Das Schengener Abkommen. Ein Überblick


Seminararbeit, 2006

34 Seiten, Note: 12 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Quellenverzeichnis

Der Schengen-Besitzstand

§1 Definition und Überblick
I Schengen-Chronologie
II Mitgliedsstaaten
1. Beitrittsprozess
2. Sonderstatus einzelner Mitgliedsländer

§2 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)
I Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und freier Personenverkehr
II Verstärkte Kontrollen an den Außengrenzen
III Vereinheitlichung der Asylverfahren und gemeinsame Visa- und Aufenthaltspolitik
1. Asylverfahren
2. Visa-, Einwanderungs- und Aufenthaltspolitik
IV Ausgleich zu dem Wegfall der Binnengrenzkontrollen
1. Schengener Informationssystem SIS
2. Schleierfahndung
3. Polizeiliche Nacheile
4. Weitere Maßnahmen zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit
V Fortentwicklung und Überwachung der Durchführung des SDÜ

§3 Amsterdamer Vertrag
I Grundsätzliches
II Schengener Protokoll zum Amsterdamer Vertrag

§4 Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes in der EU

§5 Die Schweiz und Schengen
I Beitrittsprozess
II Besonderheiten
III Kritik an der Beteiligung der Schweiz
1. Sicherheit verlieren?
2. Arbeit verlieren?
3. Souveränität verlieren?
IV Vor- und Nachteile für die Schweiz und Europa

§6 Kritik
I Asyl- und Einwanderungsrecht
II Schleierfahndung
III SIS II

§7 Zusammenfassender Ausblick

Quellenverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Schengen-Besitzstand

§1 Definition und Überblick

Im Rahmen dieser Arbeit soll das gültige Recht rund um das Schengener Abkommen und die darauf aufbauenden Verträge und Verordnungen deskriptiv dargestellt und kritisch beleuchtet werden. Es wird auf die einzelnen Regelungsgebiete, ihre rechtliche Verankerung und kritische Stimmen zur Schengener Idee bzw. ihrer Ausführung eingegangen und Stellung genommen. Wo notwendig werden auch noch weitergehende Zusammenhänge im Rahmen der EU geschildert. Der Beitrittsprozess und die dadurch entstehenden Vor- und Nachteile werden zusätzlich am aktuellen Beispiel des Schengen-Beitritts der Schweiz erörtert.

I Schengen-Chronologie

Schon vor der Einheitlichen Europäischen Akte[1] entstand in den 1970er Jahren bei der EWG die Idee einer Passunion. Da die ehrgeizigen Ziele auf der Gemeinschaftsebene jedoch vorerst nicht umsetzbar waren, schlossen die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich am 13.07.1984 das Saarbrückener Abkommen. Dieser völker- rechtliche Vertrag, der auf längerfristige Sicht eine

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Denkmal zur Unterzeichnung des
Schengener Abkommens in Schengen

Abschaffung aller Kontrollen im Personenverkehr der beiden Länder zum Ziel hatte[2], war damit ein Vorläufer des Vertrages durch den nicht mal ein Jahr später, nämlich am 14. Juni 1985, das luxemburgische Dörfchen Schengen, im von Deutschland, Frankreich und Luxemburg gebildeten Dreiländereck, politische Berühmtheit in Europa erlangte (s. Abb.1). Obwohl das Abkommen zum schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen nur in der Nähe des Ortes Schengen auf dem Schiff „Princesse Marie-Astrid“ auf der Mosel beschlossen wurde, ist es seither als Schengener Abkommen[3] bekannt. Die endgültige Fassung wurde als Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)[4] am 19. Juni 1990 von den Benelux-Staaten, Frankreich und Deutschland unterzeichnet und trat theoretisch am 01.09.1993 in Kraft. Die praktische „Inkraftsetzung“ erfolgte jedoch erst am 26.03.1995, nachdem die notwendigen technischen und rechtlichen Voraussetzungen in allen Gründungsländern geschaffen wurden.

Die grundsätzliche Einbeziehung des Schengener Abkommens in die Europäische Union erfolgte durch das Schengen-Protokoll zum Amsterdamer Vertrag[5] vom 02.10.1997 mit Wirkung zum 01.05.1999. Mit dieser Einbeziehung in die EU liegt die weitere Fortentwicklung des Schengener Abkommens bei der gesamten Europäischen Gemeinschaft.

Der gemeinschaftliche Besitzstand wird in Europa auch Acquis communautaire genannt und beschreibt schlicht das geltende EU-Recht, mithin alle für die EU-Mitglieder verbindlichen Rechtsakte.[6] Der Schengen-Besitzstand, oder auch Schengen-Acquis, umfasst also neben dem Schengener Abkommen und allen Beitrittsverträgen der weiteren Staaten alle daraufhin bis heute vereinbarten bindenden Konkretisierungen, sowie die ca. 200 Beschlüsse des Schengener Exekutivausschusses[7] bis zur Eingliederung des Schengen-Acquis in den EG-Vertrag und wurde erstmalig im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften am 22. September 2000[8] veröffentlicht.

II Mitgliedsstaaten

1. Beitrittsprozess

Generell ist streng zwischen formalem Inkrafttreten des SDÜs durch Ratifikation eines künftigen Mitgliedslandes und dem tatsächlichen Wegfall der Grenzkontrollen nach Einrichten aller technisch notwendigen Standards zu unterscheiden; es werden deshalb im Folgenden immer zwei Jahreszahlen genannt.

Mit dem SDÜ beschlossen die Gründungsländer des Schengener Abkommens

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.2: Übersichtskarte: alte und zukünftige

Schengenmitgliedern (Stand 2004)

Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande den vollständigen Abbau ihrer Kontrollen an den Binnengrenzen am 19.06.1990. Als der Vertrag am 26.03.1995 praktisch in Kraft trat, tat er dies auch schon in Spanien und Portugal, die das SDÜ nur wenig später ratifiziert hatten (25.06.1991). In den nächsten Jahren folgten in dieser Reihenfolge Italien (17.11.1990/26.10.1997), Österreich (28.04.1995/ 01.12.1997) und Griechenland (06.11.1992/26.03.2000). Die Mitglieder der Nordischen Passunion Dänemark, Finnland und Schweden unterzeichneten 16.12.1996 Beitrittsprotokolle zum Schengener Abkommen, schafften am 25.03.2001 ihre Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ab und wenden das Schengen-Regelwerk seither vollumfänglich an. Gleiches gilt für die Nicht-EU-Mitglieder der Nordischen Passunion Island und Norwegen, die am gleichen Tag ein Kooperationsabkommen zum Schengen-Acquis unterzeichneten. Nach dem Amsterdamer Vertrag wurde dieses durch ein sehr ähnliches Assoziierungsabkommen ersetzt.[9]

Da der Schengen-Acquis seit dem Amsterdamer Vertrag fester Bestandteil des Europäischen Besitzstandes ist, traten mit der EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 die zehn neuen EU-Staaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Slowenien, Tschechien, die Slowakei, Malta und Zypern dem Schengener Übereinkommen automatisch bei. Die faktische Umsetzung in diesen Ländern wird allerdings nicht vor Ende 2007 erwartet. Das tschechische Innenministerium ließ bereits verlauten, dass es das SDÜ voraussichtlich ab 2007 anwenden und damit die Grenzkontrollen abschaffen will.[10] Bis dahin bleiben die Grenzkontrollen zwischen den neuen Beitrittsländern und den Schengen-Staaten noch bestehen.

2. Sonderstatus einzelner Mitgliedsländer

Eine Besonderheit des Schengen-Acquis liegt darin, dass er zwar inzwischen Teil der Europäischen Union ist, dennoch aber eine eigene Flexibilität besitzt. Ähnlich der Währungsunion sind nicht alle EU-Mitglieder zwangsweise vollwertige Schengen-Mitglieder. Die EU-Länder Großbritannien und Irland gehören dem Abkommen nicht vollumfänglich an[11]. Beim Abschluss des SDÜ wehrten sie sich noch gegen die Einbeziehung des Abkommens in den Rahmen der EU, waren jedoch bereit diesen Schritt durch den Amsterdamer Vertrag gehen, worin sie jedoch eine Ausnahmeregelung und das jederzeitige Recht zum ganzen oder teilweisen Einstieg für sich fixieren konnten. Dies erfordert allerdings die einstimmige Zustimmung des EU-Rates.[12] Am 29.05.2000 unterzeichneten sie dann einen Teil des Schengen-Acquis, welcher sich aber nur auf die polizeiliche Zusammenarbeit und die Strafverfolgung, nicht auf das bei den Bürgern wohl populärste Schengen-Thema, den freien Personenverkehr, bezieht. Für Dänemark wurde eine Sonderregelung bereits im Beitrittsvertrag Dänemarks zum SDÜ festgelegt, welche im Amsterdamer Vertrag noch einmal betont wird. Das Land kann demnach für jede neue, auf Titel IV des EG-Vertrags beruhende, Maßnahme entscheiden, sie anzuwenden oder nicht, selbst wenn diese Maßnahme eine Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstands ist. Dabei ist Dänemark allerdings an gewisse Maßnahmen im Bereich der gemeinsamen Visa-Politik gebunden.[13] Außerdem nehmen die Färöer und Grönland, die zu Dänemark gehören, gem. Art. 5 II des Vertrages zum SDÜ-Beitritt Dänemarks zwar nicht an Schengen, aber am freien Personenverkehr mit teil, da sie auch davor schon Teil der Nordischen Passunion waren.[14]

Andererseits gibt es Mitglieder des SDÜs, die nicht Mitglieder der EU sind. Hierzu zählen momentan vor allem Norwegen und Island, die den Schengen-Besitzstand seit dem 25.03.2001 voll anwenden. Auch die Schweiz wird, ohne EU-Mitglied zu werden, das Abkommen voraussichtlich Ende 2007 zu Teilen übernehmen.[15]

Einen weiteren Sonderstatus bilden die europäischen Zwergstaaten, die das Abkommen zwar nicht selbst unterschrieben, es jedoch faktisch anwenden, da sie von Schengen-Ländern umgeben sind und an den Grenzen zu diesen auch bisher keine Kontrollen durchgeführt hatten. Es handelt sich um den Staat Vatikanstadt und San Marino, die gleichzeitig mit Italien, sowie Monaco und Andorra, die mit Spanien und Frankreich faktisch beitraten. Entsprechendes würde für Liechtenstein nach einem Schweizer Beitritt gelten. Diese Zwergstaaten gehören auch nicht zu den 25 offiziellen EU-Ländern.

Nach Ende 2007 werden also insgesamt 32 Länder an dem Schengener Abkommen beteiligt sein, 29 davon werden es vollständig anwenden (s. Abb.2). Zukünftige Beitrittskandidaten sind neben Irland und dem Vereinigten Königreich, deren vollständiger Beitritt jederzeit möglich ist, die gleichen Staaten, die auch Beitrittsstatus für die EU besitzen. Diese sind zunächst Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Mazedonien und die Türkei mit denen die Beitrittsverhandlungen, wenn auch in letzterem Fall ergebnisoffen, bereits begonnen haben. Auf lange Sicht sind auch Verhandlungen mit der Ukraine und den Maghreb-Staaten im Gespräch.

§2 Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ)

Da das Schengener Abkommen zum SDÜ ausgearbeitet wurde, wird hier nur die endgültige Fassung des SDÜ besprochen.

I Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und freier Personenverkehr

Der erste Teil des Schengener Abkommens, nach den Begriffsbestimmungen, beinhaltet die schrittweise Abschaffung der Personen und Warenkontrollen an den Binnengrenzen (s. Abb.3).[16] Dies erst machte die schrittweise Verwirklichung des bereits seit 1992 in

Art. 7a EGV normierten Binnenmarktes möglich.[17] Als Binnengrenzen gelten die gemeinsamen Landesgrenzen der Schengen-Staaten, sowie die Flughäfen für Flüge innerhalb des Schengen-Gebietes und die Seehäfen mit regelmäßigen Fährverbindungen ausschließlich von und nach dem Gebiet der Vertragsstaaten. An den Flughäfen gibt es entsprechend getrennte Abfertigungen für Reisende der Schengen-Staaten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.3: Typische Binnengrenze ohne
Grenzposten im Schengen-Gebiet.

Hier zwischen Deutschland und Österreich

und Reisende aus Drittstaaten, die keine Mitglieder des Schengenverbundes sind. Der freie Personenverkehr gilt zwar insbesondere für die Bürger der an Schengen beteiligten Länder, aber auch für die Bürger der Drittstaaten, sog. Drittstaatsangehörige, wenn sie erst einmal in einem Mitgliedsland des SDÜ sind.

Wenn auch die völlig kontrollfreie Binnengrenze als Idee angestrebt war, wurde und wird dies doch nicht strikt durchgehalten. Die Definition von „Grenzkontrolle“ in Art. 1 SDÜ lautet: „An den Grenzen vorgenommene Kontrolle, die unabhängig von jedem anderen Anlaß ausschließlich aufgrund des beabsichtigten Grenzübertritts durchgeführt wird“. Bereits hier wird dem Einzelstaat ein großer Freiraum gewährt, Kontrollen an der Grenze durchzuführen, die keine Grenzkontrollen sind. So bestand Frankreich z.B. bis zum September 1996 auf die Ausweiskontrolle an der Grenze zu Deutschland.

Auch wurde im SDÜ festgehalten, dass ein Land des Schengen-Verbunds seine Grenze aus besonderen Gründen zeitweilig wieder Binnengrenzkontrollen durchführt. Dies ist für Personenkontrollen in Art. 2 II SDÜ normiert, wenn die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit es erfordern und für Warenkontrollen in Art. 121 II SDÜ geregelt, für die Gefahr der Einschleppung oder Ausbreitung von Schadorganismen. In beiden Fällen ist es erforderlich, dass das jeweilige Land die anderen Vertragspartner umgehend informiert, bzw. sie im Fall der Personenkontrollen, wenn möglich, vorher konsultiert. So führte Frankreich z.B. entgegen einer anderen Entscheidung des
Exekutiv-Ausschusses vom 26. April 1994, wegen den Differenzen der beiden Staaten in der Drogenpolitik, wieder Kontrollen an der Grenze zu den Niederlanden ein und stützte sich dabei auf Art. 30 des EG-Vertrages, der den Staaten das Recht einräumt, Einfuhren zu begrenzen oder zu stoppen um die Gesundheit der Bürger zu schützen.[18] Auch gab es beispielsweise umfassende Kontrollen an den französischen Grenzen im Zusammenhang mit den terroristischen Anschlägen in Paris im November 1996. Der Antiterrorplan der französische Regierung (,,Vigipirate"[19] ) nach diesen Anschlägen beinhaltete unter anderem Ausreisekontrollen an den Außengrenzen. Auch in Deutschland wäre z.B. bei erhöhter Terrorgefahr während der Fußballweltmeisterschaft 2006, nach vorheriger Konsultation der anderen Schengen-Mitglieder, eine temporäre Wiedereinführung der Grenzkontrollen gem. Art. 2 II SDÜ denkbar.

II Verstärkte Kontrollen an den Außengrenzen

An den Außengrenzen hingegen erfolgen weiterhin die Kontrollen nach den im SDÜ festgelegten Normen (Art. 3-8 SDÜ) um ein einheitliches Kontrollverfahren zu garantieren. Außengrenzen sind hierbei alle territorialen Land- und Seegrenzen sowie Flug- und Seehäfen, die nicht Binnengrenzen sind. Hier sind sorgfältige Kontrollen besonders wichtig, da ein Einreisender nach der Ankunft in einem Schengen-Staat problemlos durch das ganze „Schengenland“ reisen kann.

Art. 6 I SDÜ legt fest, dass „die jeweils zuständigen Behörden“, d.h. also die Grenzbehörden des Landes mit der betroffenen Außengrenze, „nach einheitlichen Grundsätzen, in nationaler Zuständigkeit, nach Maßgabe des nationalen Rechts und unter Berücksichtigung der Interessen aller Vertragsparteien für das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien“ kontrollieren. Die einheitlichen Grundsätze beschreibt Art. 6 II SDÜ. Neben den normalen Kontrollen der notwendigen Papiere für die Einreise, den Aufenthalt, die Arbeitsaufnahme und die Ausreise, sollen Reisende und ihre Fahrzeuge zur Abwehr von Gefahren für die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung auch fahndungstechnisch überprüft werden.[20] Allerdings sollen die Durchsuchungen vom Recht des jeweiligen Einzelstaates abhängig bleiben. Vorrang wird dabei vor allem der Identitätskontrolle eingeräumt und der Kontrolle des Einreiseverkehrs von Drittstaatsangehörigen.

Beim Schutz der Außengrenzen wird die Zusammenarbeit der Grenzpolizeien intensiviert. Die Europäische Grenzschutzagentur (FRONTEX) mit Sitz in Warschau hat im Oktober 2005 ihre operative Tätigkeit aufgenommen. Durch beispielsweise Erstellen von Risikoanalyseberichten, Durchführung gemeinsamer Aktionen und Pilotprojekte, Trainingsmaßnahmen und Austausch von Verbindungsbeamten wird FRONTEX eine wichtige Rolle beim Schutz der Außengrenzen zukommen.[21] Auf längere Sicht könnte diese Agentur zu einer Art „Europäischen Grenzpolizei“ ausgebaut werden.[22]

Die Wichtigkeit eines festgelegten Standards für die Grenzkontrollen wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Länder in der Mitte des Schengen-Europas wie Deutschland nach der vollständigen Umsetzung des Schengen-Acquis in den neuen EU-Ländern Ende 2007 – oder auch die Schweiz nach ihrer wahrscheinlichen Umsetzung der Personenfreizügigkeit bis Ende 2007 – bis auf Flug- und Seehäfen keinerlei Außengrenzen mehr zu kontrollieren haben. Sie sind darauf angewiesen, dass die Kontrollen z.B. in Spanien, Polen oder Lettland sorgfältig und einheitlich ausgeführt werden.

III Vereinheitlichung der Asylverfahren und gemeinsame Visa- und Aufenthaltspolitik

1. Asylverfahren

Der zweite Punkt, der durch das SDÜ für die Vertragsstaaten vereinheitlicht werden soll, ist das Asylverfahren sowie die Visa- und Aufenthaltspolitik. Ersteres wurde jedoch kaum angetastet. Gem. Art. 32 SDÜ richtet sich nämlich die Behandlung des Asylbegehrens nach dem nationalen Recht des zuständigen Mitgliedsland. Allein die Bestimmung der Zuständigkeit wurde geregelt. So ist nach Art. 30 I SDÜ in der Regel der Schengen-Staat für Asylbegehren und gegebenenfalls eine Ausweisung zuständig, welcher die Einreise des Betreffenden veranlasst oder nicht verhindert hat. Die Idee dahinter ist, wie auch aus Art. 29 III SDÜ hervorgeht, vor allem, dass jeder Asylsuchende nur einen Antrag auf Asyl im Schengen-Verbund stellen kann. Auf diese eine Anhörung räumt ihm aber Art. 29 I SDÜ einen Anspruch ein.

Diese Bestimmungen zum Asylverfahren wurden weitgehend identisch in dem Dubliner Übereinkommen DÜ vom 15.06.1990, welches am 01.09.1997 in Kraft trat und dem inzwischen alle EU- und alle Schengen-Mitglieder angehören, übernommen.[23] Es wurde dann nach der Übernahme ins EG-Recht mit dem Amsterdamer Vertrag durch die Dublin II -Verordnung[24] ersetzt. Sie bleibt jedoch weitgehend bei dem System des SDÜ. Allerdings müssen die Asylanträge nicht mehr geprüft werden, die offensichtlich unbegründet sind. Dies liegt dann vor, „wenn der Asylwerber – ohne begründeten Hinweis auf Verfolgung – aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt [etwa aus einem
EU-Mitgliedstaat oder einem anderen Land, dass die Genfer Menschenrechtskonventionen anwendet], die Asylbehörde über seine wahre Identität oder die Echtheit seiner Dokumente täuscht, keine Verfolgungsgründe geltend macht oder – wenn er über einen Flugplatz eingereist ist – seine Angaben zur Bedrohungssituation offensichtlich den Tatsachen nicht entsprechen.“[25]

2. Visa-, Einwanderungs- und Aufenthaltspolitik

Im Gegensatz zu einem gemeinsamen Asylverfahren hat sich die gemeinsame Vergabepolitik für Visa im Schengen-Raum bereits durchgesetzt. Danach können alle Regierungen oder Botschaften der Schengen-Staaten Visa vergebenen, die für das gesamte Schengen-Gebiet Gültigkeit besitzen (s. Abb.4). Die Voraussetzungen, die zur Erlangung eines Visums für das Schengen-Gebiet

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.4: Französisches „Schengen-Visum“

berechtigen, wurden von allen beteiligten Ländern beschlossen und werden seit dem einheitlich angewendet. Praktisch gesehen bedeutet das, dass eine Person aus einem Drittstaat bsw. bei der Botschaft Belgiens in seinem Land ein Visum beantragen kann, welches ihn zum Bereisen des ganzen Schengen-Raums von Spanien bis Finnland berechtigt. Die Brisanz, die geringe Unterschiede im Visa-Vergabeverfahren deshalb mit sich bringen, wurde in Deutschland besonders durch den Vollmer- bzw. Fischer- erlass aus dem Jahre 2000 bekannt, der 2005 zu der sog. Visa-Affäre vor allem in Bezug auf die deutsche Botschaft in Kiew führte. Er stellte die Reisefreiheit im Zweifel über die Einreiseverweigerung („in dubio pro libertate“).[26]

Ausgestellt werden im Schengen-Verbund sog. Transitvisa (Typ A für Flugweg, Typ B für Landweg), die den Besitzer nur vorübergehend die Durchreise durch das „Schengenland“ erlauben und die Kurzzeitvisa (Typ C), die zur mehrmaligen Einreise und Aufenthalt bis zu 90 Tagen in einem Zeitraum von 180 Tagen in allen Schengener Staaten berechtigen. Hierbei wird im Schengen-Raum nicht wie in anderen Ländern zwischen Touristen- und Geschäftsvisa unterschieden. Für längere Aufenthalte in einem Schengen-Mitgliedsstaat kann jedes Mitgliedsland aber auch das Nationale Visum (Typ D) oder einen Aufenthaltstitel ausstellen. Auch dieses Visum berechtigt den Inhaber zum Transit durch die anderen Schengen-Staaten in sein Gastland. Typ C und Typ D Visa werden auch in Kombination vergeben und gelten dann eben nur, wie der
Aufenthaltstitel eines einzelnen Landes, für einen Zeitraum von 90 Tagen pro Halbjahr in einem anderen als dem Ausstellerland. Der maximale Aufenthalt für 90 Tage mit dem Typ C, bzw. der Kombination Typ C + D verlängert sich auch nicht bei einer Aus- und Wiedereinreise. Dadurch wird der in vielen anderen Staaten praktizierte „Visa-Run“, das kurzzeitige Ausreisen zur Verlängerung der Aufenthaltsdauer, vermieden.[27]

Die Einreise in das „Schengenland“ ist jedoch neben den Bürgern der EU- und Schengen-Mitgliedern, sowie denen, der faktisch teilnehmenden europäischen Zwergstaaten, auch noch für die Bürger 31 weiterer Staaten aufgrund völkerrechtlicher Verträge ohne Visum möglich. Dazu gehören vor allem die USA, Kanada sowie die meisten Länder Mittel- und Südamerikas, Australien und einige Länder Asiens. In Afrika findet sich kein von der Visumpflicht befreites Land.[28] Die in verschiedenen Assoziationsabkommen geregelten Ausnahmen, sowie die Regelungen der Abkommen von Schengen und Dublin sind, sofern einschlägig immer als lex specialis gegenüber dem allgemeinen EG-Einwanderungsrecht zu sehen.[29]

IV Ausgleich zu dem Wegfall der Binnengrenzkontrollen

Da viele Länder in der Mitte des Schengen-Verbundes keine Grenzkontrollen mehr haben und dadurch auch die Fahndung nach gesuchten Verbrechern auf nationaler Ebene sehr erschwert wird, wurde im SDÜ zugleich die polizeiliche Zusammenarbeit der assoziierten Staaten geregelt.

1. Schengener Informationssystem SIS

Das SIS ist eine Datenbank für zur Fahndung ausgeschriebene Personen und Sachen, auf die nur die Sicherheitsbehörden der Schengen-Staaten Zugriff haben. Sie setzt sich laut Art. 92 SDÜ aus einem nationalen Teil jedes Mitgliedslandes (NSIS), in dem die Informationen gespeichert sind, und einem zentralen Teil (CSIS), der in Straßburg stationiert ist und allein den Datenaustausch koordiniert, zusammen.[30] Für die NSIS zuständig sind die Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.5: Österreichischer Zollbeamter

mit mobilem SIS-Terminal

jeweiligen nationalen Stellen, wie z.B. in Deutschland das Bundeskriminalamt. Optimaler Weise sollten die einzelnen NSIS immer aktualisiert und auf exakt gleichem Stand gehalten werden. Zusätzlich ist in Art. 114 SDÜ die Einrichtung für nationale Kontrollinstanzen der NSIS geregelt und in Art. 115 SDÜ die Einrichtung einer gemeinsamen Kontrollinstanz (GKI) zur Überwachung des CSIS und Koordinierung der einzelnen nationalen Instanzen. Die aus jeweils zwei Vertretern der nationalen Kontrollinstanzen zusammengesetzte GKI hat ihren Sitz in Brüssel und verfasst jährlich einen Tätigkeitsbericht.[31]

Da in das SIS eingegebene Datensätze binnen 15 Minuten für alle Mitglieder abrufbar sind, werden zeitraubende Nachfragen überflüssig. Hierin liegt auch der entscheidende Vorteil zu Interpol, deren Daten erst nach Tagen oder Wochen abrufbar sind.[32] Durch die in jedem Land eingerichteten SIRENE-Büros (S upplementary I nformation Re quest at the N ational E ntry), werden die Datensätze aufgegeben, abgefragt und bei Bedarf eine Nachfrage an das betreffende Land gestartet. Diese Nachfragen werden durch standardisierte mit Zahlencodes gekennzeichnete Formulare über das hauseigene SISNET durchgeführt, damit trotz der vielen verschiedenen Sprachen im Schengen-Raum gleich klar ist, welchen Zweck die Anfrage verfolgt. Zusätzlich zu den zentralen SIRENE-Büros werden auch immer mehr mobile Einsatz und Fahndungsgruppen mit tragbaren SIS-Terminals ausgestattet, die in Echtzeit einen Abgleich mit der Datenbank ermöglichen. Vor allem im Gebiet der Schengen-Außengrenzen sind heute fast flächendeckend mobile SIS-Terminals im Einsatz (s. Abb.5).[33]

Die Voraussetzungen für eine Aufnahme in den Fahndungskatalog regelt für Straftäter und deren Fahrzeuge Art. 99 SDÜ, für Drittstaatsangehörige mit Einreiseverweigerung Art. 96 SDÜ und für Sachen Art. 100 SDÜ. So kann nach Personen gefahndet werden, bei denen frühere Straftaten oder konkrete Anhaltspunkte darauf schließen lassen, dass die Person künftig „außergewöhnlich schwere Straftaten“ begehen wird. Aufgenommen werden gem. Art. 94 III SDÜ allerdings nur die personenbezogenen Daten: Name und Vorname, Geburtsdatum und Geburtsort, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und besondere unveränderliche physische Merkmale. Hinzu kommen Fahndungsgrund, durchzuführende Maßnahme und der personenbezogene Zusatz „gewalttätig“ und/oder „bewaffnet“. Bei den zur Fahndung aufgegebenen Sachen handelt es sich gem. Art. 100 III SDÜ vor allem um gestohlene, unterschlagene oder sonst abhanden gekommene Fahrzeuge, Feuerwaffen, Ausweispapiere oder Banknoten. Nach Art. 112 I SDÜ dürfen die Fahndungsdaten nicht länger als für den jeweiligen Zweck erforderlich gespeichert werden und müssen für Fahndungen nach Art. 99 SDÜ nach einem Jahr, für solche nach Art. 100 SDÜ nach drei Jahren, erneut geprüft werden. Mit Beginn des Jahres 2004 umfasste das SIS ein Datenvolumen von ca. 12,7 Mio. Fahndungen, davon ca. 11,5 Mio. Sachfahndungen und ca. 1,2 Mio. Personenfahndungen.[34]


[...]

[1] EEA, 28.02.1986 unterzeichnet

[2] s. Schauer, M.: Schengen – Maastricht – Amsterdam – Auf dem Weg zu einer flexiblen Union, in: Juristische Schriftenreihe, Bd. 148, hrsg. v. Verlag Österreich, Wien 2000, S. 196

[3] s. GMBl. 1986, S. 79 ff.

[4] s. BGBl. II 1993, S. 1013 ff.;

Online auch unter http://www.aufenthaltstitel.de/schengeneruebereinkommen.html einzusehen.

[5] s. BGBl. 1998 II S. 386; s. auch § 3

[6] s. http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinschaftlicher_Besitzstand

[7] s. http://www.schengen.ch/solidarite,dossier,teil1.pdf

[8] s. 43. Jahrgang L 239

[9] s. http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/willkommen/einreisebestimmungen/schengen_html#5

[10] s. http://de.wikipedia.org/wiki/Schengener_Abkommen

[11] s. Weidenfeld/Wessels//Hillenbrand S. 384

[12] s. Bieber/Epiney/Haag § 14 Rn. 76

[13] s. http://europa.eu.int/scadplus/leg/de/lvb/l33020.htm

[14] s. Vertrag online unter http://europa.eu.int/eur-lex/lex/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:42000A0922(08):DE:HTML

[15] s. hierzu § 5

[16] s. SDÜ 19.06.1990 Titel II

[17] s. Oberleitner S. 80

[18] s. Dollat S. 181 f.

[19] s. http://www.amnesty.de/jb96/frankr.htm

[20] s. auch § 2 III 1.

[21] s. http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/europa/aufgaben/justiz_inneres/aussengrenzen_html

[22] s. Bergmann ZEuS 2003, 103 (118).

[23] s. Sahin, S. 30

[24] s. österreichisches BGBl. I Nr. 101/2003

[25] s. http://www.bmi.gv.at/oeffentlsicherheit/2004/05_06/artikel_14.asp

[26] s. http://de.wikipedia.org/wiki/Visa-Aff%C3%A4re

[27] s. http://de.wikipedia.org/wiki/Visum#Visa-Run

[28] s. http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/willkommen/einreisebestimmungen/liste_html für eine ausführliche Auflistung

[29] s. Knauff ZEuS 2004, 11 (17 f.)

[30] s. http://www.europarl.eu.int/comparl/libe/elsj/zoom_in/25_fr.htm#3

[31] s. http://www.cnpd.lu/de/commission/article17/jsa_schengen/

[32] s. http://www.fdp.ch/files/content/element/32063/150105_Pegoraro_d.pdf

[33] s. Feest/Schumann//Kattau, S. 88 f.

[34] s. http://www.bmi.bund.de/cln_012/nn_175818/Internet/Content/Themen/Polizei/DatenundFakten/
Polizeiliches__Informationswesen__Id__94108__de.html

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Das Schengener Abkommen. Ein Überblick
Hochschule
Université de Lausanne
Veranstaltung
Europarecht
Note
12 Punkte
Autor
Jahr
2006
Seiten
34
Katalognummer
V60654
ISBN (eBook)
9783638542777
ISBN (Buch)
9783656799108
Dateigröße
906 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine Arbeit zum Schengen-Besitzstand - nicht nur für Juristen - mit besonderem Blick auf: -historischen Verlauf -Inhalt Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) -Einbettung durch den Amsterdamer Vertrag -Kritik von verschiedenen Seiten -Geschehene und mögliche Weiterentwicklung Zusätzlich widmet die Arbeit ein Kapitel dem Sonderthema "Die Schweiz und Schengen" mit der bisherigen Einbindung und der besonderen Stellung durch die bilateralen Verträge, sowie Kritischen Meinungen.
Schlagworte
Schengen, Europarecht
Arbeit zitieren
Christoph Schray (Autor:in), 2006, Das Schengener Abkommen. Ein Überblick, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60654

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