintergrund erarbeitet, ob Legasthenie eine Krankheit, Dysfunktion oder soziale Abweichung darstellt und ob diese behandelt werden kann oder nicht. Für die präzise Beantwortung dieser Frage ist es ebenso wichtig, die Ursachen und Folgen aufzuzeigen, die jeweils sehr vielfältig und umstritten sind. Rechtliche Grundlagen und Erlassen der Kultusministerkonferenz und der einzelnen Bundesländer zeigen, dass Legasthenie mittlerweile von den Ländern anerkannt und in Schulen teilweise berücksichtigt wird, bzw. werden sollte. In welchem Umfang das möglich ist, wird am Ende näher erläutert.

1. Geschichtlicher Hintergrund

In der Literatur lassen sich Hinweise darauf finden, dass die Geschichte der Legasthenie mit Ranschburg beginnt. Tatsächlich, so behauptet Christine Mann in ihrem Buch, sollte jedoch schon im 19. Jahrhundert mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht angefangen werden. In dieser Zeit wurde erstmals entdeckt, dass es Kinder gibt, die im Gegensatz zu ihren Mitschülern Schwierigkeiten haben, die Schriftsprache zu erlernen. Viele wurden aufgrund dieser Tatsache zu einer ärztlichen Untersuchung geschickt, weil davon ausgegangen wurde, dass es sich um eine organische Krankheit handelt, die auf angeborenen hirnorganischen Schädigungen beruht. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es somit erste medizinische Berichte über Kinder mit derartigen Problemen. Im Jahr 1916 kann der Beginn der Legasthenieforschung verortet werden. Paul Ranschburg führte eine Reihe von Experimenten durch und wies nach, dass zwischen schwachbegabten und hirnorganisch geschädigten Kindern ein großer Unterschied besteht. Erst durch ihn wurden die Begriffe ‚Legasthenie’ (für das Erscheinungsbild) und ‚Legastheniker’ (für das betroffene Kind) geprägt, aber auch Ranschburg betrachtete das Phänomen als eine Art Krankheit. Ebenfalls ab dem Jahre 1916 begann eine intensive und sehr vielfältige Ursachenforschung, in der sich sehr differenzierte Erscheinungsbilder von Legasthenie herausbildeten.[1] Ranschburg z. B. veröffentlichte 1928 erstmals ein System zur Unterscheidung verschiedener Legasthenieformen und stellte Hypothesen über Wahrnehmungs- und Verarbeitungsdefizite von Legasthenikern auf. Er setzte dabei die Lesefähigkeit immer mit der vorhandenen Intelligenz gleich. Betroffene Kinder wurden auf Hilfsschulen verwiesen, obwohl sie geistig nicht zurückgeblieben waren.[2] In den folgenden Jahren gab es zahlreiche Forschungen mit immer neuen Ergebnissen: 1935 findet der Psychologe Bond heraus, dass sich die Krankheit vorzüglich bei Kindern mit auditiven oder visuellen Schwierigkeiten ausbildet, Laubenthal bezeichnet 1936 Legasthenie als ein ‚erhebliches Leiden mit partiellem Schwachsinn’, Lotte Mach formte im darauf folgenden Jahr die Thesen, dass besonders Kinder mit geringem optischen Unterscheidungsvermögen und Gedächtnisfähigkeiten betroffen sind. Legastheniker verfügen ihrer Meinung nach über mangelnde sprachliche Fähigkeiten und über Unfähigkeit, optisch erfasste Buchstaben in Laute umzuwandeln, sowie Buchstaben in die richtige Reihenfolge zu ordnen. Mach nennt es einen erblich bedingten Intelligenzdefekt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es aufgrund der Ergebnisse der Forschung zur Eröffnung von schulpsychologischen Einrichtungen und Beratungsstellen, Schülerhilfen, Therapiezentren, Legasthenikerklassen und Lesekliniken.[3] Maria Linder sah in Legasthenie 1951 eine Schwäche im Erlernen des Lesens. Diese fällt jedoch aus den übrigen Leistungen heraus, und es handelt sich nur um Legasthenie, wenn das Kind eine intakte und gute Intelligenz besitzt. Sie schloss ein pädagogisches Versagen der Schule (durch mangelnde Übung, schlechte Lehrmethoden oder eine gestörte Lehrer-Schüler-Beziehung) aus. Ebenso ausgeschlossen waren Schwachsinn, Gesichts- und Gehör-störungen, sowie Sprach- und Schulwechsel. Diese Auffassung von Maria Linder bildete in der Legasthenieforschung ein Schlüsselereignis und gilt teilweise noch bis in die heutige Zeit als allgemeingültig. In den 1960er Jahren wurden von den Bundesländern kultusministerielle Richtlinien veröffentlicht, die Bestimmungen über Förderkurse, Rücksichtnahme bei der Benotung in der Schule, Versetzungen und andere Erleichterungen für Legastheniker festlegten. Das bedeutete einen großen Aufschwung für die Legasthenie-Bewegung.[4] Bis in die 1970er Jahre dauerte die intensive Forschungsphase an. Es wurden viele Definitionsversuche unternommen, Rechtschreib- und Lesetests entwickelt, und die Ursachen werden vorrangig im Kind selber gesucht. Mitte der 1970er Jahre wurde Kritik an der aktuellen Forschung laut, dass sie verwirrend, willkürlich und oberflächlich sei und keine brauchbaren und sich widersprechenden Ergebnisse liefere. Es entstand der Vorwurf, dass Legasthenie erst durch die Forschung zu einem Problem gemacht wurde, und es kam zu einer Anti-Legasthenie-Bewegung. Die Forschung hat nicht ausreichend die Ursachen für ein „ unerwartetes Versagen im Lesen und Rechtschreiben“ (zitiert nach Simon, W. [1981]: S. 13) aufklären können.[5] Diese Phase wurde maßgeblich von Sirch und Schlee geprägt. Sirch behauptete, dass Lesen und Schreiben nichts mit biologischen Ursachen zu tun hat, dies sei nur eine Ausrede für Eltern und Lehrer, um sich nicht der Verantwortung gegenüber dem Problem stellen zu müssen. Schlee sah das Legastheniekonzept und die Forschung als überflüssig und stigmatisierend an. Aufgrund beider Meinungen wurden die Bestimmungen der Bundesländer aufgehoben, und es gab kaum noch Fördermaßnahmen für betroffene Kinder. Legasthenie wurde nicht mehr als Problem anerkannt. Daraus folgend wurde die Ursache von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten nicht mehr im Kind gesucht, sondern es entstanden Theorien über inadäquate Unterrichtsmethoden.[6] Eine Reaktion auf diese Entwicklung erfolgte im Jahre 1978 durch die Kultusministerkonferenz (KMK). Der Begriff Legasthenie an sich wurde abgelehnt. Es wurden präventive Maßnahmen gefordert (sorgfältiger Erstunterricht, frühzeitige Förderung usw.). Legasthenie war damit offiziell keine Krankheit mehr, die in die Zuständigkeit von Ärzten fällt. 1980 lässt Frith eine neue Annahme zur Erklärung der Legasthenie verlauten. Er ist der Meinung, dass es verschiedene Stadien im Schriftspracherwerb gibt. In jedem Stadium werden unterschiedliche Strategien angewandt, um das Lesen und Schreiben zu praktizieren. Legastheniker sind seiner Ansicht nach in einem früheren Stadium stecken geblieben. Ungünstige oder falsche Strategien sind demnach für Fehler in der Schriftsprache verantwortlich. Die Legasthenie-Bewegung erfährt einen neuerlichen Aufschwung. Sieben Jahre später (1987) entwickelten Betz und Breuninger ein Modell (Teufelskreis-Modell), das bis in die heutige Zeit nicht an Gültigkeit verloren hat. Sie beschreiben darin die psychischen Veränderungen, denen ein Legastheniker unterworfen ist, wenn er permanentes Versagen erlebt. Das Modell wird unter Punkt 4.2 dieser Arbeit näher vorgestellt und an dieser Stelle nicht weiter erläutert.[7] 1991 kam es zu einer Wende für das Phänomen der Legasthenie, denn sie wurde in das Internationale Klassifikationssystem (ICD-10) der WHO (Weltgesundheits-organisation) aufgenommen. Sie ist dort als ‚umschriebene Entwicklungs-störung schulischer Fertigkeiten’ zu finden. Legasthenie wird beschrieben als eine psychische Störung mit Krankheitswert, die eine indirekte Folge anderer Krankheiten wie z. B. Intelligenzminderung, Seh- und Hörstörungen, emotionalen Störungen usw. sein kann. Es handelt sich nach dem ICD-10 um eine im Kinde liegende Störung, wobei biologische Ursachen mit nichtbiologischen zusammenwirken. Das heißt, dass biologische Ursachen vorhanden sind, die aber erst durch die Art des schulischen Unterrichts zu einem umfassenden Störungsbild werden können. Anzeichen hierfür sind schlechte Schulleistungen in Lesen und Schreiben, Störungsvorläufer (negative Sprachentwicklung), begleitende Probleme (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität) und erschwerte Beeinflussbarkeit. Die Kultusminister-konferenz beriet sich im Jahre 1998 nochmals zu der Thematik und stellte fest, dass die bestehenden Richtlinien weiterhin von Bedeutung für die einzelnen Länder seien. Sie wurden jedoch nicht in Gesetzesform verfasst. Heute ist Legasthenie noch nicht überall anerkannt und birgt das Vorurteil, dass dieses Phänomen eine willkommene Ausrede für Eltern ist, um die Lernschwierigkeiten ihres Kindes zu rechtfertigen. Dementsprechend gibt es zu wenig Aus- und Fortbildungen für Lehrer zu diesem Thema, und es herrschen ungünstige schulische Rahmenbedingungen (große Klassen, Zeitmangel, Notensysteme). Obwohl die Forschung über viele Jahre kontroverse Ergebnisse hervorbrachte, wurden bis heute große Fortschritte in der Medizin, der Psychologie, der Pädiatrie, der Neurolinguistik und anderen Disziplinen zu diesem Thema gemacht. Legasthenie wird zunehmend als Problem erkannt, und es gibt mittlerweile viele Einrichtungen, die sich um eine Diagnose und um geeignete Therapiemaßnahmen bemühen.[8]

So kontrovers die Entwicklung der Legasthenie-Debatte verlaufen ist, so unterschiedlich sind teilweise noch heute die Definitionen, die sich zu diesem Begriff finden lassen.

2. Begriffsbestimmungen

Das Problem der Legasthenie taucht erst bewusst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht auf. Seitdem ist es eine normative Vorgabe der Gesellschaft, das Lesen und Schreiben zu beherrschen. In Deutschland leiden ca. drei bis fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen an Legasthenie. Insgesamt sind etwa drei Millionen Deutsche betroffen, weltweit können etwa zehn Prozent aller Menschen diesen normativen Anforderungen ohne Hilfe nicht nachkommen. Was aber ist genau Legasthenie, die so viele Menschen betrifft?

2.1 Lernstörung

In der Schriftenreihe des Evangelischen Erziehungsverbands wird Legasthenie als eine Lernstörung definiert, die sich auf schulische Leistungen und auf die Persönlichkeit des Kindes auswirkt. Ebenso hat sie Einfluss auf das soziale Umfeld und die individuelle Lebensgestaltung. Eine Lernstörung liegt demnach vor, wenn ein Lernprozess gestört ist. Ein solcher Prozess besteht aus Wirkungsgrößen wie zum Beispiel Motivationen, Kognitionen, Emotionen und sozialen Verflechtungen. Diese beeinflussen sich gegenseitig und entscheiden darüber, ob Lernen stattfindet oder nicht. Sie bilden die individuelle Lernstruktur eines jeden Menschen. Zu unterscheiden sind nach dieser Definition zwei Formen von Legasthenie: Die defizitäre Lernstörung betrifft verschiedene Grundfunktionen zum Erlernen des Lesen und Schreibens (Variablen aus der Lernstruktur). Diese sind gestört. Der Ausfall dieser Funktionen kann durch den Ausbau anderer Fähigkeiten kompensiert und durch eine Therapie behoben werden. Die strukturelle Lernstörung betrifft Variablen außerhalb der Lernstruktur (Erleben und Verhalten des Kindes). Die Erwartungen werden maßgeblich davon geprägt und haben Einfluss auf das Gelingen und Misslingen des Lernens. ‚Leg-asthenie’ bedeutet wörtlich übersetzt ‚Lese-Schwäche’. Sie drückt sich darin aus, dass das Kind Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben hat. Symptome einer Lesestörung können folgende sein: Langsames Lesen, Auslassen, Ersetzen, Verdrehen oder Hinzufügen von Wörtern oder Wortteilen, Verlieren der Zeile im Text und sonstige Probleme beim Vorlesen, sowie die Unfähigkeit, das Gelesene wiederzugeben oder Schlüsse daraus zu ziehen. Eine Rechtschreibstörung äußert sich folgendermaßen: Verdrehen und Vertauschen von Buchstaben, Auslassen oder Einfügen falscher Buchstaben, Dehnungsfehler, Probleme bei der Groß- und Kleinschreibung, Verwechslungen und Fehlerinkonstanz (ein Wort wird auf immer unterschiedliche Weise falsch geschrieben).[9]

2.2 Spezifische Schwäche bei durchschnittlicher Intelligenz

Küspert beschreibt in seinem Buch die Legasthenie als eine ganz spezifische Schwäche beim Erlernen des Lesens und Rechtschreibens, wobei er von einer mindestens durchschnittlichen Intelligenz ausgeht. Für diese Schwäche gibt es keine erkennbaren Gründe, er schließt damit beispielsweise Seh- und Hörfehler aus. Außerdem macht er eine Unterscheidung zwischen echter Legasthenie (dauerhafte Schwäche, die schwer zu erklären ist), Lese-Rechtschreib-Schwäche (vorübergehend und häufig durch schwierige Lebensumstände ausgelöst, zum Beispiel Trennung der Eltern) und Lese-Rechtschreib-Problemen (aufgrund allgemeiner Minderbegabung mit Problemen in allen Bereichen des schulischen Lernens). Küspert ist der Auffassung, dass etwa vier Prozent der Schulkinder von einer echten Legasthenie betroffen sind. Er bezieht sich dabei auf Zahlen aus dem Jahre 2001. Grundsätzlich sind mehr Jungen als Mädchen betroffen, und es ist kein stabiles Fehlerprofil zu erkennen. Wie auch schon der Evangelische Erziehungsverband darstellt, beschreibt Küspert, dass nicht immer die gleichen Fehler gemacht werden, und dass es keine einheitlichen Ursachen für diese Schwäche gibt.[10]

Auch Steltzer definiert in Abhängigkeit von einer durchschnittlichen Allgemeinbegabung. Er sagt zudem, dass Legasthenie erst in der Schule zum Problem wird, da dort die Schwierigkeiten auftauchen. Sie hat eine stigmatisierende Wirkung und wenn sie nicht erkannt oder beachtet wird, kommt es zu Verhaltensstörungen und zur Aneignung falscher Lese- und Rechtschreibtechniken. Er nennt dies psychoreaktive Störungen. Legasthenie ist nach Steltzer ein individuelles Phänomen, das man nicht formalisieren kann. Es äußert sich in Symptomen wie stockender Sprache, Wortschatzarmut, geringer Merkfähigkeit, verkrampfter und ungeschickter Motorik und Verhaltensauffälligkeiten (Schulangst, Aggressivität, Hyperaktivität, Konzentrationsschwäche usw.). Häufig entwickeln betroffene Kinder beachtliche Stärken im Denken und Problemlösen, um so ihre Schwäche zu kompensieren und davon abzulenken.[11]

2.3 Teilleistungsschwäche

Der Evangelische Erziehungsverband weist zusätzlich zu seiner umschriebenen Definition auf Theorien hin, die Legasthenie als eine kognitive Beeinträchtigung oder Entwicklungsstörung von einzelnen Funktionsbereichen behandeln (Teilleistungsschwäche). Diese sind kaum wahrnehmbar und durch andere Leistungen zu kompensieren. Demnach handelt es sich nicht um ein schwerwiegendes Problem. Es wird gleichzeitig darauf hingewiesen, dass diese Erklärung zu abstrakt und wissenschaftlich ist.[12]

Dennoch teilen auch Juna und Sretenovic diese Auffassung und gehen von einer Funktionsstörung aus, die wichtige Funktionen für das Erlernen von Lesen und Schreiben (zum Beispiel Raumorientierung usw.) blockiert. Diese Schwierigkeiten dauern über einen längeren Zeitraum an.[13]

2.4 Krankheit

Während bisher keine der Definitionen davon spricht, stellt sich hier die Frage: Ist Legasthenie eine Krankheit oder nicht? In der verwendeten Literatur gibt es keine Hinweise darauf, dass Legasthenie in der heutigen Zeit noch als Krankheit angesehen wird. Ein Artikel im Internet (www.lernfoerderung.de) weist darauf hin, dass es beim Umgang mit den Krankenkassen hilfreich wäre, Legasthenie als Krankheit anzuerkennen. Die Kosten für eine Behandlung und mögliche Beratungsgespräche werden nur dann von den Jugendämtern übernommen, wenn dem betroffenen Kind eine seelische Behinderung droht. Diese kann als Folge einer unbehandelten Legasthenie mittlerweile nachgewiesen werden. Tatsache ist, dass Krankenkassen Legasthenie nicht als Krankheit anerkennen und somit auch keine Fördermittel finanzieren. Bei Bedarf haben sich die Betroffenen an das Jugendamt zu wenden und ‚Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche’ nach § 35a (SGB VIII) zu beantragen.[14]

Ein weiteres Indiz ist die Aufnahme des Phänomens im ICD-10. Hier wird Legasthenie auf internationalem Niveau als Krankheit klassifiziert. Sie ist unter dem Kapitel F80 – F89 (Entwicklungsstörungen) enthalten und genau definiert im Kapitel F81 (Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten). Die Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) meint eine Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten. Diese sind nicht durch das Alter oder durch unangemessene Beschulung usw. erklärbar. Eine Entwicklungsstörung des Lesens geht Störungen des Sprechens und der Sprache voraus. Begleitende Störungen aus dem emotionalen oder Verhaltensbereich treten häufig zusätzlich auf. Die isolierte Rechtschreibstörung (F81.1) meint eine Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten. Es muss keine Lesestörung vorausgegangen sein. Auch hier reicht eine Erklärung von unangemessener Beschulung o. ä. nicht aus. Diese Kategorie umfasst die Fähigkeiten, mündlich zu buchstabieren und Wörter korrekt zu schreiben.[15]

2.5 Schwäche, die aus dem Rahmen fällt

Maria Linder definierte Legasthenie schon im Jahre 1951, ihre Beschreibung ist jedoch noch heute sehr aktuell und anerkannt. Demnach ist Legasthenie eine „spezielle und aus dem Rahmen der übrigen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens und indirekt auch des selbständigen orthographischen Schreibens bei sonst intakter oder im Verhältnis zur Lesefähigkeit relativ guter Intelligenz“ (zitiert nach Linder, M. In: Bundesverband Legasthenie e.V. (1985): S. 22). Linder schließt mit dieser Definition folgende Ursachen aus: mangelnde Intelligenz, Gesichts- und Gehörstörungen, zu wenig Übung, Sprach- und Schulwechsel, ungewöhnliche Schulumstände, schlechte Schulmethoden und gestörte Lehrer-Schüler-Beziehungen. Maria Linder betreute etwa 50 legasthenische Kinder, die ihr von Psychologen zugewiesen wurden. Ihre Definition umfasst die Auffälligkeiten, die sie täglich an den Kindern beobachtete.[16]

2.6 Störung im Aneignungsprozess des Lesens und Schreibens

Diese Umschreibung stammt vom Osnabrücker Zentrum für Legasthenie und ist ein gutes Beispiel dafür, wie Legasthenie in der heutigen Praxis aufgefasst und behandelt wird. Es wird unterschieden zwischen einer Lese-und Rechtschreibstörung (Legasthenie) und zwischen der isolierten Rechtschreibstörung (Lese- und Rechtschreibstörung ohne Schwierigkeiten im Leseerwerb). Legasthenie fällt häufig erst in der dritten oder vierten Schulklasse auf. Der Verlauf dieser Störung ist stetig und meist eine Folge von Problemen beim Sprechen oder Spracherwerb. Legasthenie kann nicht geheilt werden. Mit Hilfe von speziellen Therapien kann die Störung jedoch positiv beeinflusst und Lernprobleme erheblich reduziert werden. Bleibt sie unbehandelt, kann das gravierende Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes haben. Durch ständiges Versagen wird das Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt, es kommt zu schulischen und außerschulischen Problemen und daraus resultierend zu Anpassungs-schwierigkeiten im sozialen Umfeld. Emotionale Störungen, die zu einem auffälligen Sozialverhalten führen, sind wahrscheinlich. Häufig gibt es Begleiterscheinungen wie z. B. Aufmerksamkeitsstörungen oder Hyper-aktivität. Des Weiteren benennt das Zentrum Symptome, an denen eine Legasthenie erkannt werden kann.[17] Diese sind in folgender Tabelle dargestellt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 (in Eigenarbeit) : Symptomatik der Legasthenie. Die Inhalte sind aus den

Internet-seiten des Zentrums für Legasthenie in Osnabrück

(www.Legasthenie-os.de) entnommen.

3. Ursachen

Als Ursachen werden hier die drei umfangreichsten Beschreibungen aufgegriffen, die sich in der Literatur wiederholt finden lassen. Zum einen wird davon ausgegangen, dass es einen bestimmten Prozess des Schriftspracherwerbs gibt, der fehlerhaft oder verzögert sein kann. Des Weiteren gibt es Faktoren, die in der Umwelt oder im Kind selber zu finden sind, und zum anderen können wichtige Teilfunktionen gestört sein, die zum Erlernen der Schriftsprache notwendige Voraussetzung sind. Diese drei Ursachenerklärungen werden im Folgenden dargestellt.

3.1 Der Weg des Schriftspracherwerbs

Für das Erlernen der Schriftsprache ist es wichtig zu wissen, wie der Buchstabenfolge ein Sinn entnommen wird (idealtypischer Weg des Kindes zum Schriftspracherwerb). Dieser Prozess wird von jedem Kind unterschiedlich angegangen, er dient aber zum allgemeinen Verständnis der Probleme eines Legasthenikers.

Die erste Phase bildet die präliteral-symbolische Phase. Ein zentrales Element ist die Bildanschauung, wofür eine hohe Abstraktionsfähigkeit benötigt wird. Ein dreidimensionaler Gegenstand muss auf einer zweidimensionalen Bildfläche gesehen und erkannt werden. Der Gegenstand bleibt vorerst symbolisch (präliteral) und bildet ein Bindeglied zur literarischen Tätigkeit. In dieser Phase ist das Erkennen von Gegenständen auf Abbildungen, das Malen, Nachbauen usw. förderlich für das spätere Schreiben.

Die zweite Phase nennt sich logographemische Phase. Hier geht es um die Unterscheidung von graphischem Material. Das Kind verbindet Buchstaben und Sprache und bildet eine Strategie aus, die es als Leseanfänger verwendet. Es merkt sich Teile von Wörtern (z. B. die Wortlänge oder besonders auffällige Buchstaben) und kann sie stückweise wieder erkennen oder erraten. In dieser Phase entsteht zudem die Wortbewusstheit. Klipcera und Gasteiger-Klipcera haben diesen Begriff geprägt. Das heißt, dass Wörter als Elemente der Sprache anerkannt und als Gegenstände betrachtet werden, die bestimmte Merkmale aufweisen. Es erfolgen erste schriftliche Versuche (Schreiben des eigenen Namens), wobei noch Buchstaben vertauscht oder weggelassen werden. Eine Orientierung am Sprechen findet nicht statt.

Die dritte Phase bildet die alphabetische Phase. Das Kind vollzieht eine lautsprachliche Analyse und untersucht die Aneinanderreihung von Teilen in Wörtern und die Verschriftung der Lautfolge. Neue und unbekannte Wörter können jetzt entziffert werden, eine Zuordnung von Zeichen zu Lauten (Zeichen für ‚a’ entspricht dem Laut ‚a’) ist möglich. Das Kind liest Buchstabe für Buchstabe, macht aber noch viele Schreibfehler (zum Beispiel ‚Toa’ statt ‚Tor’).

Es folgt die vierte Phase, die orthographische Phase. Jetzt kommt es zur Loslösung von der Lautsprache. Das Kind hat eine innerliche Repräsentation der Buchstabenfolge angelegt und kann komplexe Wortmerkmale erkennen (Silbenübergänge usw.). Es geht von der Verschriftlichung zum Schreiben über, kann Regeln (Groß- und Kleinschreibung usw.) anwenden und hat eine Menge von sicheren Wörtern im Grundwortschatz. Zu diesem Zeitpunkt ist das Kind etwa acht oder neun Jahre alt (Besuch der dritten oder vierten Klasse).

Die fünfte und letzte Phase nennt sich integrativ-automatisierte Phase. Das Kind entwirft keine neuen Vorgehensweisen, sondern verfestigt seine orthographische Strategie und automatisiert seine Schrift.

Mit Durchlaufen dieser fünf Phasen sollte der Schriftspracherwerb abgeschlossen sein. Der Übergang von der einen zur anderen Phase ist nicht eindeutig zu benennen. Meistens ist er fließend. Probleme entstehen, wenn Kinder die Schriftsprache nicht schnell genug erlernen und unter den Druck geraten, dass sie vorankommen müssen. Häufig entwickeln sie dann eine Strategie, die auf Dauer nicht funktioniert (es wird beispielsweise kein Verständnis für die Lesesynthese entwickelt). Das hat zur Folge, dass Kinder auswendig lernen und die Buchstaben weder Sinn noch Funktion für sie ergeben. Für das Kind ist dieser Prozess sehr anstrengend. Probleme in den einzelnen Phasen rufen unterschiedliche Schriftsprachprobleme hervor. Um von ihren Schwierigkeiten abzulenken, entwickeln die Kinder Ersatz-strategien, die ihnen über eine gewisse Zeit weiterhelfen. Irgendwann führen diese jedoch auf den falschen Weg, und es kommt zu Fehlerhäufungen in der Schriftsprache, die das Kind nicht aus eigener Kraft überwinden kann.[18]

3.2 Interaktionelle Faktoren

Diese Faktoren finden sich in sämtlichen sozialen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Prozessen wieder. Verschiedene Faktoren wirken bei der Entstehung einer Legasthenie komplex zusammen.

Soziale Faktoren beeinflussen maßgeblich die kognitiven und motivationalen Lernvoraussetzungen. Die Schichtzugehörigkeit, die Verfügbarkeit materieller Ressourcen und die Schulbildung der Eltern bilden die Rahmenbedingungen für das Kind. Etwa zwei Drittel der Legastheniker mit durchschnittlicher Intelligenz stammen aus sozial benachteiligten Familien (niedriger Sozialstatus, beschränkte Wohnverhältnisse, wenig Bücher und geringes Interesse der Eltern an der Schullaufbahn ihrer Kinder). Fehlt es an Fördermöglichkeiten in der Familie, kann eine Legasthenie entstehen. Jedes fünfte Kind ist ausländischer Herkunft und nicht ausreichend oder gar nicht mit der deutschen Sprache vertraut. Weiterhin wichtig sind stabile Eltern-Kind-Beziehungen, emotionale Unterstützung und die Geschwister-beziehungen. Ein Kontakt zwischen den Eltern des Kindes und der Schule ist stets vorteilhaft. Diese sozialen Faktoren lösen nicht zwangsläufig eine Legasthenie aus, können sie jedoch begünstigen.

Unter psychischen / emotionalen Faktoren wird die psychische und emotio-nale Konstitution des Kindes zusammengefasst. Das Kind kann von Anfang an unter Anpassungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten leiden, es hat möglicherweise motorische Unruhe und Probleme bei der Konzentration. Diese Faktoren können gleichermaßen Folgen einer Legasthenie sein, bilden aber auch mögliche Ursachen für eine solche.

Weiterhin werden allgemeine schulische Faktoren bezeichnet. Der Unterricht wird heute nicht jedem Kind gerecht (zu große Klassen). Die Ausbildung von Lehrern ist zu wenig pädagogisch–psychologisch ausgerichtet, und es gibt wenig Zeitressourcen und ein straffes Unterrichtskontingent, das es einzuhalten gilt. Von allen Kindern – gleichwohl ihrer Individualität – wird der gleiche Lernfortschritt erwartet. Auch die Lehrer-Schüler-Interaktion hat großen Einfluss auf die Motivation und das Selbstvertrauen des Schülers.

Biologische / organische Faktoren können eine anlagebedingte Leistungs-schwäche mit sich bringen. Damit ist zum Beispiel die Vererbung von Anlagen gemeint, die ein erhöhtes Legasthenie-Risiko mit sich bringen. Solche Faktoren können unter anderem hirnorganische Schädigungen oder genetische Einflüsse (defekte Chromosomen, die die Gene für das Erlernen des Lesens und Schreibens enthalten) sein. Weiter kann die visuelle, sprachliche und akustische Informationsverarbeitung im Zentralen Nervensystem angegriffen oder beschädigt sein.

Auch Lebenswelt und Fernsehen stellen in der heutigen Zeit Faktoren dar, die eine Legasthenie begünstigen können. Durch die Pluralisierung der Lebenswelten, die zunehmende Individualisierung und Vergesellschaftung gibt es immer weniger Spielmöglichkeiten. Traditionen gehen verloren, Freizeit wird häufig mit Aktivitäten verplant oder ist langweilig und wird vor dem Fernseher oder Computer verbracht. Übermäßiger Fernsehkonsum beeinträchtigt die Motorik, die Seh- und Hörfähigkeit, das emotionale und soziale Verhalten und die Wahrnehmungsentwicklung.

Alle umschriebenen Faktoren sind nicht isoliert zu betrachten, sondern spielen eine gemeinsame Rolle. Legasthenie ist also eine strukturelle Lernstörung, die von verschiedenen Wirkungsgrößen verursacht wird.[19]

3.3 Gestörte Teilfunktionen

Legasthenie ist eine mögliche Folge von einzelnen oder mehreren Funktionsstörungen, die für den Erwerb von Lese-Rechtschreib-Fertigkeiten grundlegend sind.

Die auditive Wahrnehmung kann gestört sein, was problematisch ist, da unsere Schrift eine Lautschrift darstellt. Auditiv wahrgenommene Informationen werden in entsprechende Graphemzeichen (kleinste bedeutungsunterscheidende graphische Symbole) umgesetzt. Graphem-abfolgen werden so zu Lautstrukturen mit sich überlappenden akustischen Qualitäten und lautlichen Ähnlichkeiten. Sprechlaute beeinflussen sich gegenseitig, ebenso wirken vorhergehende und nachfolgende Laute klangverändernd (zum Beispiel das ‚ch’ in ‚ich’ und ‚ach’). Des Weiteren variieren Sprechlaute durch den Ausdruck und die Emotionen des Sprechers. Diese vielen und feinen Unterschiede gilt es auditiv zu erkennen und zu unterscheiden, damit Lautmerkmale entsprechenden Schriftzeichen zugeordnet werden können. Mit einer auditiven Wahrnehmungsstörung ist das nicht immer möglich.

Die visuelle Wahrnehmung sorgt für das Erkennen der Gestalt von unterschiedlichen und abstrakten Graphemzeichen. Außerdem werden Größenverhältnisse unterschieden. Ein wichtiger Faktor ist hierbei die Merkfähigkeit zur Speicherung solcher Unterschiede.

Eine weitere wichtige Größe ist die Feinmotorik, um das Schreiben von Buchstaben zu koordinieren und präzise auszuführen. Auch die Schreibbewegung an sich ist ein feinmotorisch sehr anspruchsvoller Vorgang. Sie erfordert mal mehr und mal weniger den aktiven Einsatz von Fingern oder Handgelenk und teilweise eine doppelte Ausführung von Linien. Eine gestörte Feinmotorik stellt ein Hindernis dar und ist im Schriftbild in jedem Fall wieder zu erkennen.

Nicht zuletzt erfordert das Schreiben von Buchstaben eine visuomotorische Kontrolle der Schreibbewegungen und Bewegungsdurchführung. Das heißt, dass die wahrgenommenen Buchstaben gleichermaßen in die Schreibbewegung umgesetzt werden müssen.

Alle der umschriebenen Teilfunktionen wirken zusammen und dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Ist nur eine dieser Teilfunktionen gestört, so wirkt sich das auf den altersentsprechenden Erwerb der Schriftsprache als Ganzes aus.[20]

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Ursachen sehr vielfältig und verschieden und sowohl im Kind selber als auch in seiner Umwelt zu suchen sind. Mit den Folgen verhält es sich ähnlich. Neben gravierenden Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes wird auch die soziale Umwelt stark beeinflusst. Folgender Punkt wird dieses verdeutlichen.

4. Folgen

Wenn es um die Auswirkungen von Legasthenie geht, gibt es eine Menge psychologischer Erklärungen, die hier zunächst dargestellt werden. Einen entscheidenden Beitrag haben jedoch Betz und Breuninger mit ihrem Teufelskreis-Modell geliefert, auf das hier detaillierter eingegangen wird.

4.1 Psychologische Erklärungsmuster

Zunächst werden innere Prozesse beschrieben, die bei einem legasthenischen Kind in Gang gesetzt werden, wenn die Legasthenie nicht behandelt wird. Durch die permanente Erfahrung des Versagens sinkt die Leistungsmotivation. Das Kind sucht die Ursachen für seinen Misserfolg ausschließlich in sich selbst, woraufhin das Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird. Es kommt zur Ausbildung von negativen Attributionsstilen, das heißt, das Kind wird ein Leben lang die Gründe für sein Versagen in sich suchen. Negative Attributionsstile haben Einfluss auf die Ausbildung von Optimismus und Pessimismus, was wiederum die Motivation, die Stimmung und das Verhalten prägt. Weil Pessimisten glauben, dass ihnen nichts gelingt, erbringen sie schlechtere Leistungen, als normalerweise von ihnen zu erwarten wäre. Ein weiteres Phänomen ist die soziale Rolle, in die das Kind innerhalb seiner Klasse eingebunden ist. Von ihm wird ein bestimmtes Verhalten erwartet. Rollen erzeugen zudem einen bestimmten Status. Ein Legastheniker gerät schnell in die Rolle des Versagers (aus Sicht der Mitschüler) oder des „Nichtstuers“ (aus Sicht des Lehrers). Durch die vielen Fehler beim Lesen und Schreiben weicht das betroffene Kind ständig von den sozialen Normen des Klassenverbandes ab und kann dessen Erwartungen, wie alle anderen das Lesen und Schreiben zu beherrschen, nicht erfüllen. Es kommt zu Sanktionen von beiden Seiten. Die Mitschüler reagieren mit Spott und Zurückweisung, während der Lehrer Strafarbeiten und schlechte Noten vergibt. Ist der Legastheniker erstmal in diese Rolle geraten, wird von ihm nichts anderes mehr erwartet als schlechte Leistungen.[21]

Auch das Zentrum für Legasthenie stützt sich auf psychologische Erklärungsmuster. Misserfolg formt die Persönlichkeit. Dauerhafter Misserfolg beim Erlernen des Lesens und Schreibens löst unangenehme Gefühle aus (vorerst in Lernsituationen, später werden diese mit der Person des Lehrers, dem Klassenzimmer usw. verbunden). Es entstehen Ängste und Minderwertigkeitsgefühle und das Kind beginnt, die unangenehme Situation zu vermeiden. Entsprechende Vermeidungsstrategien sind z. B. Angst und depressive Verstimmungen, psychosomatische Symptome, Aufmerksamkeitsdefizite, Kompensationsverhalten zur Abwehr der Selbstwahrnehmung als Versager und oppositionelles Trotzverhalten. Häufig wird dieses Verhalten von der Umwelt als Unkonzentriertheit und Unlust aufgefasst und hat bald negative Konsequenzen für das Kind (Lehrerkommentare, Elternreaktionen auf schlechte Noten, Gelächter der Mitschüler). Jetzt sind allgemeine Komponenten des Lernens gefährdet (Ausdauer, Problemlöseverhalten, Reflexivität). Das Kind übernimmt die negativen Bewertungen der sozialen Umwelt in sein Selbstkonzept und entwickelt eine negative Selbstbewertung. Diese weitet sich bald über den Bereich der Schule hinweg aus und wird zur allgemeinen Gewohnheit und fester Bestandteil des sich entwickelnden Selbstbildes. Positive Leistungen werden kognitiv als weiterer Misserfolg aufgefasst und verarbeitet. Das Kind wird misserfolgsorientiert, das heißt es rechnet nicht mehr damit, Erfolg zu haben. Es versucht nicht mehr, die gestellten Aufgaben zu lösen und bleibt möglicherweise ganz von der Schule fern. Das führt zu einer Vergrößerung der Lerndefizite und zu einer weiteren Verfestigung des negativen Selbstbildes. Letztendlich entsteht eine emotionale Lern- / Leistungsstörung, die eine Grundlage für psychische Fehlentwicklungen darstellt. Die betroffenen Kinder stehen unter großem Leidensdruck.[22]

Die Familien der Kinder sind ebenso betroffen. Es kommt zu Frustration und Ratlosigkeit, zu Ängsten und Streitereien. Aufgrund häufig sehr später Erkenntnis der Problematik können Eltern nicht verstehen, warum ihr Kind solche Schwierigkeiten hat, das Lesen und Schreiben zu lernen. Möglicherweisen treten auch Schamgefühle gegenüber den Lehrern auf, weil der Verdacht befürchtet wird, dass zuhause zu wenig geübt werde. So beeinflusst Legasthenie maßgeblich auch den Familienalltag, während andere Aktivitäten in den Hintergrund treten.[23]

4.2 Das Teufelskreis-Modell von Betz und Breuninger

Betz und Breuninger entwickelten dieses Modell im Jahre 1987. Es beschreibt die psychischen Veränderungen, die durch das Erlebnis des Versagens entstehen. Das Modell enthält vier Blö>Das erste Stadium beginnt damit, dass das Kind im Unterricht beim Lesen und Schreiben mehr Fehler macht als die anderen Kinder. Auch kann es dem Unterricht nicht so schnell folgen und bleibt immer weiter zurück. Das Kind merkt die Differenz zwischen seinen und den Leistungen der anderen Schüler und kommt zu dem Schluss, dass es einen Defekt hat, der nicht zu ändern ist. Es fühlt sich der Klassengemeinschaft nicht mehr zugehörig. Lehrer und Schüler verstehen dieses Verhalten nicht und können die Schwierigkeiten des betroffenen Schülers nicht nachvollziehen. Es kommt zu Attribuierungen (Stigmatisierungen). Dem Kind wird vorgeworfen, nicht genug zu lernen und sich nicht anzustrengen. Um es mehr anzuspornen, kann es zu Verhaltensweisen von Seiten des Lehrers kommen, die Scham bei dem betroffenen Kind auslösen. Es wird zur Schau gestellt, bestraft und getadelt. Dieses Verhalten übernehmen später auch seine Mitschüler, von denen es möglicherweise ausgelacht wird. Es kommt also zu Repressionen, die sich auf das Erleben und Empfinden des Kindes auswirken. Die Eltern werden unzufrieden mit seinen Leistungen. Die Wirkung dieser Attribuierungen und Repressionen aus der sozialen Umwelt zielt auf das Selbstwertgefühl des Schülers ab. Es wird immer weiter negativ beeinflusst und zunehmend geringer.

Im zweiten Stadium (sozialer Teufelskreis) beginnt das Kind, auf seine Situation zu reagieren, was wiederum soziale Folgen hat. Da der Schüler keine Erklärung für sein Versagen hat, bekommt er Angst und versucht mögliche Erklärungen zu erfinden und vor anderen zu benutzen (‚Ich will nicht lesen’ oder ‚Schreiben interessiert mich nicht’). Jetzt kommt das Kind jedoch in den Zwang, dass es sich entsprechend seinen zurechtgelegten Erklärungsmustern verhalten muss (sich selbst erfüllende Prophezeiung). Es geht also unbewusst dazu über, das Lesen und Schreiben zu verweigern. Die Umwelt wertet das Verhalten des Schülers als Aufstand, und er bekommt keine Anerkennung. Aus diesem Grunde sucht sich das Kind Ersatzhandlungen (Kompensationsverhalten), die meistens auf das Stören des Unterrichts, totalen Rückzug oder die Wut des Lehrers hinauslaufen. Das Kind bekommt für dieses Verhalten Sanktionen, nicht aber die gewünschte Anerkennung. Folglich muss sich der Schüler noch mehr gegen die Verhaltensnormen auflehnen. Solche Kompensationen können auch im häuslichen Umfeld auftreten, so dass es zu einer angespannten familiären Situation kommen kann. Ersatzhandlungen werden von der Umwelt als Verhaltensstörungen aufgefasst.

[...]


[1] Vgl.: Mann, C. (2001): S. 183

[2] Vgl.: EREV (1/2006): S. 19 und

Vgl.: Schenk-Danzinger, L. In: Bundesverband Legasthenie e.V. (1985): S. 21

[3] Vgl.: ebd.: S. 21 f.

[4] Vgl.: EREV (1/2006): S. 19

[5] Vgl. Mann, C. (2001): S. 183 ff. und Vgl.: Marx, H. (1985): S. 6 ff. und

Vgl.: Simon, W. (1981): S. 11 ff.

[6] Vgl.: Schenk-Danzinger, L. In: Bundesverband Legasthenie e.V. (1985): S. 26 f.

[7] Vgl.: Mann, C. (2001): S. 186 ff.

[8] Vgl.: EREV (1/2006): S. 20 ff.

[9] Vgl.: ebd.: S. 14 f.

[10] Vgl.: Küspert, P. (2001): S. 50 ff.

[11] Vgl.: Steltzer, S. (1998): S. 43 ff.

[12] Vgl.: EREV (1/2006): S. 18

[13] Vgl.: Juna, J. / Sretenovic, K. (1993): S. 51 ff.

[14] Vgl.: Internet (31.05.2006). In: www.lernfoerderung.de und

Vgl.: Beck-Texte (2002): S. 26 f.

[15] Vgl.: Internet (12.06.2006). In: www.dimdi.de und

Vgl.: Internet (12.06.2006). In: www.btonline.de

[16] Vgl.: Bundesverband Legasthenie e.V. (1985): S. 22

[17] Vgl.: Wojtun, Dr. H. / Krause, S. (2004): S. 5 f.

[18] Vgl.: EREV (1/2006): S. 23 ff. und Vgl.: Mann, C. (2001): S. 15 ff. und

Vgl.: Köhler, Dr. I. / Aurich, E. (2006): S. 12 f.

[19] Vgl.: EREV (1/2006): S. 29 ff.

[20] Vgl.: Wojtun, Dr. H. / Krause, S. (2004): S. 7 ff.

[21] Vgl.: Zimbardo, P. G. / Gerrig, R. J. (1999): S. 345 ff.

[22] Vgl.: Wojtun, D. H. / Krause, S. (2004): S. 13 f.

[23] Vgl.: Vellguth, S. (2000): S. 2 f.

Ende der Leseprobe aus 103 Seiten

Details

Titel
Legasthenie. Der Stellenwert der Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule
Hochschule
Universität Vechta; früher Hochschule Vechta  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
103
Katalognummer
V60869
ISBN (eBook)
9783638544412
ISBN (Buch)
9783638681957
Dateigröße
872 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Legasthenie, Stellenwert, Sozialpädagogik, Konflikt, Familie, Schule
Arbeit zitieren
Christin Remmers (Autor:in), 2006, Legasthenie. Der Stellenwert der Sozialpädagogik im Konflikt zwischen Familie und Schule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60869

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