Die interaktive Konstruktion von Geschlecht übertragen auf die virtuelle Interaktion


Seminararbeit, 2004

26 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.1. Interaktive Praxis der Darstellung und Attribution
2.2. institutionelle Reflexivität
2.3. Das Regelwerk des Hofierens und das System des höflichen Umgangs

3. Geschlechtsdarstellung in der virtuellen Interaktion

4. Schluss

1. Einleitung

Unsere Gesellschaft ist augenscheinlich in zwei „Arten“ von Menschen getrennt: Frauen und Männer. Der Unterschied der beiden Geschlechter wird rigoros aufrechterhalten und in vielen Situationen bestätigt. Es herrscht die Annahme vor, dass Geschlecht von Natur aus gegeben ist, indem man auf die biologischen Unterschiede verweist. Niemand kann über seine „Mitgliedschaft“ im jeweiligen Geschlecht bestimmen- man gehört entweder der einen oder anderen „Geschlechtsklasse“[1] an. Fakt ist jedoch, dass- da die biologischen Unterschiede nicht sichtbar sind- das Geschlecht auf andere Weise dargestellt wird und unsere sozialen Situationen dominiert. Somit ist interessant zu hinterfragen, warum man von der Dichotomizität der Geschlechter bestimmt ist und auf was die Ungleichheit zurückzuführen ist. Die soziologische Perspektive nimmt an, dass die Wahrheit, die wir als objektiv annehmen, subjektiver Natur ist. Geschlecht als solches, als natürlicher Fakt, gibt es nicht an sich, sondern das System der Zweigeschlechtlichkeit ist sozial konstruiert, d.h. die Menschen sind es, die sich in zwei „Arten“ aufteilen und nicht die Natur. Die Kultur legt fest, was typisch männlich bzw. weiblich ist, so dass Geschlecht als ein von der Menschheit erschafftes Phänomen zu betrachten ist. Somit muss das sozial konstruierte Geschlecht auch durch bestimmte Prozesse aufrechterhalten und gestützt werden (institutionell von der Sozialstruktur, aber auch vor allem in der kleinsten soziologischen Einheit der face- to- face- Interaktion).

Auch Goffman bearbeitet dieses Phänomen ausführlich in seiner Abhandlung „Das Arrangement der Geschlechter“, indem er vor allem auf die interaktionelle Darstellung von Geschlecht eingeht. Er untersucht, wie die geläufigen Vorstellungen der Geschlechter in Interaktionen zum Ausdruck kommen, sich gegenseitig bestätigen und reproduzieren. Im folgenden werde ich versuchen, seine Ergebnisse näher herauszuarbeiten, stütze mich dabei auch auf weitere Soziologen des Faches wie Hirschauer, West/ Fenstermaker und Tyrell. Zuerst werde ich auf die interaktive Darstellung von Geschlecht eingehen, worauf dann der Goffman’sche Begriff der institutionellen Reflexivität zu erläutern sein wird. Am Schluss des theoretischen Teils werde ich mich noch mit dem Regelwerk des Hofierens auseinandersetzen. Darauf wird der empirische Teil folgen, indem ich versuche, die Ergebnisse auf eine andere Ebene der Kommunikation zu übertragen: den Chat im Internet. Es wird zu untersuchen sein, ob das sozial konstruierte Geschlecht auch im Internet die Handlungen der Akteure beherrscht und wie dies zum Ausdruck kommt.

2.1. Interaktive Praxis der Darstellung und Attribution

Hier ist nun als zentrale Frage anzunehmen, wie Geschlecht in Interaktionen visualisiert wird, welche Verhaltensweisen und Merkmale als geschlechtsbedeutend empfunden werden und wie dieser Prozess von Darsteller und Betrachter vollzogen wird.

Goffman ist es, der Geschlecht als ständige „Zurschaustellung“ („gender display“) beobachtet. Er vergleicht die Darstellung von ,gender’ mit der Aufführung in einem Theater:

„Gender as a socially scripted dramatization of the culture’s idealization of feminine and masculine natures, played for an audience that is well schooled in the presentational idiom”[2]

Indem er die Darstellung von ,gender’ als Dramatisierung bezeichnet, wird deutlich, dass der Akteur seine Handlungen so wählt, dass sein Verhalten als seinem Geschlecht angemessen erscheint vor den Augen des Betrachters. Als ,Vorlage’ (hier „Skript“), aus der man entnehmen kann, wie man sich zu verhalten hat, fungieren hier die moralischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die das Ideal der männlichen und weiblichen Natur an sich propagieren. Dieses Ideal gilt es zu erreichen (zumindest sich diesem anzunähern), denn die Betrachter haben dieses Ideal ständig im Hinterkopf und messen die ihnen gebotene Darstellung an dem selbigen.

Die Geschlechtsdarstellung beruht auf einem „knowing how“ der Akteure, d.h. dem praktischen Wissen des geschlechtsspezifischen Verhaltens, welches Ergebnis des Sozialisationsprozesses ist, der von Kindheit an das Individuum in die „richtige Richtung“ seines Geschlechts lenken. Also kann man durchaus sagen, dass einem ein „objektiver“ Körper mitgegeben wird und das Geschlecht im Laufe der Sozialisation diesem „eingeschrieben“ wird. Der Körper wird zu einem der beiden Geschlechter „geformt“, so dass die soziale Wirklichkeit regelrecht „verkörpert“ wird. Hirschauer wendet hier die Begriffe „Sozialität des Körpers“ und „Körperlichkeit des Sozialen[3] “ an. Mit dem ersten wird versucht deutlich zu machen, dass der Körper „sozial bearbeitet“ wird. Kulturelle Verhaltenscodes werden von dem Körper übernommen und dargestellt. Paradoxerweise existiert das Soziale jedoch nur, indem es „körperlich“ gebraucht und präsentiert wird, dementsprechend sichtbar gemacht wird. Folglich stehen diese beiden Phänomene in einem Wechselverhältnis zueinander und reproduzieren sich gegenseitig.

So kommen die stereotypen Verhaltenscodes im Körper durch Haltungen, Gestik & Mimik, Gesichter und Sprechweisen zum Ausdruck. Aber auch an der Gestalt des Menschen, ohne dass irgendwie gehandelt wird, werden bestimmte Merkmale als Geschlechtsmerkmale angesehen (Bartwuchs, Brüste, Haare, Schultern, Hände etc.)

Bei der Darstellung verwendet man auch „materielle Artefakte“[4] wie Kleider, Schmuck und Schminke um seine Präsentation zu stützen bzw. zu unterstreichen. Goffman verwendet hier den Begriff des Dekorums[5], welches vor allem bei Frauen von besonderer Relevanz ist.

Wichtig ist zu erwähnen, dass diese sogenannten „Geschlechtsindizien“ ineinander über gehen können, d.h. man mehrere Merkmale gleichzeitig wahrnehmen kann. In bestimmten Situationen kann auch das eine Merkmal das andere „widerrufen“; so sind bestimmte Merkmale „stärker“ geschlechtsinjizierend als andere[6].

Jedoch gibt es keine feste „Hierarchie“ von Geschlechtsmerkmalen. Die Augenfälligkeit der Merkmale ist von Person zu Person, von Situation zu Situation verschieden bzw. diese mag anders ausfallen. Des weiteren kann alles am Körper einer Person Lokalisierte als Geschlechtsmerkmal betrachtet werden. So kann eigentlich alles, was man kognitiv wahrnehmen kann, sexuiert- also als geschlechtsbedeutend „ernannt“ - werden: die Betrachter haben somit die Möglichkeit und sind regelrecht dazu verpflichtet, sich bestimmte Merkmale „auszusuchen“ und dann die Person zu klassifizieren. So frei die „Auswahl“ auch erscheinen mag, sie steht unter „kognitiven und moralischen Zwängen der Personenwahrnehmung“.[7]

Besonders hervorzuheben ist, dass dieser Prozess der Attribution (sowie der Prozess der Darstellung) derart inkorporiert ist bzw. so zur Routine geworden ist, dass Darsteller und Beobachter sich dessen gar nicht bewusst sind (Attribution ist in Bruchteilen von Sekunden vollzogen(!)). Die soziale Wirklichkeit wird durch Sozialisation einverleibt und dementsprechend „gelebt“. Der als natürlich erscheinende Konstruktionsprozess wird erst dann deutlich, wenn man Schwierigkeiten hat, eine Person dem einen oder anderen Geschlecht zuzuordnen.

Was klar geworden sein sollte, ist, dass sich ein Individuum von Geburt an ein bestimmtes Sortiment an Handlungen und Merkmalen aneignet, welches dem biologischen Geschlecht angemessen ist (in den kulturellen Wertevorstellungen). Diese „Anleitung“ zu handeln ist- wie schon angedeutet- von der Gesellschaft festgelegt worden und institutionell verankert. Traditionen sind hier entscheidend, aber auch eigene Erfahrungen, die das einzelne Individuum macht, sowie die Umwelt[8]. So hat jeder eine Art von sozialen Rahmen im Hinterkopf, den er automatisch zur Orientierung heranzieht um die Geschlechtsdarstellung des Gegenübers zu beurteilen[9]. Er fungiert sozusagen als „Richtlinie“ in der Bewertung von sozialen Interaktionen. Dabei ist anzumerken, dass er alles andere als statisch und unveränderbar ist; er ist dynamisch und historisch spezifiziert. Dieser ständige Wandel verhindert die konkrete Greifbarkeit der Vorstellungen von den geschlechtlichen Idealbildern.

Jede soziale Situation bzw. Interaktion wird von Geschlecht „durchdrungen“, d.h. niemals ist das Geschlecht der Beteiligten einer Interaktion unbedeutend. Die sozialen Interaktionen stellen auch Mittel bereit, die zur Geschlechtsdarstellung benutzt werden können. So ist es meist von Vorteil bzw. notwendig, wenn in einer Interaktion ein Anwesender eine dominante Rolle einnimmt, um die Interaktion- sei es das Gespräch- zu führen und zu steuern. Nicht verwunderlich ist es, dass die dominante Rolle oft von einem männlichen Beteiligten angenommen wird, der beispielsweise das Gespräch eröffnet. So bieten die konstruierten Geschlechtsunterschiede die Möglichkeit zur Organisation bzw. Vereinfachung und Ritualisierungen von face- to- face- Interaktionen[10].

Trotzdem gibt es keine festgelegte Vorgehensweise bzw. Plan, nach dem man zu handeln hat. Das Verhalten hat sich jeder einzelnen Situation spezifisch anzupassen und ist auch von den beteiligten Personen abhängig. So verhält sich ein Mann, wenn er auf eine Frau trifft, anders, als wenn er auf einen „seinesgleichen“ trifft. Aber seine Darstellung wird auch anders ausfallen, wenn er eine Frau trifft, die er ziemlich gut kennt. Das Verhalten muss von dem Betrachter als geschlechtsangemessen wahrgenommen werden.

Der zentrale Punkt ist folgender: das soziale Geschlecht ist in allen Situationen omnirelevant, also immer und überall vorherrschend und kann jederzeit thematisiert werden. Dabei wird die Darstellung im allgemeinen nicht bewusst praktiziert und meistens auch nicht zur Sprache gebracht. Aber selbst wenn die Teilnehmer für einen Augenblick das Geschlecht „vergessen“, können sie sich dessen im nächsten bewusst werden.

Dementsprechend wird Geschlecht mit jeder einzelnen Aktivität, auch wenn es nicht intendiert ist oder war, hervorgebracht und reproduziert. Auch wenn man nichts tut, so tut man was, um seine Geschlechtzugehörigkeit darzustellen. Das mag zwar widersprüchlich klingen, aber ist dahingehend einfach zu erklären, wenn man noch mal darauf aufmerksam macht, dass Geschlecht „inkorporiert“ ist. Die Art und Weise, wie man sich bewegt, wie man läuft und wie man isst, ist entweder feminin oder maskulin. Schon allein diese Bezeichnungen verweisen auf die Tatsache, dass man alles zu „sexuieren“ und unter das System der Zweigeschlechtlichkeit zu subsumieren versucht. Dieser Sexuierungszwang ist schon so zur Routine geworden, dass man dies als natürlich empfindet. Sogar Objekte können dieser Zuschreibungspraktik nicht entrinnen, da diese auch einen Artikel zugewiesen bekommen. So wird alles in einen geschlechtlichen Rahmen eingebaut.

Anschließend zur Darstellungs- und Atrributionspraxis sollte man noch auf den Begriff der Geschlechtszuständigkeit eingehen: die Geschlechtszuständigkeit impliziert, dass mit der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht man bestimmte Rechte erhält, aber auch Pflichten übernehmen muss. Ein fundamentales Recht wäre zum Beispiel das Recht auf einen Anredetitel. Des weiteren hat man das Recht, als Frau oder als Mann „rezipiert“ zu werden und sich dementsprechend zu verhalten (siehe dazu auch den Punkt zum „Regelwerk des Hofierens und das System des höflichen Umgangs“).

Man hat eine Verantwortung dem Interaktionspartner gegenüber, indem man verpflichtet ist, die Kompetenz der Geschlechtsattribution zu beherrschen und dies auch dem Gegenüber deutlich zum Ausdruck zu bringen. Diese Verantwortung bewahrt die Beteiligten der Interaktion vor einem „geschlechtlichen Gesichtsverlust“.

Seitens des Darstellers besteht die Pflicht der Geschlechtszuständigkeit darin, dass man sein eigenes Geschlecht für alle sichtbar macht, so dass eine Attribution ohne Schwierigkeiten unternommen werden kann.

So kann man die interaktive Konstruktion als ein gegenseitiges „Entgegenkommen“ bezeichnen, um einerseits das Gesicht des anderen zu wahren, aber auch sich gegenseitig in der Verschleierung des Konstruktionsprozesses zu helfen. Durch die Selbstverständlichkeit, die sich die beiden Akteure in ihren Handlungen gegenseitig versichern, wird die Künstlichkeit des Prozesses negiert. Die wechselseitige Kommunikation in der face- to- face Interaktion ist der Schlüssel zu der Aufrechterhaltung der Institution „Geschlecht“.

[...]


[1] Goffman: „ Das Arrangement der Geschlechter“; S. 107

[2] Zitat von Goffman, in „Donig Gender”, S. 17

[3] Hirschauer, Stefan: „Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit“, S.673/4

[4] Hirschauer: „Die soziale Fortpflanzung der Zweigeschlechtlichkeit“, S.684

[5] Goffman: „ Das Arrangement der Geschlechter“; S. 120

[6] Ist beispielsweise ein Mann zierlich gebaut, hat aber eine tiefe Stimme und ein markantes Kinn, so ist die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass man diese Person als Frau klassifiziert.

[7] Hirschauer: „Die interaktive Konstruktion von Geschlecht“, S. 108

[8] Dabei spielen die Medien in dieser Hinsicht eine größere Rolle als man denkt. Sie haben erstens den Vorteil an sich, dass sie die „Masse“ erreichen können, so dass Idealvorstellungen von Mann und Frau, die – zum Beispiel- in der Werbung propagiert werden, sich in vielen einzelnen Köpfen einprägen können.

[9] Eine typische normative Erwartung an eine Frau wäre beispielsweise Zurückhaltung in Gesprächen bzw. nicht allzu auffälliges Verhalten sowie der Situation angemessener Kleidungsstil und gepflegtes Äußeres. Parallel dazu sind an den typischen Mann auch bestimmte Vorstellungen geknüpft, natürlich andere als an das weibliche Wesen: Verhalten sich die Darsteller ihrem Geschlecht unangemessen, kann dies durchaus sanktioniert werden.

[10] Jedoch muss diese Behauptung relativiert werden, ist es denn nicht immer gegeben, dass es ein Mann sein muss, der über die Situation herrscht. Des weiteren muss man wieder auf die Entstehungszeit des Goffman- Textes aufmerksam machen- die dort ermittelten Ergebnisse sind nicht eins zu eins zu übertragen, da die Zeit auch einige Veränderung an den Geschlechteridealen getätigt hat.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Die interaktive Konstruktion von Geschlecht übertragen auf die virtuelle Interaktion
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Virtuelle Interaktion
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
26
Katalognummer
V59824
ISBN (eBook)
9783638536585
ISBN (Buch)
9783638726962
Dateigröße
583 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstruktion, Geschlecht, Interaktion, Virtuelle, Interaktion
Arbeit zitieren
Karoline Lazaj (Autor:in), 2004, Die interaktive Konstruktion von Geschlecht übertragen auf die virtuelle Interaktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59824

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