Das Brüsseler Pressecorps und europäische Öffentlichkeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

31 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Europäische Öffentlichkeit
2.1. Modelle Europäischer Öffentlichkeit
2.2. Gesamteuropäische Öffentlichkeit
2.2.1. gmentierte Themenöffentlichkeiten
2.2.2. Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten
2.2.3. Diskurstheoretische Öffentlichkeit
2.3. Demokratie, Identität und Kontrolle

3. Das Brüsseler Pressecorps
3.1. Die Entwicklung
3.2. Die Arbeitsbedingungen
3.3. Der Mikrokosmos
3.4. Informationsquellen
3.4.1. Kommission
3.4.2. Ministerrat
3.5. Europa als Thema
3.6. Journalismuskulturen
3.6.1. Ein einheitlicher europäischer Journalimus?
3.6.2. Journalismuskulturen in Brüssel
3.7. Berichterstattung über Europa

4. Empirischer Teil
4.1. Fragebogen und Durchführung
4.2. Ergebnisse
4.2.1. Demographische und Berufsbezogene Merkmale
4.2.2. Einstellungen zu Europa
4.2.3. Informationsquellen
4.2.4. Ziel der täglichen Arbeit
4.2.5. Verhältnis zu den Heimatredaktionen

5. hlußfolgerungen

Literatur

Anhang

1. Einleitung

Mit der Diskussion um eine europäische Verfassung, dem Betritt von zehn neuen Mitgliedern zur EU und der Tatsache, dass sich immer weniger Menschen für Europa begeistern können, wird die Frage nach einer Europäischen Öffentlichkeit immer dringender. Die Europäische Union ist zu einem eigenständigen politischen stem geworden, dessen Entscheidungen immer deutlicher die Innenpolitik der Nationalstaaten beeinflußt. Mit dieser Entwicklung rücken zunehmend auch Fragen nach Demokratie, Identität und Kontrolle dieses politischen stems in den Vordergrund. Die Wissenschaft hat dazu verschiedene normative Modelle europäischer Öffentlichkeit formuliert, mit unterschiedlichen Implikationen. Diese übergreifende Diskussion verdeutlicht den and der Entwicklung, die Hindernisse, die es zu überwinden gilt, aber auch Grenzen die kurz- und mittelfristig nicht veränderbar sein werden.

Von wachsendem Interesse ist auch der Beitrag, den Akteure, nicht nur auf politischer ite, sondern auch auf iten der Medien für eine europäische Diskussion leisten. Im Puzzlespiel der vielen verschiedenen Akteure, die an der Konstitution einer europäischen Öffentlichkeit betei- ligt sind, spielen die Journalisten in Brüssel sicher eine herausragende Rolle. Die allgemeine Debatte um eine europäische Öffentlichkeit ist Voraussetzung, um in die tiefergehende Proble- matik des Brüsseler Pressecorps einzusteigen. Die besondere Position der Brüsseler Journali- sten resultiert aus ihrer Vermittlungsleistung zwischen Nationalstaat und Europäischen Institutionen. Doch angesichts des vielbeklagten Öffentlichkeitsdefizits und empirischen Hin- weisen auf eine magere Berichterstattung über Europa ist fraglich, ob sie ihrer Aufgabe gewach- sen sind. Ziel dieser Arbeit soll es daher sein, die normativen Grundlagen journalistischer Arbeit in Brüssel herauszuarbeiten, sie in Beziehung zu den empirischen Gegebenheiten zu set- zen und eine mögliche Ursache des Öffentlichkeitsdefizits zu bestimmen. Dazu werden folgen- de Fragen zu beantworten sein: Wie sind die Arbeitsbedingungen der Brüsseler Journalisten, welches lbstverständnis haben sie, welche Quellen nutzen sie? Wie sieht die Berichterstat- tung über europäische Themen aus und lässt sich ein Zusammenhang zu der journalistischen Arbeitweise herstellen? Und welche hlußfolgerungen lassen sich daraus für die Entstehung einer Europäischen Öffentlichkeit ziehen?

Im empirischen Teil sollen einige Aspekte der Arbeitsbedingungen in Brüssel einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, um so bereits bestehende Ergebnisse zu überprüfen und gegebenenfalls zu vervollständigen

2. Europäische Öffentlichkeit

it einem guten Jahrzehnt beobachtet und analysiert die Wissenschaft den Fortschritt und Problematik einer europäischen Öffentlichkeit, mit unterschiedlichen hlußfolgerungen. Die unterschiedliche Einschätzungen der Möglichkeiten und Entwicklungen einer Europäischen Öffentlichkeit resultieren vornehmlich aus unterschiedlichen Maßstäben und Kriterien, die zur Beurteilung herangezogen werden. haben sich verschiedene normative Modelle herausgebildet, die unterschiedliche hwerpunkte setzen und andere Anforderungen an eine Öffentlichkeit stellen. Ursache für diese verschiedenen Herangehensweisen ist zum einen das vielschichtige Konzept von Öffentlichkeit. Manche Fälle allerdings erwecken den Eindruck der müßigen Diskussion um das halbvolle oder halbleere Wasserglas.

Trotz aller Unterschiede haben die verschiedenen Ansätze einen gemeinsamen Nenner, einige Punkte in denen allgemeine Übereinstimmung herrscht. In allen Beträgen zur Debatte, ob sie nun pessimistisch oder optimistischer Natur sind, wird der bisherige and einer Europäischen Öffentlichkeit als nicht ausreichend empfunden. Pessimismus oder Optimismus sind in diesem Fall als eine auf die Zukunft gerichtete Einstellung zu sehen, der momentane and wird durchweg kritisiert. Ebenfalls ausnahmslose Zustimmung findet die Feststellung, dass die kulturelle und sprachliche Vielfalt Europas ein großes Hindernis in der Entwicklung der europäischen Öffentlichkeit ist. Gleichzeitig wird betont, dass eine Homogenisierung dieser Vielfalt nicht wünschenswert sei, da sie eines der Wesenmerkmale Europas konstituiere.

2.1. Modelle Europäischer Öffentlichkeit

In der Literatur lassen sich mehrere Modelle europäischer Öffentlichkeit finden, die jeweils unterschiedliche normative und institutionelle Voraussetzungen haben.

2.1.1. Gesamteuropäische Öffentlichkeit

Die Idee einer einheitlichen, alle aaten überspannenden Öffentlichkeit ist wohl die anspruch- vollste, aber auch unrealistischte Variante einer Europäischen Öffentlichkeit (Gerhards 1993). Der Maßstab ist hier die Entstehung der nationalen Öffentlichkeit, mit ähnlicher Reichweite und Institutionen. Öffentlichkeit ist konstituierendes Merkmal für die Funktionsfähigkeit und Kon- trolle des politischen stems. Der zunehmenden Kompetenz- und Ressourcenallokation auf die supranationale Ebene, sollte eine Legitimationsallokation durch Öffentlichkeit folgen. (Ger- hards 1993, 99) Voraussetzung hierfür wären ein einheitliches Mediensystem oder zumindest einige übergreifend organisierte Medien, die transnationale Inhalte an ein europäisches Publi- kum verbreiten. Diese Vorstellung trifft in der Realität allerdings auf Hindernisse in vielerlei Hinsicht. Zum einen ist das Publikum weiter nationalstaatlich orientiert, die sprachlichen und kulturellen Barrieren sind sehr hoch. Aber auch auf der Produzentenseite gibt es kulturelle Un- terschiede, z.B. in den Journalismussystemen, sowie die hwierigkeit transnationale Medien aufzubauen. Alle Versuche in dieser Richtung sind bisher wenig überzeugend oder gescheitert. Auch empirische udien zeigen, dass der Grad an Europäisierung von Öffentlichkeit anderen Bereichen hinterherhinkt. Gerhards vergleicht in einer udie den Grad an Transnationalisie- rung in drei eng miteinander verbundenen Bereichen Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit (Gerhards 2000). In der Wirtschaft sind eindeutige Befunde einer Transnationalisierung zu fin- den und auch in der Politik gibt es Ansätze, die vor dem Hintergrund euerungsfähigkeit wie- derzuerlangen zu sehen sind. Für die Entwicklung der Öffentlichkeit trifft dies nicht zu, sie ist weiterhin nationalstaatlich verhaftet. Daher ist es gerade dieser Ansatz, der den meisten Pessi- mismus über eine Europäische Öffentlichkeit verbreitet, bei diesem hohen Anspruch muß es ja zwangsläufig zu einer Defizitbewertung kommen.

2.1.2. gmentierte Themenöffentlichkeiten

Demgegenüber steht das Modell der segmentierten transnationalen Themenöffentlichkeiten, also die Vorstellung von vereinzelten Öffentlichkeiten zu einem bestimmten Thema oder Politikfeld (Trenz 2000, Eder/Kantner 2000). In diesem Zusammenhang wird immer wieder der auf das komplexe Mehrebenensystem EU hingewiesen und die Notwendigkeit von Kommunikation, die sich an diese ruktur anpasst. Es wird das Bild von untereinander gekoppelten Teilöffentlichkeiten entworfen, die bei Bedarf auch Resonanz nach außen zu einem diffusen Massenpublikum herstellen. Dies ist allerdings in der Realität die Tücke dieses Modells: es schließt systematisch einen Goßteil der Bevölkerung aus und kann daher kaum öffentlichkeitsund demokratietheoretischen Anforderungen entsprechen.

2.1.3. Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten

Das dritte Modell wählt den Mittelweg zwischen den Extremen der gesamteuropäischen und der themenzentrierten Öffentlichkeit. Es schlägt eine Europäisierung der nationalen Öffentlichkei- ten vor, durch die Thematisierung europäischer Themen sowie deren Bewertung aus europäi- scher Perspektive (Eilders/Voltmer 2003). Dies ist zumindest ein Ansatz der realisierbar wäre und Vorteile in verschiedener Hinsicht hätte. Gegenüber dem Modell der eigenständigen europäischen Öffentlichkeit kann die vorhandene Infrastruktur der nationalen Öffentlichkeiten genutzt werden, die sprachlichen und kulturellen Hindernisse schwächen sich ab, denn besondere Publikumsinteressen können weiter berücksichtigt werden. Gegenüber dem segmentierten Modell werden potentiell alle Bürger eingeschlossen. Allerdings hat auch dieses Modell Probleme in der Realität zu bestehen. Trotz der Bedeutungszunahme europäischer Entscheidungen ist die Berichterstattung vorwiegend national orientiert und selbst wenn Europa thematisiert wird, ist der nationalstaatliche Fokus dominierend (vgl. Gerhards 1993, 108).

2.1.4. Diskurstheoretische Öffentlichkeit

Ein weiteres Modell lenkt die Aufmerksamkeit auf die bereits vorhandenen Kommunikations- prozesse. Die hermeneutisch-pragmatische bzw. diskurstheoretische Variante eines Öffentlich- keitsbegriffs konzeptualisiert „europäische öffentliche politische Kommunikation als Kommunikation gleicher (europapolitischer) Themen zur gleichen Zeit unter gleichen Rele- vanzgesichtspunkten.“ (Kantner 2000, 226). Kantner relativiert die Kritik an der national- staatlichen chtweise, in dem sie feststellt, dass eine Kommunikation über den selben Gegenstand stattfindet und sie - ähnlich der parteipolitischen Auseinandersetzung auf nationaler Ebene - verschiedene chtweisen verschiedener aaten hervorbringt. „Bürger, die sich über europäische Themen in ihrer eigenen Muttersprache und über die Medien, die sie ohnehin nut- zen, informieren, nehmen an öffentlicher politischer Kommunikation in einem komplexen - stem von Teilöffentlichkeiten nationaler, regionaler aber auch themen- und interessenspezifischer Provenienz teil.“ (Kantner 2000, 223) Dieses Modell muss weder be- haupten, dass es eine europäische Öffentlichkeit bereits gibt, noch muss es sich bemühen, statt- findende europäische Kommunikationsprozesse zu leugnen. Die Vertreter dieses Ansatzes sehen auch die hwierigkeiten, kritisieren aber, dass sich die Forschung vorwiegend auf deren Beschreibung konzentriert, anstatt vorhandene Kommunikation zu registrieren.

2.2. Demokratie, Identität und Kontrolle

Neben dieser vorwiegend normativen Diskussion verschiedener Modelle, stellt sich die Frage, welche Funktionen Öffentlichkeit auf europäischer Ebene erfüllen soll und kann. Die Debatte um eine Europäische Öffentlichkeit ist mit zwei weiteren Problemen europäischer Integration eng verbunden. Zum einen wird sie stark im Zusammenhang mit dem Demokratiedefizit disku- tiert, zum anderen mit der Problematik einer europäischen Identität.

Im letzteren Fall geht es darum, inwiefern Öffentlichkeit eine Identifikation mit dem europäischen Projekt schaffen kann und ob dies mit dem derzeitigen and der Entwicklung zu erreichen ist. Es ist die Frage nach einem europäischen Bewußtsein, der lbstbeobachtung einer Gesellschaft und ihrer gemeinsamen Werte und Kultur. Eine europäische Identität ist jedoch nicht lbstzweck, sondern schafft zumindest Interesse oder eine diffuse Unterstützung für das politische stem und ist somit eine Voraussetzung für Demokratie.

Das zweite Problem, das vieldiskutierte Demokratiedefizit spielt daher auch im Zusammenhang mit der Identitätsdiskussion eine wichtige Rolle, da hier die Annahme vorherrscht, Europa biete nicht genug Möglichkeiten zur Beteiligung. Das Resultat seien mangelndes Interesse oder gar Ablehnung der „bürgerfernen Brüsseler Bürokraten“. Angesichts dieser Tendenz ist eine europäische Identität nur schwer zu verwirklichen.

In der demokratietheoretischen Dimension des Begriffs hat Öffentlichkeit die Funktion von Meinungsbildung, Interessenvermittlung und Kontrolle politischer Macht. e soll die Verant- wortlichkeit der im Auftrag der Wähler Handelnden transparent und sanktionierbar machen. „Die Leistungsfähigkeit von politischer Öffentlichkeit hängt entscheidend von den Interaktio- nen zwischen politischem stem und Mediensystem ab, da sich nur eine kleine Zahl von Bür- ger aus erster Hand informieren kann“ (Meyer 2004, 132). Es liegt also bei den politischen und medialen Akteuren, diesen Beitrag zu einer funktionierenden Öffentlichkeit zu leisten.

Die zunehmende Berichterstattung über andale, Missstände und Verfehlungen wecken zu- mindest die Hoffnung, dass politische Machtausübung auch auf europäischer Ebene beobachtet und kontrolliert werden kann. Mit der Frage nach den Funktionen von Öffentlichkeit und deren Erfüllung wird der Fokus auf die Akteure verschoben, insbesondere die Journalisten. Damit wird der Bogen zum Brüsseler Pressecorps geschlagen, das ungeachtet aller normativen und empirischen Probleme europäischer Öffentlichkeit, diese Aufgabe zu erfüllen hat.

3. Das Brüsseler Pressecorps

Wie schon angedeutet resultiert die besondere Position der Brüsseler Journalisten aus ihrer Ver- mittlungsleistung zwischen Nationalstaat und Europäischen Institutionen. e sind zwar auch nur ein Puzzlestück im Akteursgeflecht, aber sie sind ein zentrales, das mit vielen anderen Gruppen eine hnittstelle hat: e sind verbunden zu den Heimatredaktionen, dem Publikum und Wählern dort: Das Verhältnis zu den Redaktionen in den Nationalstaaten prägt das täglichen Geschäft der Journalisten in Brüssel und wird daher noch ausführlich gewürdigt. Die Antizipation der Interessen der Redaktionen und des Publikums zu Hause beeinflußt die journalistische Arbeit. Als andere entscheidende hnittstelle sind die politischen Institutionen zu nennen, die als Gegenstand und Quellen der Berichterstattung ein wesentlicher Bestandteil der journalistischen Arbeitsbedingungen vor Ort sind.

Es sind viele verschiedene Variablen, die Einfluß auf die journalistische Arbeit und damit auf die Berichterstattung über haben. Ziel ist es, anhand der Darstellung der Arbeitsbedingungen und des lbstverständnis der Brüsseler Korrespondenten herauszufinden, inwieweit sie Europäische Öffentlichkeit vorrantreiben oder behindern, welche Faktoren verantwortlich dafür sind, uns ob diese Faktoren beeinflußbar sind, um daraus Folgerungen für Veränderungen und das Potential einer Europäischen Öffentlichkeit zu bestimmen. Dass nicht allein die Journalisten eine europäische Öffentlichkeit herstellen können ist nachvollziehbar, aber ihre ellung und ihr Potential in diesem Prozeß ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

Daher wird sich dieser Teil in zwei Abschnitte gliedern. Zum einen werden die verschiedenen Einflussfaktoren dargestellt, anschließend wird die Berichterstattung über die Europäische Union analysiert und versucht, hier Zusammenhänge herzustellen. Der empirische Teil wird darüber hinaus noch einige Aspekte ergänzen.

3.1. Die Entwicklung

In der Entwicklung des Brüsseler Pressecorps markieren die kontroversen Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht einen entscheidenden Wendepunkt. Nicht dass sich über Nacht alles veränderte, aber es setzte ein Wandlungsprozeß ein, der bis heute währt. Um das gegenwärtige Pressecorps beschreiben und erklären zu können, ist es notwendig den Ausgangspunkt dieser Wandlungen zu kennen, sowie die Faktoren, die zu den Veränderungen geführt haben. Die ersten Brüsseler Korrespondenten waren eingefleischte Europäer, nur aus diesem Grund war man nach Brüssel gegangen. Diese handvoll Journalisten verweilte lange in Brüssel, baute Kontakte auf, verschaffte sich das nötige Know-How, um der Komplexität des Gegenstands Herr zu werden. Viele Journalisten verloren im Laufe der Jahre ihre professionelle Distanz zu den europäischen Institutionen. Mit der Integration in das Brüsseler Leben, ihrem speziellen Wissen und ihrer Position weit weg von den Heimatredaktionen besetzten sie das Interpretati- onsmonopol über die Brüsseler Nachrichten. Gleichzeitig hatten sie aber mit skeptischen und uninteressierten Heimatredaktionen zu kämpfen, die Europa kaum Platz in der Berichterstat- tung einräumen wollten. Meyer sieht in dieser Konstellation drei wesentliche Konsequenzen: Erstens, hatten die Journalisten wenig Interesse an aktiver und investigativer Recherche. Zwei- tens, bewirkte die privilegierte Position im Machtgeflecht in Brüssel eine eher passive Konsum- haltung von Informationen. Drittens, verursachte die geringe Aufmerksamkeit gegenüber EU- Nachrichten wenig Wettbewerb unter den Journalisten (vgl. Meyer 2000, 121)

Diese etwas pauschalisierte tuation änderte sich mit den oben genannten Ereignissen. Die Nachrichten aus Brüssel erhielten zunehmende Bedeutung und mit dem Zuwachs an Journalisten stieg auch die Fluktuation.

Das Pressecorps wuchs stetig an, ein regelrechter Boom setzte aber erst mit den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht ein. Während in der Zeit von 1987 bis 1990 die Zahl der Korre- spondenten lediglich um 2 Prozent pro Jahr stieg, waren im Jahr 1991 25 Prozent mehr Journa- listen als im Vorjahr in Brüssel akkreditiert (vgl. Meyer 2000, 122). wie Anfang der 90er die Verhandlungen über den Maastricht Vertrag Auslöser für den Anstieg der Journalisten wa- ren, verursachte auch der Rücktritt der Kommission Ende der 90er wieder einen Zuwachs an Brüsseler Korrespondenten. Mit den Kontroversen und Konflikten stieg der Nachrichtenwert von Brüsseler Ereignissen.

3.2. Die Arbeitsbedingungen

Unter den großen Nachrichtenplätzen der Welt rangiert Brüssel ganz weit oben. Mit mehr als 1000 Korrespondenten (vgl. Lob 2004, 12) ist die kleine belgische adt vergleichbar mit Wa- shington. Das größte Kontingent stellt Deutschland mit etwa 140 Journalisten, gefolgt von Großbritannien, das knapp 100 Korrespondenten in Brüssel beschäftigt. Die anderen europäi- schen Länder verpflichten deutlich weniger Journalisten, ein Teil nicht einmal 20 Korrespon- denten.

Trotz der Größe des Pressecorps sind von den deutschen Medien in der Regel jeweils ein bis drei Journalisten vertreten, Ausnahmen sind vor allem die FAZ, ARD, ZDF und die Nachrich- tenagentur dpa. Die Folge ist in der Mehrzahl der Medien eine geringe Personalausstattung, teil- weise arbeiten einzelne Journalisten für mehrere Medien. Angesichts der Informationsflut, der die Korrespondenten täglich ausgesetzt sind, ist dies eine große Herausforderung. bald ein außergewöhnliches Ereignis ansteht, kommen viele an die Grenzen ihrer Ressourcen. Eine kri- tische und investigative Recherche, die Zeit und Aufwand bedeutet, können und wollen sich da nur wenige leisten. Denn die Welt in Brüssel ist klein. Auf zwei Quadratkilometern im Dreieck zwischen Kommission, Rat und EP befinden sich alle wichtigen Institutionen der Europäischen Union. Die meisten Journalistenbüros sind dort angesiedelt, Cafés, Bars und Restaurant laden zum all-Talk oder auch zum hochpolitischen Hintergrundgespräch ein. Die Wege sind kurz, ob Beamter, Journalist oder Lobbist: jeder kennt jeden. Es ist ein bisschen wie das Informationsschlaraffenland, wo einem täglich vorgekochte Häppchen in den Mund fliegen. Nur wenn man hinter die Kulissen schauen will, wenn man unbequem werden will, muss man sich anstrengen. Dies gilt vor allem für investigativen Journalismus.

3.3. Der Mikrokosmos

Die ständige Nähe der Akteure hat in Brüssel einen eigenen Mikrokosmos hervorgebracht, der seine eigene Geschichte, Regeln und Rituale hat. Dieser Mikrokosmos determiniert stark die Arbeit der Journalisten. Am sichtbarsten ist er wohl in der täglichen Pressekonferenz der Kom- mission: dem „rendez-vous de midi“ im Breydel. Eine Art von Korpsgeist scheint in Brüssel all- gegenwärtig zu sein. Unter den Journalisten hat er sich in der Anfangszeit herausgebildet. Weit weg von den Heimatredaktionen sind alle Journalisten mit dem sperrigen Thema Europa befaßt, versuchen die komplexen Entscheidungsprozeduren nachzuvollziehen. Aber auch die Erinne- rung an Marathon-Verhandlungen, das Ausharren bei nächtlichen tzungen, das Gefühl an der historischen Entwicklung Europas teilzuhaben sind Konstitutionsmerkmale des Korpsgeistes. Es herrscht eine freundliche Atmosphäre unter den Journalisten, Konkurrenz und Wettbewerb sind Begriffe, die noch nicht lange auf das Pressecorps zutreffen. „Kollegialität ist das ich- wort.“ (Teichert 2002, 11) Man teilt Informationen, wenn es Ereignisse zum gleichen Zeit- punkt gibt, neue Journalisten werden herzlich aufgenommen und Kontaktadressen geteilt. Internationale Kollegen werden nach Interpretationen und Einschätzungen aus der jeweiligen Landesperspektive befragt. Zudem sichert man sich so ab, um nicht allein auf die nationale In- formationsvermittlung angewiesen zu sein. Auch dass es keinen, wie in europäischen Haupt- städten üblichen Zirkeljournalismus gibt, befördert das entspannte Verhältnis. Europa taugt eben nicht zur parteipolitischen Polarisierung (vgl. abenow 1997, 19)

Nicht nur unter Journalisten gibt es dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, weniger ausgeprägt gilt dies für alle „European-People“. Alle haben das gleiche Ziel: ein gemeinsames, friedliches und starkes Europa.

[...]

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Das Brüsseler Pressecorps und europäische Öffentlichkeit
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Philosophische Fakultät Institut für Kommunikationswissenschaft)
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
31
Katalognummer
V60075
ISBN (eBook)
9783638538343
Dateigröße
441 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Brüsseler, Pressecorps
Arbeit zitieren
Annette Schramm (Autor:in), 2004, Das Brüsseler Pressecorps und europäische Öffentlichkeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/60075

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